Emile Gaboriau
Der Strick um den Hals
Emile Gaboriau

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43

Als Fräulein von Chandoré von der Unterredung mit Frau von Claudieuse zu ihren Freunden und Verwandten zurückkam, sagte sie mit hoffnungstrahlendem Antlitz:

»Nun, ja nun kommen wir zu einem guten Ziele!«

Ihr Großvater und der Marquis von Boiscoran drängten sie, sich deutlicher zu erklären, sie weigerte sich aber, und erst viel später, am Abend, eröffnete sie Herrn Folgat, was sie erlangt hatte und weshalb es nun wahrscheinlich sei, daß der Graf vor seinem Tode seine Aussage zurücknähme.

»Das allein würde hinreichen, Jacques zu retten«, erklärte der Anwalt.

Aber diese Hoffnung bildete für ihn eine neue Anregung, seine Anstrengungen zu verdoppeln, und obschon ermattet von den Erschütterungen und Kämpfen der Verhandlung, brachte er dennoch die Nacht im Zimmer des Herrn von Chandoré damit zu, in Übereinstimmung mit Magloire ein Schriftstück auszuarbeiten, in welchem er die Revisionseinlegung begründete.

Darüber ward es heller Tag, und da er nun nicht mehr zu Bett gehen wollte, setzte er sich in einen Lehnstuhl, um einige Stunden zu ruhen. Er schlief aber kaum eine Stunde, als er durch den alten Antoine wieder geweckt wurde, welcher ihm anzeigte, daß ein Mann unten sei, der ihn sogleich zu sprechen wünsche. Sich die Augen reibend, stieg er hinunter und sah sich im Vorsaal einem etwa fünfzigjährigen Mann von ziemlich verdächtigem Äußeren gegenüber, der einen Schnurr- und Zwickelbart, weite Beinkleider und einen jener engen Überröcke trug, wie alte Militärs sie lieben.

»Sie sind Herr Folgat?« fragte der Fremde.

»Ja.«

»Sehr wohl. Und ich bin der Agent, welchen Freund Goudar nach England sandte.«

Der Anwalt zuckte zusammen.

»Seit wann sind Sie hier?«

»Seit heute morgen, mit dem Schnellzuge. Ich weiß, daß ich vierundzwanzig Stunden zu spät komme, denn ich habe von der Verhandlung in einer Zeitung gelesen, die ich auf dem Bahnhof kaufte. Herr von Boiscoran ist verurteilt. Aber ich schwöre Ihnen, daß ich keine Minute meiner Zeit verschwendete und daß ich die Belohnung wohl verdient habe, die mir für den Fall des Gelingens versprochen ist.«

»Es ist Ihnen also gelungen?«

»Natürlich. Schrieb ich Ihnen nicht in meinem letzten Briefe von Jersey, daß ich meiner Sache gewiß sei?«

»Sie haben Suky wiedergefunden?«

»Vierundzwanzig Stunden, nachdem ich Ihnen geschrieben, fand ich sie in einem Wirtshause von Bouly-Bay . . . Der Dickkopf wollte gar nicht mitgehen . . .«

»Sie haben sie mitgebracht?«

»Selbstverständlich! Sie befindet sich im ›Hotel de France‹, wo ich sie, bevor ich zu Ihnen ging, einquartiert habe.«

»Und weiß sie etwas?«

»Alles.«

»Holen Sie sie sogleich hierher!«

Der Agent eilte hinweg . . . Seitdem Folgat auf Erfolg hoffte, hatte er sich darauf vorbereitet, aus den Aussagen von Suky den größtmöglichen Vorteil zu ziehen. Er hatte in einem Album Denises unter etwa dreißig Photographien auch das Porträt der Frau von Claudieuse gefunden. Dieses Album holte er herbei und legte es eben auf den Tisch des Salons, als der Polizeiagent mit Suky erschien.

Der Kellner in der Pariser Rue de la Vigne hatte das Mädchen richtig geschildert. Sie war eine große Person von etwa vierzig Jahren, mit harten, männlichen Zügen, und so komisch anspruchsvoll gekleidet wie fast alle Engländerinnen der niederen Klassen, wenn sie über etwas Geld verfügen.

