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Drittes Kapitel.

Die Bornholmer Uhr schlug vier. Anna erwachte und da sie keinen Laut in Thoras Zimmer hörte, ging sie ins Kinderzimmer zurück und beschäftigte sich geräuschlos am Ofen. Gleich darauf raschelte der durch das geöffnete Fenster hereinkommende Wind mit den Spitzenvorhängen des Schlafzimmers, worauf Anna durch die Türe rief:

»Liege still, Thora, ich mache den Tee,« und dann sang sie, wie zu ihrer Jugendzeit, leise vor sich hin.

Einige Minuten später sagte sie: »Der Schlaf muß mich ganz dumm gemacht haben, da habe ich doch wohl wirklich das Wasser vor dem Tee in den Topf gegossen.«

Bald darauf kam sie mit dem Teebrett in beiden Händen, einem Lächeln auf dem Gesicht und den Worten: »Hier ist er, du wirst aber deinem Schöpfer danken, wenn Maria morgen früh zurück ist« ins Zimmer gesegelt.

Sie stellte das Teebrett auf den runden Tisch zur Seite des Bettes, auf dem die Handglocke hätte stehen sollen, und dabei fielen ihre Augen auf das leere Bett. Der Atem schien ihr zu versagen, und den Kopf langsam über die Schultern wendend, rief sie »Thora!«

Keine Antwort erfolgte; das Zimmer war leer. Dann erinnerte sich Anna der Kleidungsstücke, die sie im Kinderzimmer über die Stühle gehängt hatte. Sie waren fort. »Thora! Thora!« rief sie im erregten Flüsterton.

Dann kehrte das Lächeln auf ihre Züge zurück. »Ich weiß,« dachte sie, »Thora hat sich, um mir zu zeigen, was sie schon fertig bringt, angezogen und ist ins Wohnzimmer hinuntergegangen.«

Das Lächeln wurde durch ein strenges Stirnrunzeln verjagt. »Ich werde es ihr aber ordentlich geben,« dachte sie bei sich und ging mit entschiedenem Schritt nach dem Wohnzimmer hinunter und rief, die Stubentüre heftig hinter sich zuschlagend: »Wirklich, Thora, es ist aber sehr ungezogen –«

Der Einspruch erstarb ihr auf den Lippen – Thora war nicht da. Dann erbebte ihr das Herz in der Brust, es wurde wie ein vom Rauhreif befallenes Blatt. Sie durchrannte das Haus von Zimmer zu Zimmer und rief mit vor Angst schriller und vor Schluchzen erstickender Stimme: »Thora, wo bist du? Thora! Herzblatt! Verstecke dich nicht vor mir, Thora, Thora!«

Im selben Augenblick kam Galden Mane über die Wiese dahergesprengt, und Magnus betrat das Haus. Seiner Mutter Stimme hörend, lief er nach oben und traf auf dem Korridor mit Anna zusammen.

»Was ist geschehen?« fragte er.

»Thora ist fort,« sagte Anna.

»Fort?«

»Sie schmeichelte es mir ab, daß ich mich diesen Nachmittag etwas niederlegen sollte, und während ich schlief, ist sie aufgestanden, hat sich angekleidet und ist fortgelaufen.«

»Wir wollen uns erst vergewissern,« sagte Magnus und damit schoß der schwerfällige Bursche wie ein Torpedo durch das Haus, während Anna in ihrer eignen Stube händeringend und sich anklagend auf einen Stuhl bei der Türe niedergesunken war.

»O Gott! O Gott! Was habe ich getan? Wie kann ich es mir je vergeben? Das arme Kind war nicht bei sich, sie wußte nicht, was sie tat.«

Magnus kehrte langsamen Schrittes zurück und sagte: »Sei ruhig, Mutter, siehst du denn nicht, wie es ist? Thora ist zu dem Kinde gegangen.«

»Dem Kinde? Zu Faktors? Gebe Gott, daß du recht hast, Magnus. Sie hat aber seit zwei Tagen des Kindes gar nicht Erwähnung getan.«

»Trotz alledem,« sagte Magnus, »hat dieser verfluchte Anschlag, sie von ihrem Kinde zu trennen, ihr armes Herz in Stücke gerissen, und sie ist zu ihm gegangen.«

»Laß uns hinübergehen und nachsehen,« sagte Anna. »Aber, o Himmel, wie konnte sie nur! So krank und schwach wie sie ist! Es wird ihr Tod sein! O, weshalb habe ich sie auch einen Augenblick nur allein gelassen? Was wird Oskar sagen?«

»Wenn Oskar klug ist, wird er überhaupt nichts sagen,« sagte Magnus. »Und wenn etwas passieren sollte und er überhaupt ein Gewissen hat, wird er sich bis zum letzten Tage seines Lebens Vorwürfe machen.«

