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Sechstes Kapitel.

Thora hatte den natürlichsten und deshalb auch unerwartetsten Weg eingeschlagen. Von dem einen Gedanken nur erfüllt, mit dem Kinde nach dem Gouvernementshaus und in ihr Bett zurückzukehren, war sie auf die einfachste Weise vorgegangen. Um dem Kreisrichter zu entgehen, hatte sie ihres Vaters Haus durch den hinteren Eingang verlassen, und um sich der Beobachtung der Leute in der besuchteren Verkehrsstraße zu entziehen, von den beiden zu ihrem Hause führenden Wegen den längeren und einsameren gewählt.

Diese Straße hatte sie am See vorübergeführt, sie hegte jedoch keinen Wunsch sich das Leben zu nehmen. Oft vorher hatte sie sich von Herzensgrund den Tod ersehnt; die Liebe für ihr Kind aber besiegte jetzt alle derartigen Gedanken. Der Weg war lang, sie empfand ihre Müdigkeit indes nicht; die Straße rauh, sie merkte jedoch nicht, wie die Steine ihre Füße zerschnitten; sie ging sehr schnell, bemerkte aber nicht, wie ihr der Atem fehlte. Nur eine Furcht hielt sie gefangen, die Furcht, des Kindes beraubt zu werden.

Mit fieberhaften Händen die Kleine umklammernd, eilte sie, bald lachend, bald weinend, erfüllt von einer wilden Freude, die keine Reue, keine Gewissensbisse, kein Vor- noch Rückwärts kannte, dahin. Es war Mutterschaft – Mutterschaft, die göttlichste, teuflischste, zärtlichste, schrecklichste, süßeste, wildeste aller Leidenschaften, die das Herz je bewegen.

Als sie endlich das Haus erreichte, fand sie es verlassen, aber jedes Zimmer weit offen, als ob viele eilig darin hin und her gelaufen wären. Mit ihrer kostbaren Bürde nach oben schleichend, gelangte sie ungefährdet in ihr Zimmer zurück und schloß sofort die Türe hinter sich ab. Sie lachte dabei in dem Gedanken, wie Anna und Tante Margret sie verfolgen und sich überlistet finden würden.

Dann entkleidete sie sich und ging ins Bett zurück und gab während einer langen, himmlischen Stunde sich dem Entzücken des Besitzes ihres Kindes hin – es zu halten, zu warten, zu liebkosen, zu küssen, es mit allen Sinnen zu verschlingen. Das kleine Wesen hatte während seiner Reise durch die Stadt geschlafen, nun erwachte es jedoch und lag ruhig an seiner Mutter Seite, während sie mit ihren hungrigen Händen über seinen kleinen Körper fuhr und seine geballten Fäuste und seine Füße einen nach dem andern in ihren Mund steckte.

Nach einer Weile wurde das Kind müde und fing an zu weinen, worauf es Thora zum ersten Male einfiel, daß sie seine Flasche zurückgelassen hatte. Sie versuchte, es einzulullen, es wollte sich jedoch nicht beschwichtigen lassen, und dann überkam sie ein plötzlicher Gedanke – ein blinder Impuls der Mutterschaft, sie legte die Kleine an ihre Brust. Das Kind hing sich an dieselbe und hörte zu weinen auf, und die Milch, die bisher immer versagt hatte, begann sofort zu fließen.

Es war der Krönungspunkt jener glückseligen Stunde, ein physisches Entzücken, wie Thora es nie vorher empfunden hatte.

Darauf beschlich sie ein milderer Geist und sie blickte liebevoll auf das Kind an ihrer Brust herab und sagte, es wieder und wieder küssend: »Gott segne mein Kind«.

Dann begann sie in so zarten, silbernen Tönen, daß man sie für eine Stimme vom Himmel hätte halten können, ihr Kind in den Schlaf zu singen.

»Schlaf Kindlein, schlaf,
Englein hell die halten Wacht
Über dich die ganze Nacht,
Schlaf, Kindlein, schlaf.«

Das Kind schlief und während der ganzen Zeit des Singens fühlte Thora abwechselnd heiße und kalte Wellen über sich hinwegfluten. Unbestimmt, unterbrochen, phantasierend kam ihr und verließ sie das Bewußtsein, und es schien ein Kommen und Gehen von Leuten im Zimmer. Erst war es Helga, dann Oskar und schließlich Magnus. Helga nahm das Kind aus dem Bett und Oskar war ihr dabei behilflich, und sie versuchte aufzuschreien, konnte es aber nicht, und dann erschien Magnus auf der Türschwelle.

