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Zweites Kapitel.

Der Vater von Oskar Stephenson war, dem isländischen patronymischen Gebrauche gemäß, Stephen Magnusson und seit über zwanzig Jahren General-Gouverneur von Island. Er war ein Mann von unantastbarer Rechtschaffenheit und unerschütterlicher Willenskraft, diensteifrig und unbestechlich in seiner offiziellen Stellung und fleckenlos in seinem Privatleben. Seine Haupteigenschaften waren Würde und Stolz.

Der Vater von Thora Neilsen war Oskar Neilsen, gemeinhin »Faktor Neilsen« genannt, von isländischer Geburt, aber dänischer Abstammung, der hauptsächlichste Handelsherr auf Island und einer der reichsten Bürger der Hauptstadt. Seine Geschäftsmethoden hatten oft Anlaß zu Erörterungen, seine häuslichen Verhältnisse Stoff zum Klatsch geliefert. Er war ein Mann von unermüdlichem Fleiß und großer, fast an Geiz grenzender Sparsamkeit.

Beide Männer waren lebenslängliche Freunde. Ihre Freundschaft beruhte nicht auf etwaigen lockeren Geschäftsverbindungen, wenn auch gemeinsame Interessen sie befestigt haben mochten, und es war eine stehende Redensart, daß der Mann, der dieselbe zu brechen vermöge, ebensowohl die Konstitution brechen könne. Es war eine von den Freundschaften, die nach fünfzig Jahren noch jung sind, und gerade weil sie ununterbrochen an Alter zunehmen, täglich jünger werden – eine Eigentümlichkeit aller treuen, beständigen Freundschaften und der Grund, weshalb alte Freundschaften nie durch neue ersetzt werden können. Ein halbes Wort enthüllt eine Bedeutung, ein halber Blick ruft ein Lächeln hervor. Ihre Freundschaft war die ungeschriebene Geschichte ihrer Vergangenheit, ein lebendiger Nekrolog toter Erinnerungen und Ideen. Sie begann in ihren Knabenjahren und trotz wechselnder Geschicke und verschiedener Familienzwistigkeiten hatte nicht der kleinste Schatten sie je getrübt. Die Leute sagten jedoch, wenn Stephen Magnusson und Oskar Neilsen je aufhören sollten, Freunde zu sein, würden sie die bittersten Feinde werden.

Sie machten als Knaben miteinander das Gymnasium durch und waren zwei von vier isländischen Studenten, die mit Stipendien auf die Universität nach Kopenhagen geschickt wurden. Das war zu jener Zeit, als das Studentenleben noch nicht so geregelt war, wie es hätte sein sollen. Drei von ihnen gingen ohne besonderen Schaden aus ihm hervor, während der vierte einen Fehltritt tat, der vielleicht den ersten Anstoß zu dieser Erzählung gab.

Als die Zeit der Trennung kam, ging einer der vier als Unterbibliothekar nach Oxford und wurde ein Universitätsprofessor, und ein zweiter ging nach London, um in einer Bank zu arbeiten und es bis zum Bankdirektor zu bringen. Die andern beiden blieben ihrem Vaterlande getreu: Stephen Magnusson kehrte, um als Rechtsanwalt zu wirken, nach Island zurück, und Oskar Neilsen blieb, um den Handel zu betreiben, in Dänemark.

Innerhalb von zehn Jahren hatten die Freunde sich schnell emporgearbeitet. Stephen war von einem Rechtsanwalt zu einem Assessor, von einem Assessor zum stellvertretenden Gouverneur und vom stellvertretenden Gouverneur zum General-Gouverneur ernannt worden, während Neilsen sich erst als Faktor für eine Kopenhagener Firma und später auf eigne Rechnung als Kaufmann auf Island niedergelassen hatte.

Beide Männer hatten sich inzwischen verheiratet. Der Gouverneur mit dem einzigen Kinde von Grim, dem Besitzer von Thingvellir, einem der größten Erbpachthöfe Islands. Der Faktor war zu aller Erstaunen schon ehe er nach Island zurückkehrte verheiratet gewesen, und niemand wußte etwas von seiner Frau, außer daß sie eine Dänin und aus Kopenhagen sei. Klatschgeschichten verlaufen sich jedoch selten im Sande, und man flüsterte sich zu, daß des Faktors Frau eine unbedeutende, etwas leichtfertige Schauspielerin gewesen sei.

Die Frau des Gouverneurs hatte ihm zwei Söhne geboren. Den ersten derselben taufte er nach seinem Vater, Magnus, den zweiten aber nach seinem Freund, Oskar, der gerade zur rechten Zeit zum Gevatterstand herübergekommen war. Ebenso hatte die Frau des Faktors ihrem Manne zwei Töchter geschenkt. Die älteste derselben brachte sie bei ihrer Ankunft auf Island auf ihren Armen mit, und der Faktor nannte sie nach seiner Mutter, Thora. Die zweite, die bald darauf geboren wurde, wollte er nach der Frau seines Freundes Anna taufen; seine eigene Frau widersetzte sich dem jedoch, und so wurde sie nach ihr selbst Helga genannt. Es lagen nur wenige Jahre zwischen der Geburt der vier Kinder, Magnus aber war das älteste und Helga das jüngste, während Oskar und Thora fast gleichen Alters waren.

