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Viertes Kapitel.

Während des nächsten Monats war Oskar täglich und beinahe den ganzen Tag im Hause des Faktors, mit gänzlicher Hintansetzung seiner öffentlichen Tätigkeit und völliger Vernachlässigung des Geschäfts. Seine Besuche galten aber nicht immer Thora, die sowohl für ihn wie für andere aufgehört hatte »Baby Thora« zu sein, sondern ein ernsthaftes kleines Wesen mit nachdenklichem Gesicht geworden war. Sie tollte nie mehr im Hause umher, sondern saß mit einem Knäuel Wolle im Schoß und einer Häkelnadel in der Hand in einer Ecke, während Oskar und Helga Klavier spielten und über Musik sprachen.

Alles drehte sich in diesen Tagen im Hause des Faktors um Musik. Gleich nach ihrer Ankunft hatte Helga einen Stoß Wagnerscher Kompositionen heruntergebracht, und Oskar war ganz hingerissen davon. Andere Komponisten brachten schöne Harmonien hervor, feine und auserlesene Tonkombinationen, aber wenn Oskar Wagner spielte, dann schien das Instrument unter seinen Fingern zum Leben zu erwachen, zu weinen, zu brennen und zu flammen.

»Es ist herrlich!« sagte er dann. »Ich kann dir nie genug danken, Helga. Du hast mir eine neue Welt, eine neue Offenbarung geschenkt.«

Helga hatte von Oskars Sagaliedern gehört.

»Ich wundere mich, daß du nicht selbst etwas zu komponieren versuchst, Oskar, – etwas in Wagnerschem Stil – du würdest es sicherlich können.«

Mit vielen Entschuldigungen brachte nun Oskar seine schüchternen Versuche zum Vorschein, und Helga lobte sie enthusiastisch. »Du bist ein geborener Musiker, weißt du das wohl?« sagte sie. »Und du darfst nie etwas anderes tun als Musikwerke schaffen – nie!«

Oskar war wie berauscht von ihrem Beifall, aber er lachte nur und sagte:

»O, das ist unmöglich.«

»Warum unmöglich?«

»Parlament – öffentliche Pflichten – und so weiter, und so weiter.«

»Aber, lieber Oskar, du wirst doch dein Leben nicht so vergeuden?«

»Nennst du es Vergeudung, Helga?«

»Nicht für jedermann – z. B. für einen Mann wie Magnus – aber für dich, ja,« sagte Helga, und ahmte dann mit unwiderstehlicher Drolligkeit die Parlamentsmanieren mit den üblichen Redensarten nach: »Herr Vorsitzender, ich bitte ums Wort zur Geschäftsordnung,« oder »will das ehrenwerte und hochgelehrte Mitglied die Güte haben zu erklären,« und was sonst noch an Fadheiten bei einer gesetzgebenden Versammlung in einem kleinen Lande zutage kommt.

Oskar lachte bis ihm Tränen über die Backen liefen (die mehr als einer Quelle entsprangen) und sagte dann – »Was für eine Schauspielerin du sein würdest, Helga! Aber, mein liebes Kind, Grundsätze sind die Seele der Politik, und wenn ein Mann imstande ist, sein Vaterland auf höhere Bahnen zu leiten, dann darf er sich wohl gestatten, die niederen Ebenen zu vergessen – meinst du nicht auch, Thora?«

Aber Thora, der ganz schwindlig und schwach zumute geworden war, antwortete in hilfloser Weise, »ja, Oskar. Aber ich vergaß dir zu sagen, daß Vater dich in Geschäftsangelegenheit sprechen wollte.«

»Geschäftsangelegenheit!« rief Helga. »Auch das noch!«

»Dann hast du gegen Geschäfte auch etwas einzuwenden?« fragte Oskar.

»Für dich – gewiß, denn du bist nicht dafür geeignet,« sagte Helga. »Und wenn du ein Geschäft übernimmst, dann geht es dir gerade wie dem Manne, der die falsche Frau geheiratet hat. Sie kann eine gute, tüchtige, ausgezeichnete Seele sein, die für einen anderen herrlich passen würde, für ihn aber nie bestimmt war.«

»Es ist etwas Wahres daran, obgleich ich mich wundere, woher du dies wissen kannst,« sagte Oskar. »Ich bin nun einmal nicht für den Handel geschaffen und stelle mich so dumm wie möglich dabei an.«

»Natürlich, Oskar, das kann ja auch nicht anders sein. Wenn Magnus ein Geschäftsmann geworden wäre, dann würde er es wohl zu etwas gebracht haben. Aber was in der Welt denkst du dabei zu gewinnen?«

»Hier irrst du dich nun doch, Helga! Ich habe schon etwas dabei gewonnen – hier, Thora!«

»Thora?«

»Wußtest du das nicht? Thora war der Preis, den ich für die Übernahme des Kontraktes verlangte.«

»So ist es also zugegangen?« sagte Helga, und dann raffte Thora, die sich krank und elend fühlte, ihre Arbeit zusammen und schlüpfte aus dem Zimmer.