Einen Moment glaubte sie, sie sei tot und die Leute sprächen rund um sie herum. Es waren lauter Fremde – meistens Frauen, wie sie sie in den Schuppen der Heilsarmee hatte hineingehen sehen.

»Sie ist heimgegangen, armes Mädchen,« sagte jemand, und jemand anders sagte: »Um so besser für das arme Geschöpf, ihre Qualen haben nun ein Ende.« »Man sagt, sie habe versucht, sich das Leben zu nehmen,« sagte die eine. »Kein Wunder,« sagte die andere, »es schien kein Platz in dieser Welt für sie zu sein.« »Kein Mensch kann sagen, daß sie ihren Mann nicht geliebt hätte,« sagte eine Stimme am Ende des Bettes. »Es war ein Jammer,« sagte eine Stimme an ihrem Kopfende, »daß er ihre Schwester liebte.« »Das vielleicht hat ihr den Gedanken eingegeben, sich das Leben zu nehmen, um ihn frei zu geben und glücklich zu machen?« »Wie dem auch sei, an Magnus hat sie sich versündigt, aber wer sie getötet hat, wissen wir alle.« Und dann riefen sie alle im Chor: »Er findet seinen Lohn, er findet seinen Lohn,« und es schmerzte sie um Oskar.

Im nächsten Augenblick glaubte sie eine Heilige im Garten des Paradieses zu sein, mit Lilien und Rosen um den Kopf gewunden, aber mit einem Dorn trotz alledem im Herzen, und selbst umgeben von den Freuden des Himmels fühlte sie einen dumpfen, unstillbaren Schmerz, denn der Gedanke an ihr Kind wollte sie nicht verlassen. Deshalb bat sie den lieben Gott, Er möge sie auf Erden herabsteigen und sich nach ihrer kleinen Elin umsehen lassen, und Er bewilligte es ihr, und sie stieg hinab. Oskar und Helga lebten nun in einem Lande voll lieblicher, lächelnder Gärten und einem Hause voll vergoldeter Möbel zusammen. Ihre Elin aber sah sie nirgends, bis sie sie schließlich vernachlässigt und allein in einem oberen Zimmer fand. Darauf flossen ihr heiße Tränen vom Gesicht, und sie setzte sich zu ihrem Kinde und tröstete es, und Elin fürchtete sich gar nicht. »Bleib noch ein wenig länger bei mir, Mütterlein,« sagte das Kind, und sie blieb bei ihm und sang ihm vor, und niemand als Elin hörte sie.

»Schlaf Kindlein, schlaf,
Englein hell die halten Wacht
Über dich die ganze Nacht,
Schlaf, Kindlein, schlaf.«

Als sie darauf wieder zu sich kam, war es dunkel im Zimmer, sie sang aber immer noch. Das Kind fing zu schreien an, und sie hätte es so gern beschwichtigt, fand aber, daß die Stimme ihr versagte. Sein kleiner Körper fühlte sich kalt gegen ihre Brust an, und sie wollte ihn in die wollene Decke hüllen, ihre Arme waren ihr jedoch zu schwer, sie konnte sie nicht aufheben. Es trat ein Moment schmerzlichsten Bewußtseins ein, doch der gütige Vater verschloß die Sinne Seines leidenden Kindes wieder. Es war ihr, als ob eine majestätische, ganz in Weiß gekleidete Gestalt das Zimmer beträte und mit den Worten: »Lasset die Kindlein zu mir kommen,« das Kind von ihrer Brust emporhob. Sie wußte sehr wohl, wer dies war, als sie dann aber zum zweiten Male hinsah, trug die Gestalt Magnus' Züge.

Dann schien es ihr, als ob sie selbst es sei und nicht das Kind, das emporgehoben wurde; doch fühlte sie nicht die geringste Furcht, auch keinen Schmerz oder irgend welches Herzweh. Sie war nur glücklich.

In dem Augenblick kamen die Frauen, die ihr Bett umstanden hatten, wieder zurück und begannen zu singen:

»Sicher in den Armen Jesu« – gerade so wie sie sie damals hatte singen hören, als sie ihnen an der Türe des Schuppens gelauscht hatte.

Sie lächelte und stieß einen tiefen Seufzer aus; einen süßen, langen Atemzug der Freude und der Verzückung; und dann lüftete sich das Dunkel – und dann – war es Tag.

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