Von Folgat befragt, erklärte sie:

»Ich war vier Jahre in der Rue de la Vigne und würde wohl noch da sein, wenn nicht der Krieg ausgebrochen wäre. Seit dem ersten Tage meines Dienstes erkannte ich, daß ich ein Haus zu betreuen hatte, in dem sich zwei Verliebte trafen. Das paßte mir nicht gerade, denn sehen Sie, man hält doch auch etwas auf sich, aber die Stelle war gut. Was sollte ich weiter tun? Ich blieb. Daß meine Herrschaften ein Geheimnis vor mir hatten, merkte ich wohl, denn jedesmal, wenn mein Herr seine Dame erwartete, schickte er mich fort nach Versailles, nach Saint-Germain, sogar nach Orleans. Das verdroß mich so sehr, daß ich entschlossen war, zu entdecken, was mir verborgen wurde. Es kostete mich nicht viel Mühe, schon in der zweiten Woche zu wissen, daß mein Herr sich den Namen Sir Francis Burnett nur beigelegt hatte, um seinen wahren Namen zu verbergen.«

»Wie bekamen Sie das heraus?«

»Oh, auf die einfachste Weise. Eines Tages, als der Herr ausging, folgte ich ihm und sah ihn in ein Haus in der Rue de l'Université eintreten. Vor der Tür plauderte die Dienerschaft miteinander, ich fragte, wer der Herr sei, und sie sagten mir, das sei der Sohn des Marquis von Boiscoran.«

»Das war also Ihr Herr . . . Aber die besuchende Dame?«

Suky Wood lächelte.

»Bei der Dame«, sagte sie, »machte ich's ebenso; aber es kostete mich viel Zeit und Geduld, denn sie traf unglaubliche Vorsichtsmaßregeln, und ich verlor manchen Nachmittag damit, sie zu beobachten. Je mehr sie sich aber verbarg, desto größer wurde meine Neugier . . . Endlich eines Abends, als sie das Haus im Wagen verließ, nahm ich ebenfalls eine Droschke und folgte ihr nach. Sie ließ sich in die Rue de la Ferme-des-Mathurins fahren . . . Am andern Morgen erkundigte ich mich dort unter dem Vorwande, eine Stelle zu suchen, bei den Hausmeistern und erfuhr, daß die betreffende Dame in der Provinz verheiratet sei, jedes Jahr einen Monat in Paris bei ihren Verwandten zubringe und Gräfin von Claudieuse heiße.«

Und Jacques hatte so fest behauptet, daß Suky von nichts wisse, nichts wissen könne!

»Haben Sie die Dame gesehen?« fragte der Anwalt.

»So wie ich Sie jetzt sehe.«

»Würden Sie sie wiedererkennen?«

»Unter tausend.«

»Auch wenn man Ihnen nur ihr Bild zeigte?«

»Ich würde mich nicht täuschen.«

Folgat gab ihr das Album.

»Nun, suchen Sie es«, sagte er.

Dies war das Werk einer Minute.

»Das ist sie!« rief Suky und deutete mit dem Finger auf die Photographie der Frau von Claudieuse.

Es gab keinen Zweifel mehr.

»Es ist aber notwendig, Miß Suky«, sagte der junge Anwalt, »daß Sie vor Gericht alles wiederholen, was Sie mir mitgeteilt haben.«

»Das kann und werde ich, denn es ist die reine Wahrheit.«

»Einstweilen wird man Ihnen eine Unterkunft anweisen, und Sie bleiben hier zu unserer Verfügung. Seien Sie ohne Sorge, man wird Ihnen den Lohn gerade so zahlen, als ob Sie im Dienste wären.«

Der Anwalt fand nicht Zeit, mehr zu sagen, denn Doktor Seignebos stürzte wie eine Windsbraut herein und rief mit lauter Stimme:

»Sieg! Diesmal vollständiger Sieg!«

Er konnte jedoch vor Suky und dem Agenten nicht sprechen. Diese wurden daher ohne viele Förmlichkeiten weggeschickt, und Seignebos berichtete nun.

»Ich komme soeben aus dem Hospital«, sagte er, »dort habe ich Goudar gesehen. Es ist ihm gelungen, Cocoleu zum Sprechen zu bringen.«

»Nun, was hat er gesagt?«

»Ich weiß nur, daß er gesprochen hat, daß es geglückt ist, ihm die Zunge zu lösen . . . Aber Sie werden ihn selbst hören, denn es genügt ja nicht, daß er Goudar alles gestanden hat, es ist nötig, daß das Geständnis dieses Elenden vor Zeugen wiederholt wird.«

»Vor Zeugen wird er nicht sprechen.«

»Er darf sie nicht sehen, sie müssen verborgen werden. Die Örtlichkeit ist zum heimlichen Belauschen wie geschaffen.«

»Und wenn, bei verborgenen Zeugen, Cocoleu wieder verstockt ist und schweigt?«

»Das wird er nicht, Goudar hat das Geheimnis entdeckt, ihn zum Reden zu bringen, wenn er will. Ah, das ist ein schlauer Patron, der sein Handwerk versteht! Haben Sie Vertrauen zu ihm?«

»Vollkommen.«

»Und mit Recht. ›Kommen Sie heute selbst‹, sagte er mir, ›und zwar zwischen eins und zwei, mit Herrn Folgat, dem Staatsanwalt und Herrn Daveline. Stellen Sie sich an den Ort, den ich Ihnen bezeichne, und lassen Sie mich machen.‹ Er hat mir diesen Platz angewiesen und mir das Zeichen mitgeteilt, durch welches wir ihm unsere Anwesenheit zu erkennen geben sollen.«

Folgat zögerte nicht mehr.

