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Viertes Kapitel.

Von den beiden zum Faktor führenden Wegen hatte Thora, ohne auf der Straße erkannt zu werden, den kürzeren und besuchteren eingeschlagen. Nahe beim Hause war sie an dem Kreisrichter und den beiden Fremden vorübergegangen, die jedoch zu sehr ins Gespräch vertieft waren, um sie zu bemerken, als sie mit Annas Schal über dem Kopf an ihnen vorbeistolperte.

Zweimal hatte sie, um Atem zu schöpfen, stehen bleiben müssen, und einmal hatte sie sich, von Schwindel ergriffen und weil die Glieder sie zu sehr schmerzten, an einen Laternenpfahl angeklammert. Die geringe Entfernung, die ihr bisher so kurz erschienen war, kam ihr nun wie eine große Reise vor, schließlich brachte sie sie aber doch zu Ende und näherte sich ihres Vaters Haus von der Frontseite.

Ihre Absicht war gewesen, sich leise an dasselbe heranzuschleichen, es heimlich zu betreten, zu horchen, bis sie hören würde, wo das Kind sich befände, Tante Margret zu beobachten, und sich den ersten Moment, wo sie die Kleine allein lassen würde, ins Zimmer zu stehlen und sie davon zu tragen.

In dieser Absicht stieg sie die zum Fronteingang führenden Steinstufen hinan und versuchte den Drücker leise zu öffnen, sobald sie jedoch der Türe nur einen geräuschlosen Schub gegeben hatte, ertönte das laute Klingeln einer Glocke, die früher nicht dort gewesen war.

Im nächsten Augenblick hörte sie pantoffelbekleidete Füße eiligst die Treppe herabschlürfen, und ehe ihre wirren Sinne ihr zu handeln eingaben, blickte Tante Margret ihr ins Gesicht.

»Barmherziger Himmel, bist du es?« rief dieselbe und schien vor Überraschung in die Erde sinken zu wollen.

In dem überwältigenden Gefühl des Fehlschlages ihres Planes stand Thora klopfenden Herzens stumm da.

»Guter Gott, wie bist du nur allein hierher gekommen? Und was um alles in der Welt denkt Anna sich dich fort zu lassen?« fragte Tante Margret.

Thora antwortete mit einem konvulsivischen kleinen Schluchzen: »Anna wußte nichts davon, Tante Margret – sie schlief – ich kam, um die Kleine zu sehen.« Und darauf lehnte sie sich, gänzlich zusammenbrechend, gegen die Tür und weinte wie ein Kind.

Die gute Seele mit der scharfen Zunge konnte es nicht mit ansehen. »Und das sollst du, mein Schatz,« sagte sie zärtlich. »Gewiß das sollst du, mein kleines Püppchen,« sagte sie unsäglich mitleidvoll. »So gewiß, wie mein Name Margret Neilsen ist, das sollst du,« wiederholte sie fest entschlossen. »Sie haben mich als Hofhund und mit dem Befehle, niemand dem Kinde nahe kommen zu lassen, hier zurückgelassen, das geht aber auf jemand anders – auf jemand, der es stehlen wollte, wie sie sagten – wenn es auch nicht in meinen dummen, alten Kopf hinein will, was ein ausgewachsener Mann mit einem Säugling tun sollte. Wie dumm aber von mir, dich an der Türe stehen zu lassen! Komm nach oben, mein Herz. Geh mir voran, Thora, Herzblatt – das ist recht – aber nicht so schnell – du sollst dein Kind bald genug sehen. Und Thora, Liebling, wenn ich auch keinen wirklichen Versuch gemacht habe es dir zurückzubringen, so lag es nicht daran, daß ich dich nicht liebte und nicht mit dir fühlte und litt, mein armes Kind, sondern weil dein Vater und Helga und sogar Oskar – Nein, die andere Seite, Thora, die Kleine ist im vorderen Schlafzimmer.«

»Ist sie wohl?« fragte Thora außer Atem, als sie das Ende der Treppe erreicht hatten.

