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Siebentes Kapitel.

Die ganze Nacht warf Thora sich im heftigen Delirium, das in dem einen wilden, mörderischen Schrei Ausdruck fand, von einer Seite zur andern. Tante Margret kam und gesellte sich Anna im Krankenzimmer zu. Der Faktor folgte ihr und saß stundenlang mit dem Gouverneur unten in dessen Bureau.

Der Arzt, Doktor Oddson, verließ Thoras Bettseite keinen Moment. Er verbarg den Ernst ihrer Lage nicht. Das Delirium sei den vorzeitigen Wochen zuzuschreiben. Derartige mörderische Manie sei etwas Seltenes, aber nichts Unbekanntes in derartigen Fällen. Sie rühre gewöhnlich von irgend einem Schreck, etwa einem großen Verlust oder großer Aufregung oder einer schmerzlichen Enttäuschung her. Doktor Oddson fragte Anna aus, sie wußte ihm aber nichts zu berichten, worauf Thoras Anfall zurückzuführen sei. Dann fragte er Helga, sie verriet jedoch wenig.

Helga, mit bleichem Gesicht und bebenden Lippen, war augenscheinlich in einem Zustande des Entsetzens. Sie war nicht zu bewegen, das Haus zu verlassen, und als der Faktor in seiner Ohnmacht irgendwelche Hilfe zu leisten, um zehn Uhr das Haus verließ, konnte er sie nicht mit fortbekommen. Es fiel den Drei mit der Kranken Beschäftigten auf, daß Helga nicht in Thoras Zimmer eingelassen zu werden verlangte. »Ein vernünftiges Mädchen,« dachte der Doktor. »Sie wird sich wohl hüten, mich zu fragen,« dachte Anna. Dagegen schien sie es sich angelegen sein zu lassen, bei allen häuslichen Arbeiten, wie untergeordneter Natur sie auch sein mochten, Hand anzulegen.

Wenn es nichts anderes zu tun gab, setzte sich Helga, immer noch in Hut und Mantel, ins Wohnzimmer und lauschte angstvoll den wilden Ausrufen über ihrem Kopfe. Während der langen, finsteren Stunden fiel sie den marterndsten Gedanken anheim. Ihr war zumute, als ob sie einen Mord begangen habe, und immer wieder stieg die Frage in ihr auf, was geschehen würde, wenn Thora stürbe? Den einen Augenblick gewährte der Gedanke an diese Möglichkeit ihr eine momentane Freude, und sie sah sich als Oskars Frau. Doch wurde diese teuflische Vorspiegelung bald durch eine peinliche Erinnerung verbannt, an die Erinnerung der dunklen Stunde, in der sie Oskar das Geheimnis über Thoras Geburt mitgeteilt hatte. Oskar war entsetzt zurückgewichen und ebenso würde er (wie groß seine Liebe zu ihr auch sein mochte) vor ihr zurückschrecken, sobald er sie für ein Instrument zu Thoras Tode hielt.

Qualvoller als die durch jene wilden Schreie über ihrem Haupte hervorgerufene, physische Agonie, qualvoller als die Marter eines geängsteten Gewissens und qualvoller als das sie in dieser dunklen Stunde überkommende und überraschende schwesterliche Mitleid und Erbarmen litt Helga unter der lähmenden Furcht – was Oskar bei seiner Rückkehr zu ihr sagen würde? Man hatte ihm einen Boten nachgesandt, der ihn von allem unterrichten würde.

Oskar kam staub- und schweißbedeckt um Mitternacht an. Irgend jemand öffnete ihm die Haustüre, wer, das kümmerte ihn nicht, er durchflog das Haus und stieß zuerst im Wohnzimmer auf Helga.

Einen Moment standen sie sich wie ein paar Schuldige gegenüber, sie zitternd von Kopf bis zu Fuße, er schwer atmend.

»Wie geht es ihr jetzt?« fragte er.

»Um nichts besser,« antwortete sie.

Die Schreie aus dem oberen Zimmer drangen herunter.

»Ist sie das?«

»Ja.«

»O, Gott!« murmelte er und begann, sich mit Vorwürfen zu überhäufen. »Ich hätte sie mitnehmen sollen, als sie mich darum bat. Weshalb habe ich es nicht getan? Ich hätte mir sagen können, was kommen würde.«

Helga hatte erwartet, daß er scheltend auf sie einfahren würde, die größte Beleidigung hätte sie über sich ergehen lassen; diese Selbstanklage konnte sie nicht ertragen.