»Wir haben keinen Augenblick zu verlieren«, sagte er. »Begeben wir uns zum Gerichtsgebäude.«

Beide waren indes kaum ins Vorzimmer gelangt, als sie auf Méchinet trafen, der vor Freude außer sich war.

»Herr Daubigeon sendet mich nach Ihnen«, sagte er atemlos. »Hören Sie, was geschehen ist . . .«

Und in groben Umrissen berichtete er von den Ereignissen des Morgens, von der Erzählung Cheminots und der Aussage der Kammerjungfer der Frau von Claudieuse.

»Das ist die Rettung!« rief Seignebos.

Der Anwalt Folgat war bleich vor innerer Bewegung.

»Bevor wir gehen«, schlug er vor, »wollen wir den Marquis von Boiscoran und Fräulein Denise unterrichten.«

»Nein«, unterbrach ihn Seignebos, »warten wir erst die volle Gewißheit ab. Jetzt erst recht, meine Herren, rasch!«

Sie hatten Grund, sich zu beeilen. Der Staatsanwalt und der Untersuchungsrichter erwarteten sie mit namenloser Ungeduld.

»Sie wissen, meine Herren . . . Méchinet wird Ihnen alles mitgeteilt haben!« rief Daubigeon, als sie in die Gerichtskanzlei eintraten.

»Jawohl«, erwiderte Folgat; »wir kennen aber noch etwas anderes, von dem Sie nichts wissen.«

Er erzählte von der Ankunft der Suky Wood und ihrer Aussage.

Vernichtet von der Wucht aller Beweise seines Irrtums, war Galpin-Daveline stumm und regungslos auf einen Sessel gesunken. Nur Herr Daubigeon strahlte vor Vergnügen.

»Jacques ist entschieden unschuldig!« rief er.

»Er ist es«, versetzte Seignebos, »und ich kenne den Schuldigen.«

»Wer?«

»Und Sie«, fuhr er fort, »sollen ihn ebenfalls kennenlernen, wenn Sie mit dem Herrn Untersuchungsrichter sich die Mühe nehmen wollen, uns nach dem Hospital zu folgen.«

Es schlug ein Uhr. Keiner von den Herren hatte noch an diesem Tage etwas genossen, aber dies war nicht der Augenblick, an Speise und Trank zu denken. Der Staatsanwalt zögerte nicht.

»Kommen Sie mit?« fragte er den Untersuchungsrichter.

Mechanisch, mit den Bewegungen eines Automaten, erhob sich Daveline.

Herr Daubigeon wendete sich zunächst an die Oberin des Hospitals und teilte ihr mit, worum es sich handelte. Sie hob ihren Blick ergeben zum Himmel.

»Handeln Sie, meine Herren«, sagte sie salbungsvoll, »handeln Sie, und möge der Erfolg Ihre Bemühungen krönen, denn diese unaufhörlichen Besuche der Justiz sind ein schweres Kreuz für unser so friedliches Haus.«

»Folgen Sie mir also nach der Irren-Abteilung, meine Herren!« forderte der Doktor auf.

»Irren-Abteilung« nennt man im Hospital zu Sauveterre ein kleines und niedriges Gebäude, vor welchem ein mit Sand bestreuter Hof liegt, von einer hohen Mauer umgeben. Das Gebäude ist in sechs Zellen eingeteilt, deren jede zwei Türen hat, eine nach dem Hofe zum Gebrauche der Schwachsinnigen, die andere nach außen für das Pflegepersonal bestimmt. Eine der letzteren öffnete Doktor Seignebos. Er empfahl sämtlichen Herren das tiefste Schweigen, weil das mindeste Geräusch den Argwohn Cocoleus erwecken könne, und ließ sie in die Zelle treten, deren Hoftür geschlossen war. Letztere Tür hatte jedoch in ihrer Mitte ein großes Guckloch, durch welches man, ohne gesehen zu werden, alles wahrnehmen konnte, was im Hofe vorging oder gesprochen wurde. Kaum zwei Meter von diesem Guckloch saßen auf einer hölzernen Bank Goudar und Cocoleu in der Sonne.