»Sie ist so wohl wie sie nur sein kann und ebenso rosig und hübsch,« sagte Tante Margret an Thora vorüber stürmend und die Schlafstubentür öffnend.

Nachdem Thora jedoch so viel zu schnell die Treppe erstiegen hatte, blieb sie an der Schwelle des Zimmers stehen und griff heftig mit der linken Hand nach ihrer Seite.

»Warte, ich kann noch nicht weiter,« sagte sie. »Nicht diese Minute, Tante Margret. Schläft sie?«

»Ja, gottlob, sie schläft ganz fest!«

»Ist das ihr Atemzug?«

»Nein, das ist die Katze. Ja doch, es ist das Kind. Aber komm, mein Schatz, komm,« sagte Tante Margret; und dann betrat die junge Mutter verhaltenen Atems das Zimmer.

Das Kind lag, von einem mit hellblauen Spitzen besetzten Mantel bedeckt, schlafend in der Wiege, und sein kleiner, mit gelbem Haar spärlich bewachsener rosiger Kopf stach gegen das weiße Kopfkissen ab. Eine Katze schnurrte auf der von einem Strahl der niedergehenden Sonne warm beschienenen Diele, und alles war harmonisch und friedlich.

»Mein Kind! Mein Kind!« rief Thora und breitete, neben der Wiege auf ihre Kniee niedersinkend, wie ein sein Nest mit den Flügeln bedeckender Vogel ihre Arme über dieselbe aus.

Das Kind wurde durch die, sein Gesicht mit sanftem Hauch streifenden Atemzüge seiner Mutter erweckt und begann zu schreien, worauf Thora es in ihre Arme schloß, aus seiner kleinen Wiege heraushob, liebevoll hätschelte und seine zupackende, kleine Hand in ihrer eignen so mageren, weißen und zarten festhielt.

»Es verlangt nach seiner Flasche, Thora,« sagte Tante Margret, »und hier ist sie fertig und seiner harrend – ich halte sie oben auf dem Ofen warm.«

»Laß mich sie ihm geben, laß mich sie ihm geben,« rief Thora.

»Glaubst du, daß du es kannst, mein Schatz? Aber natürlich kannst du es! Meine Güte, 's ist erstaunlich, wenn ein Mädchen aber erst einmal Mutter ist, kann sie alles für ihr Kind. Ein Engel scheint ihr zuzuflüstern, »tue das« und sie tut es, und gerade so wie es dem Kinde recht ist.«

Das kleine Wesen sog nun, sein Gesichtchen an die Mutterbrust gelehnt und seine dicke rote Hand gegen Thoras bleiche Wange gestemmt, eifrig darauf los.

»Du aber bist es, die der Milch bedarf, mein Kind,« sagte Tante Margret. »Ja, und etwas Kognak dazu, und du sollst beides sofort haben. Lehne deinen armen Kopf gegen dies Kissen, mein Herz, und warte bis ich die Karaffe hole.«

Das Kind war nun im Einschlafen begriffen, und Thora sah liebevoll auf dasselbe herab und sagte:

»Gott segne mein mutterloses Kind!«

»Mutterlos? Wahrhaftig! Wer sagt, daß es mutterlos ist? Zu viele Mütter hat es nach meinem Dafürhalten,« sagte Tante Margret.

Der Stöpsel entglitt den erschlaffenden Lippen des Kindes, und Thora beugte sich nieder und küßte die Tropfen fort, die von dem kleinen Munde niedertropften.

»Ich wollte, ich könnte sterben,« sagte sie. »Ich wollte, ich könnte jetzt sterben, Tante Margret.«

Und Tante Margret sagte, hörbar aufschnaubend: »Sterben fürwahr! Trinke 'mal gleich diesen Tropfen Kognak und Wasser und rede nicht solch dummes Zeug.«

Thora trank den Kognak, und sofort verließ sie die Schwäche und mit der zurückkehrenden Kraft gewann der heimliche Zweck, der sie in das Haus gebracht hatte, neues Leben.