»Es ist alles meine Schuld,« sagte er. »Ich bin ein Tor gewesen, ein schwacher, selbstsüchtiger Tor. O, Thora, meine süße, unschuldige, geduldige Thora, vergib mir, vergib mir!«

Helga litt es nicht länger im Hause. Sie kam sich wie eine Verbrecherin vor und wollte entfliehen. Oskar mit in den Händen vergrabenem Gesicht über die Sofakissen gebeugt zurücklassend, schlüpfte sie leise zum Hause hinaus und ging durch die dunklen, schweigsamen Straßen allein nach Hause.

Nachdem Oskar Helgas Verschwinden bemerkt hatte, schlich er sich bis an Thoras Zimmertüre. Der Eintritt wurde ihm, da der leiseste Hauch von Aufregung den letzten Lebensfunken drinnen auslöschen konnte, nicht gestattet. Seine Mutter kam zu ihm in das große Hinterzimmer herein und fand ihn mit über den Tisch gebeugtem Haupte. Es war ihre Absicht gewesen, ihn im ersten Augenblick, wo sie seiner gewahr würde, ernstlich zur Rechenschaft zu ziehen; angesichts seiner Verzweiflung jedoch ließ sie ihre Vorwürfe ungesagt und begann statt ihrer ihn zu trösten.

»Nein, nein,« sagte sie. »Mitnehmen hättest du sie überhaupt nicht können. Wie die Sachen stehen, ist es schon arg genug, male dir aber aus, um wieviel schlimmer es noch gewesen wäre, wenn alles dies dort passiert wäre.«

»Dann hätte ich auch zu Hause bleiben sollen,« sagte Oskar, »ich hätte alles aufgeben sollen.«

»Das würde Thora nicht erlaubt haben, mein Sohn. Keiner von uns konnte dies erwarten.«

»Du weißt aber nicht alles, Mutter. Ich habe schändlich an Thora gehandelt. Ich glaubte, ich hätte ihr gegenüber das Rechte getan, ich habe aber unrecht, furchtbar unrecht an ihr gehandelt. Das arme Mädchen hat entsetzlich gelitten und dies ist die Folge davon.«

Als über den Gletschern der östlichen Berge die ersten Streifen der Morgendämmerung den Himmel zu färben begannen, ließ das Delirium nach, und es trat eine Periode bewußten Schmerzes ein. Anna lief erst zu Oskar hinein, um ihn von der Veränderung in Kenntnis zu setzen, und dann hinunter zu dem Gouverneur, der nur halb ausgezogen in seinem Bureau auf dem Sofa lag.

»Sie ist endlich wieder zu sich gekommen, dem Allmächtigen sei Dank, und der Doktor sagt, es steht so gut wie man es nur erwarten kann.«

Zwei Stunden später, als die Sonne über der kleinen Stadt aufging und der Fjord und die Berge in ihrem Glorienschein erglühten, schwebte der Engel des Friedens, ein Kindchen in seinen Armen tragend, in das Haus des Schmerzes herab.

Lächelnd und mit ausgestreckter Hand trat der Doktor in Oskars Zimmer und sagte:

»Ich freue mich Ihnen Glück wünschen zu können. Ein Mädchen – ein bildschönes Mädchen.«

»Aber Thora?«

»Ist schwach aber schmerzfrei und so wohl wie sie es unter den Umständen nur sein kann.«

»Gott sei gedankt!«

»Und nun machen Sie, Oskar, daß Sie selbst ins Bett kommen, und wenn Sie können, schlafen Sie bis morgen um diese Zeit.«

»Das will ich – das will ich. Dank, Doktor – tausend, tausend Dank!«

Unterdessen tat Anna dem Gouverneur die freudige Nachricht in seinem Bureau kund, und als sie suchend das Haus abrannte, um jemand zu finden, der dem Faktor die Botschaft überbringen möge, rief eine Stimme aus der Küche:

»Ich werde hinüber gehen, Mutter.«

»Du meine Güte! Bist du das, Magnus? Wann bist denn du gekommen?«

»Gestern abend gegen elf Uhr.«

»Dann warst du schon vor Oskar hier?«

»Galden-Mane galoppiert schnell, Mutter.«

»Und was hast du denn in der Küche gemacht?«

»Margret Neilsen das Holz zugetragen und ihr das Wasser gekocht.«

»Dann mußt du sofort zu Bette gehen, du mußt müde sein.«

»Bewahre – ich kann sechs Nächte wach liegen, wenn die Lämmer kommen.«

»Nun Magnus, diese Nacht ist hier ein Lamm gekommen,« sagte Anna.

»Gott segne es und seine kleine Mutter dazu,« sagte Magnus.

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