Die Frauen der beiden Freunde hätten kaum verschiedener sein können. Anna, schlicht von Angesicht, in Kleidung und Lebensgewohnheiten, war in praktischer Hinsicht eine echte isländische Hausfrau, fleißig, mäßig und sparsam. Obgleich die Stellung eines General-Gouverneurs hohe Würde in sich schloß, war sie doch bei weitem keine einträgliche, und Anna spannte ihre Segel, je nach dem Lauf von ihres Gatten Schiff. Sie war klug, aber nicht wohlunterrichtet, weise, aber nicht aufgeklärt und regierte den Gouverneur, indem sie ihm gehorchte. Stephen fand in seiner Frau seine zuverlässigste Verwalterin und treuste Ratgeberin. Er hatte tiefen Respekt vor ihrem Instinkt, nicht aber gerade viel Hochachtung für ihren Geist. In allen zweifelhaften Fällen fragte er sie um Rat und saß aufmerksam lauschend da, während sie ihm sagte, welchen Weg er verfolgen müsse; sobald sie aber begann, ihre Gründe für den Verfolg desselben auseinander zu setzen, sprang er auf und entfloh.

Des Faktors Frau war ausgesprochen hübsch, wankelmütig und eitel, und ihr Betragen nach ihrer Ankunft auf Island ganz danach angetan, die Skandalgeschichten, die sich an ihren Namen knüpften, zu rechtfertigen. Sie war auffallend in ihrer Kleidung, verschwenderisch in ihrer Wirtschaft, unstet in ihren Gewohnheiten und romantisch in ihren Neigungen und begann nach einer Weile über die Gleichförmigkeit und Trübseligkeit des sie umgebenden Lebens zu spötteln. Eine leichtfertige Frau macht einen schwerfälligen Gatten, und der Faktor, der damals noch kein reicher Mann war, begann zu realisieren, daß er durch seine Heirat mit der dänischen Schönheit eine Ware erstanden habe, die er weder Umtauschen noch zurücksenden könne – eine Hausfrau, die sein Haus vernachlässigte und eine Mutter, die sich wenig aus seinen Kindern machte.

Die Kinder waren die ersten, die ihrer Mutter Mangel an Interesse für Island herausfühlten, denn während es im Gouvernementsgebäude anläßlich irgend eines heiteren Festes, wie Magnus' erster Ferientag, oder Oskars letzter Geburtstag, stets vergnügt und fröhlich herging, gab es im eignen Hause, das immer still und meistens kalt war, keine Ferien- oder Geburtstage zu feiern. Ein Mutterohr aber ist hellhörig und über die Kluft hinüber, die zwischen den Häusern des Gouverneurs und des Faktors gähnte, hörte Anna die Herzen der kleinen Mädchen und ersann sich Pläne, ihnen beizukommen. Des Faktors Frau war froh genug, sich ihrer langweiligen Pflichten enthoben zu sehen, und ungestört dramatische Zeitschriften und französische Novellen verschlingen zu können, und so kam es denn, daß Thora und Helga die Hälfte ihrer Kinderzeit bei Anna verbrachten und daß ihre Gestalt es war, die, sobald sie während ihres ganzen späteren Lebens zu den blauen Bergen der Kindheit und Jugend zurückdachten, ihnen an Mutterstelle vorschwebte.

Welch köstliche Tage verlebten die vier Kinder, unter Annas Flügeln vereint! Solange sie klein waren, glich das Regierungsgebäude einem Nest voll Singvögel, und wenn es hier und da auch einmal mehr einem Affenhause ähnelte, so herrschte doch stets Leben und Glück in ihm. Des Gouverneurs Bureau ausgeschlossen nahmen die Kinder Besitz vom ganzen Hause, die Küche einbegriffen, denn zu jenen Tagen gab es nur ein Mädchen und das hatte die Kinder ebenso lieb wie seine Herrin selber. Zur Sommerzeit rannten sie wild über das zugehörige Feld und im Winter durchtollten sie alle Räume des Hauses. Anna verzog sie samt und sonders, es war ihr unmöglich, ärgerlich mit Kindern zu sein, und Weihnachten und Neujahr unterstützte sie sie in ihren lärmenden Gebräuchen – kochte ihnen den Toffy, den sie unter heiterem Lachen zu verschlungenen Stäbchen wanden, und zündete ihnen die Kerzen an, mit denen sie in gruseligen Prozessionen vom Schornstein zum Kohlenloch schritten, um versteckte Gebirgsgeister, jene bösen Feen zu suchen, die sich einschlichen, um artige Kinder zu stehlen.

An derartigen Fest- und Feiertagen pflegten der Gouverneur und der Faktor mit ihren langen deutschen Pfeifen aus ihren Bureaus unter die Küchentüre zu treten, um dem Getolle der Kinder zuzuschauen. Und beim Anblick Annas, wie sie gleich einer, im besten Alter stehenden, mütterlichen Feenpatin, ihr schlichtes Antlitz von dem Liebreiz der Liebe verklärt, so mitten unter ihnen stand, pflegte der Gouverneur ein »Gott segne sie!« und der Faktor ein »Gott segne meine mutterlosen Mädchen!« vor sich hin zu murmeln. Und dann senkten beide alten Freunde den Kopf und kehrten zu ihrer Politik zurück.

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