Der von Helga ausgestreute Same war indessen nicht auf steinigen Boden gefallen. Vierundzwanzig Stunden später erschien Oskar mit einer neuen Komposition in der Hand. »Ich kam vorige Nacht auf eine neue Idee und mußte sie mir von der Seele schreiben,« sagte er, setzte sich ans Klavier und spielte.

»Wunderschön!« rief Helga. »Wirklich wundervoll! Aber dies müßte eigentlich auf der Orgel gespielt werden – könntest du es nicht dafür setzen und es auf der Orgel in der Kathedrale versuchen?«

»Herrlicher Gedanke!« sagte Oskar. »Thora kennt den Pfarrer und kann leicht den Schlüssel bekommen. Was sagst du dazu, Thora?«

»Wenn du es gerne möchtest, gewiß,« sagte Thora, und am nächsten Tage führten sie ihren Plan aus.

Oskar und Helga saßen zusammen auf dem Orgelchor, während Thora gebeten wurde die Stufen hinunter zu steigen und zu sagen, wie es sich in der Entfernung machte. Anfänglich rief Oskar ein oder zweimal, wie es klänge und Thora antwortete: »Sehr hübsch, wie mir scheint,« dann aber vergaßen die beiden im Orgelchor sie gänzlich, so vollständig nahm sie die Musik gefangen.

Während der nächsten zwei oder drei Wochen gingen Oskar und Helga täglich in die Kathedrale, mitunter von Thora begleitet, – aber meistens blieb sie zu Hause. Eine plötzliche Energie schien über Oskar gekommen zu sein, und er brachte eine Komposition nach der anderen hervor. Helga war mit allen einverstanden, und ihre Lobpreisungen berauschten ihn wie junger Ruhm.

»Ich kann dir nie dankbar genug sein, Helga,« sagte er, »für all das Gute, womit du mich seit deiner Rückkehr nach Island überschüttet hast. Du hast meinem Leben eine neue Freude, einen neuen Glanz gegeben!«

»Unsinn!« sagte Helga. »Ich bin nichts als eine Stimme, die dein Genie erweckt. Du wurdest geboren, um Musik zu schaffen, und möge es auch kommen wie es wolle, du darfst nie ein Leben fortwerfen, dem eine so ruhmvolle Zukunft bevorsteht.«

Auf solche und ähnliche Reden antwortete er stets »o nein!« oder »unmöglich!« oder »daran ist ja nicht zu denken!«, aber Helgas Worte waren wie Lebensatem für seine Seele, der Weihrauch jener Träume, die er seit dem Tage zu vergessen bemüht war, an dem er sich mit Thora verlobt hatte.

»Warum konnte es nicht einen zweiten Wagner geben, einen isländischen Wagner, einen Wagner, dem noch ein großartigerer Schauplatz zur Verfügung stand und noch größere Vorwürfe – die Sagas und Eddas dieses finsteren alten Landes?«

Als Helga einen Monat zu Hause war, schlug sie Oskar vor, eine Hymne über eine Stelle zu schreiben, die sie aus einer der Sagas ausgewählt hatte. Es war die Stelle, wo die alten Heidengötter, im Zorn über das Menschengeschlecht, das die Einführung des Christentums gestattet hatte, das Innere ihrer fruchtbaren Täler durch Erdbeben aufrissen und sie mit glühender Lava überschwemmten, und wie dann Christus durch das Chaos schritt und sprach: »Friede sei mit euch!«

»Großartig! Herrlich! Ein famoser Vorwurf! Du kannst es und du mußt es,« sagte Helga, und von diesem Augenblick an brannte Oskar in heißer Fieberglut, bis er seine Aufgabe gelöst hatte. Sie sahen ihn tagelang nur in den flüchtigen Momenten, wenn er herübergestürzt kam, um eine Stelle der Partitur mit Helga durchzugehen, und dann lief er, ohne ein Wort zu sagen, wieder an seine Arbeit zurück. Als die Hymne soweit niedergeschrieben war, daß er sie auf der Orgel probieren konnte, sagte er: – »Kommst du heut mit nach der Kathedrale hinüber, Thora? Nein? Es ist auch vielleicht besser so. Wir müssen die Geschichte fortwährend wiederholen – das könnte langweilig werden.«

Es war ein trüber Wochentag zu Anfang des Winters, und etwas von dem Lärm der arbeitenden Welt folgte Oskar in die Kathedrale. Im Fjord wurde ein Schiff ausgeladen – er hörte das Rumpeln der eisernen Draisinen, die den gepflasterten Hafendamm hinauf rollten bis zum Hause des Faktors. Ein neues Haus wurde an der Ecke des Kathedralen-Platzes errichtet – er hörte das leichte Klirren der Maurerkelle. Ein Dampfer lag auf dem Stapel in der Schiffswerft unten am Hafen – er hörte den scharfen Schlag des Niethammers.