»Sag das nicht, Magnus,« erwiderte Anna. »Wenn irgend ein Versehen gemacht worden ist, trifft uns alle der Vorwurf. Es war nicht Oskars Schuld –«

»Gewiß war es Oskars Schuld,« sagte Magnus. »Es war Oskars Schuld, daß er sich von Helga um den Finger wickeln und euch alle ihre elenden Sklaven werden ließ.«

»Wo ist mein Schal? Ich habe ihn irgendwo hingelegt, und kann ihn nun nicht finden. Aber laß uns gehen. Und, Magnus, sei nicht zu hart gegen deine Mutter – sie meinte das Beste –«

»Dich tadle ich nicht, Mutter,« sagte er, »wenn aber,« fügte er durch seine zusammengebissenen Zähne hinzu, »in diesem Höllenlande überhaupt ein Gesetz existierte Männer wie Oskar zu bestrafen, so wahr ich lebe, ich würde der erste sein es in Anwendung zu bringen.«

Sie waren gerade im Begriff zum Hause hinauszugehen, als drei Männer an die Türe herantraten – der Kreisrichter und zwei Fremde.

»Guten Abend, Frau Anna,« sagte der Kreisrichter. »Diese Herren hier sind Beamte aus Kopenhagen und gerade mit der Laura angelangt. Sie möchten den Gouverneur in einer wichtigen Angelegenheit sprechen, und ich dachte, Sie könnten ihnen vielleicht sagen, wann er von Thingvellir zurück erwartet wird.«

»Ich kann es nicht sagen, ich weiß es nicht, ich bin in großer Eile,« sagte Anna.

»Dieser junge Mensch,« sagte der Kreisrichter, sich an die Fremden wendend, »ist der ältere Sohn des Gouverneurs, und wenn Sie gern mit ihm sprechen möchten –«

»Ja, das möchten wir,« antworteten die Herren.

»Ist es etwas so Wichtiges? Mein Sohn ist gerade im Begriff mit mir auszugehen. Hat die Sache nicht bis morgen Zeit?« fragte Anna.

»Geh immer voran, Mutter. Ich werde dir gleich nachkommen,« sagte Magnus, und während Anna forteilte, führte er die Fremden in das Bureau des Gouverneurs. Einer der beiden holte aus seiner inneren Brusttasche ein Papier heraus und sagte:

»Sie kennen natürlich Ihres Vaters Handschrift?«

»Ja, gewiß,« sagte Magnus.

»Und ebenso ist Ihnen seine Unterschrift bekannt. Wollen Sie so gut sein, uns zu sagen, ob dies Ihres Vaters Unterschrift ist?« sagte der Herr, sein Papier entfaltend und es Magnus hinreichend.

Es war ein Wechsel über hunderttausend Kronen, zahlbar an Oskar Stephenson, im Namen des Gouverneurs ausgestellt und im Namen des Faktors anerkannt.

Die Welt schien sich im Kreise um Magnus zu drehen, er sah natürlich sofort, was das Papier bedeutete. Es war fast, als ob sein Gebet Oskar in seine Gewalt zu bekommen, augenblickliche Erfüllung gefunden hätte. Das Papier zitterte in seiner Hand und einige Sekunden lang versagte ihm die Sprache. Dann erhob er sein Gesicht und sagte:

»Sie fragen mich, ob dies meines Vaters Unterschrift ist? Glauben Sie nicht, daß es geeigneter wäre, meinen Vater selbst danach zu fragen?«

»Ohne Zweifel – gewiß – Sie haben recht,« sagte der Fremde, »jedoch um Ihren Vater – um nicht zu sagen, Sie selbst zu schützen – wäre es vielleicht –«

»Vielleicht,« sagte Magnus und händigte ihm das Papier wieder ein.

»Magnus,« sagte der Kreisrichter, »es wurde mir aufgetragen dich heute zu überwachen, wenn du in die Stadt hereinkommen solltest, es scheint mir jedoch, daß jemand anders aus deiner Familie der Überwachung viel mehr bedarf. Willst du uns nicht Hilfe leisten?«

Magnus schauderte, von schwerer Versuchung umgarnt. Eine Stimme in ihm rief: »Sprich! Entlarve ihn! Jetzt ist deine Zeit da! Seine Unterlippe zuckte, seine Augenlider zitterten, und heiserer Stimme antwortete er:

»Der Gouverneur wird nicht vor Mitternacht zurück sein. Ich werde morgen früh zu Ihnen kommen.«

»Gut!« sagte der Kreisrichter, worauf Magnus sie zum Hause hinaus begleitete und dann nach dem Hause des Faktors stürzte.

»Der große Bursche da wird reden, wenn er will,« sagte einer der Fremden, indem die drei Männer die Straße hinabgingen, »wenn er aber nicht will, wird nicht einmal der Teufel ihn dazu bewegen können.«

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