»Ich muß mich eilen,« dachte sie bei sich. »Anna wird mir folgen.«

Die unschuldige Selbstsucht ihrer hungernden und verletzten Mutterschaft kannte keine Gewissensbisse, und sie begann zu überlegen, wie sie Tante Margret loswerden und ihr Kind fortbringen könne.

Es war ein schwieriges Problem und kostete sie langes Nachdenken; schließlich aber löste der Zufall es.

»Meine Güte!« sagte Tante Margret: »Wie reizend du mit dem Kinde aussiehst! Welch einen Schrecken gewisse Leute aber davontragen würden, wenn sie gerade hereinschauen und dich sehen könnten! Gott sei Dank, können sie es aber nicht. Sie sind dreißig Meilen entfernt, und du wirst, ehe sie zurückkehren, wieder fort und niemand um einen Heller klüger sein. Wenn die Katze fort ist, tanzen die Mäuse auf dem Tisch herum! Aber, gerechter Himmel, welch einen Sturm es geben würde, wenn sie je erführen, daß du hier gewesen bist, und ich dir erlaubt habe den kleinen Engel anzurühren! Ich weiß nicht, wer der schlimmste in diesem Punkt ist – dein Vater oder Oskar oder Helga. Wenn ich es sagen sollte, glaube ich aber doch Helga. Du bist eine Neilsen, Thora, aber Helga – die ist ein Schaf aus einer andern Hürde. Sie ist so berechnend und weiß die Leute so herumzubekommen. Helga war es, die diese Glocke an die Tür machen ließ, und als ich dich hereinkommen hörte, dachte ich, »das ist der Kreisrichter wieder« und als ich dich dann zu sehen bekam, wäre ich doch bald auf den Rücken gefallen. – Himmlischer Vater!«

Tante Margret, die am Fenster stand, schlug plötzlich die Hände überm Kopf zusammen.

»Was gibt es?« fragte Thora.

»Es ist – nein – ja, es ist Anna! Und der Kreisrichter und zwei Polizeibeamte kommen hinter ihr d'rein.«

»Sie wollen mich holen,« rief Thora. »Sie wollen mich von meinem Kinde fortholen. Geh hinunter, Tante Margret, und verhindere sie daran. Sag', ich sei nicht hier – sag', ich wäre schon wieder fort – sag' irgend etwas –«

»Still, mein Herz, rege dich nicht auf. Überlasse es Margret Neilsen, diese kleine Angelegenheit in Ordnung zu bringen. Ich werde Anna und den Kreisrichter in die hintere Wohnstube führen und ihnen etwas vorerzählen. Inzwischen kannst du durch die vordere Haustüre dich davon machen und nach Hause gehen, ohne daß jemand etwas davon hört.«

»Ja, ja, das ginge gut,« sagte Thora.

»Du mußt still wie ein Mäuschen sein, und ich werde tüchtigen Lärm machen.«

»Ja, ja, ja!«

Der Klang der Glocke ertönte von unten, und Tante Margret flüsterte »da sind sie! Nun lege das Kind in die Wiege zurück und decke es mit der Decke zu.«

»Noch einen Augenblick, laß mich sie noch einmal, gerade zum letzten Mal noch küssen,« sagte Thora.

Eine erregte Stimme rief vom Fuße der Treppe »Margret! Margret Neilsen!«

»Ich muß hinunter, mach schnell,« flüsterte Tante Margret, und dann rief sie die Treppe hinabeilend: »Ich komme!« Darauf folgte ein Stimmengemurmel und das Zuschlagen einer Türe. Thora war wieder allein und die fieberhafte Kraft verletzter Mutterschaft überkam sie wie Wahnsinn. »Sie sind hergekommen mir mein Kind wieder zu nehmen,« waren ihre Gedanken.

In einem Moment hatte sie ihre Schuhe ausgezogen, die Decke aufgerafft, sie um ihr schlafendes Kind gewickelt, und war auf Strümpfen die Treppe hinab und durch die Hintertüre aus dem Hause hinausgeschlichen.

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