Aber in der Kathedrale herrschte eine andere Atmosphäre, in der Oskar sich wie von einer Flut dahin tragen ließ – das stille Heiligtum, die Reihen leerer Kirchstühle bis zum Altarraum hinauf, die leere Kanzel mit dem Schalldach, der leere Altar mit dem orientalischen Gemälde darüber, der marmorne Taufstein für die zukünftigen Generationen, die marmornen Gedenksteine zur Erinnerung an die vergangenen; und dann die lauschende Luft, die ein geflüstertes Wort, ein leiser Schritt aufweckte, die erfüllt war vom Hauch erstorbenen Gebets und entschwundener Lobpreisung.

In dieser Atmosphäre von Kunst und Religion nahm Oskar neben Helga an der Orgel Platz und versuchte, seine Hymne zum ersten Male zu spielen. Die Orgel erzitterte unter seinen Fingern, die leere Kathedrale bebte wie eine Meereshöhle unter dem Dröhnen seiner Tonwellen und als er mit dem ersten Durchspielen zu Ende war, zitterte er vor Erregung und Helga glühte fieberhaft.

»Was habe ich dir gesagt?« rief sie aus. »Hatte ich nicht recht? O dies müßte man in Dänemark hören!«

»Oder in England!« sagte Oskar.

Sie spielten das Stück wieder und immer wieder, und jede Wiederholung steigerte ihre Aufregung, bis sie förmlich hysterisch wurde und ihre Stimmen in dem lautlosen Raum so schrill klangen wie der Wind auf dem Bergesgipfel. Schließlich versuchten sie auch die Worte zu singen, und nun kannte ihre Gemütsbewegung keine Grenzen mehr.

Die Orgel zitterte und bebte von neuem, und über alle anderen Töne fort erscholl Helgas kräftige Stimme, wie ein menschlicher Aufschrei die donnernden Wogen der Natur übertönt; bald weinend, bald tobend, bald niederduckend und dann wieder aus der Brandung emporschäumend, bis sie schließlich zu dem sanften Geflüster niedersank: »Friede sei mit euch.«

Als die Hymne zu Ende und Stille eingetreten war, saß Oskar einige Augenblicke ganz unbeweglich, und ein unhörbares Echo der Musik schien die stille Luft zu durchziehen. Dann aber kam das blitzartige Aufleuchten der Freude oder des Wahnsinns über ihn, das jeden genialen Menschen einmal im Leben überkommt, und sein Herz schrie in diesem Glückstaumel auf, »auch ich, auch ich bin ein großer Komponist!«

In der Trunkenheit dieses Augenblicks hatte Oskar unwillkürlich nach Helgas Hand gegriffen und hielt sie fest; ihre Finger bebten ineinander und jeder glaubte das Herz des anderen schlagen zu hören. Sie sahen sich an; seine Augen waren blutunterlaufen, in den ihrigen schimmerte es feucht.

»Helga!« rief er aus.

»Oskar!« antwortete sie, aber im selben Augenblick stieß der Windzug ein Fenster im Treppenhaus des Orgelchors auf, und Oskar hörte von neuem das Geräusch der Alltagswelt hereinklingen – das Rumpeln der eisernen Draisinen, das leise Klirren der Maurerkellen, und das rasche Klopfen des Niethammers. Es war wie das Erwachen eines Gefangenen in seiner Zelle, wenn der Kerkermeister an die Tür klopft, der Traum vom Ruhm entschwunden ist und die Gefängnismauern sich wieder schließen.

Oskars Finger sanken herab; im nächsten Augenblick hörte er Helgas raschen Atem hinter sich, und ihre Stimme sagte mit seltsamer Bitterkeit:

»Ist das Thora?«

Er fuhr empor und sah sich um. »Wo?« fragte er.

»Dort unten an den Altarstufen. Nein, ich habe mich geirrt. Es ist nur ein Schatten. Es dunkelt schon.«

Dann setzte sie mit derselben Bitterkeit hinzu: »Aber ich werde sie ja bald dort stehen sehen, und dich mit ihr.«

Oskar schauderte, als ob eine Schlagader in ihm aufgerissen würde, und Helga fuhr fort: »Dann wirst du ins Geschäft zurückkehren und Oskar – Oskar Stephenson, der Musiker – wird tot sein.«

Er fuhr tastend über die Register der Orgel hin und gab keine Antwort, worauf Helga ihm mit unverhohlener Ironie den langweiligen Kreislauf des Geschäftslebens ausmalte, das ihn nach seiner Heirat erwartete – die Rabattberechnungen, die Zänkereien mit den Pächtern, das Kaufen und Verkaufen von Küchengerät.

»Es ist ein wirklicher Jammer,« sagte sie.

»Quäle mich nicht, Helga,« rief er.

»Aber gibt es denn keinen Ausweg?«

»Nein, nein, nein!«

»Gar keinen Weg, Oskar?«

»Wir wollen gehen,« sagte er, und er war schon unten an der Tür angelangt, als ihm erst einfiel, daß er seinen Hut auf dem Orgelchor gelassen hatte.

Thora hatte Tee bereitet, als sie zurückkamen. Sie kniete vor einem behaglichen Kaminfeuer und röstete Brotschnittchen und blickte die Eintretenden mit nervös fragendem, trübseligem Lächeln an.

»Arme, kleine Seele! Sie darf es nie erfahren – nie, nie!« dachte Oskar.

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