Kraft seiner Übung und seines Willens hatte Goudar seinem Gesicht einen entsetzlichen Ausdruck von Stumpfheit und Dummheit gegeben, und zwar so vollendet, daß die Leute des Hospitals ihn für noch schwachsinniger hielten als Cocoleu selbst. Er hatte seine Geige bei sich, die ihm auf Anordnung des Arztes gelassen worden war, und wiederholte, unter ihrer Begleitung, fort und fort den Rundgesang, den er an jenem Tage auf dem Neumarkt sang, als er Folgat zum ersten Male traf:

»Und als Jung-Elster flügge war,
Da flog sie auf die Häuser da . . .
Aha, lala!
Da flog sie auf die Häuser da . . .
Lala!«

Cocoleu hatte ein großes Stück Brot in der einen und ein Messer in der andern Hand und verzehrte sein Frühstück; aber die Musik reizte ihn so sehr, daß er zu essen vergaß und, die Lippe herabhängend, die Augen halb geschlossen, mit dem Kopfe hin und her wackelnd, den Takt angab.

»Schauderhaft!« konnte sich Folgat nicht enthalten zu murmeln.

Goudar, durch das verabredete Zeichen unterrichtet, beendete seinen Vortrag. Er bückte sich, holte unter der Bank eine große Flasche hervor und gab sich das Ansehen, als ob er einen tiefen Schluck daraus nehme. Dann reichte er Cocoleu die Flasche, der seinerseits wirklich einen langen Zug tat mit dem Ausdruck eines gräßlichen Behagens. Hierauf strich er sich mit der Hand über die Magengegend.

»Schmeckt – schmeckt – gut!« gurgelte er heraus.

Daubigeon beugte sich zum Ohr des Doktor Seignebos.

»Ah, nun begreife ich«, flüsterte er, »und ich sehe es an Cocoleus Augen, daß dieses Zutrinken schon lange gedauert hat . . . Der Schwachsinnige ist betrunken.«

Goudar nahm wieder seine Geige und sang:

»Sie flog auf eine Kirche schon,
Es war die Kirche von Avallon. . .
Aha, lala!
Es war die Kirche von Avallon. . .
Lala!«

»Trinken!« unterbrach ihn Cocoleu.

Nachdem Goudar sich erst ein wenig hatte bitten lassen, reichte er ihm wieder die Flasche, und Cocoleu trank mit zurückgebeugtem Kopfe, bis ihm der Atem ausging.

»In Valpinson hast du wohl keinen so guten Wein bekommen, was?« fragte ihn Goudar.

»Oh, und ob!« erwiderte Cocoleu.

»Aber nicht soviel du wolltest?«

»Und ob! Viel . . . viel . . . mein' Seel'!«

Er lachte vergnügt.

»Ich . . . ich . . . kroch in den Keller durch ein Fenster . . . ich . . . ich . . . trank durch einen Strohhalm.«

»Hei! An die schöne Zeit wirst du denken!«

»O ja!«

»Aber wenn du's in Valpinson so gut gehabt hast, warum hast du's dann angesteckt?«

Um das Guckloch der Tür gedrängt, lauschten die Zeugen dieser Szene mit angehaltenem Atem.

»Ich . . . ich wollte nur das Reisig verbrennen, daß der Graf herauskommen sollte«, erwiderte Cocoleu . . . »aber das Feuer fraß alles . . .«

»Na, warum wolltest du denn den Grafen tot machen?«

»Daß . . . daß die Dame den Boiscoran heiraten könnte.«

»Da hat sie dir es wohl aufgetragen?«

»Oh, das nicht! Aber sie sagte, sie würde glücklich sein, wenn ihr Mann tot wär', und weinte dazu . . . und weil sie so gut war mit Cocoleu und der Graf schlecht, so hab' ich geschossen.«

»Das war gut. Aber warum hast du gesagt, Boiscoran hätt's getan?«

»Hi, hi! Die Leute fingen an zu sagen, ich wär's gewesen, und da hätten sie mir den Hals abgeschnitten . . . Hu!«

Er schüttelte sich, während Goudar, um nicht zu rasch vorzugehen, seinen Gesang wiederaufnahm:

»Ein Dominus der Pfarrer sprach,
Vobiscum kräht Jung-Elster nach . . .
Aha, lala!
Vobiscum kräht Jung-Elster nach . . .
Lala!«

Goudar raspelte noch einige Zeit auf seiner Geige herum, und Cocoleu liebkoste wieder die Flasche.

»Wo hast du denn die Flinte hergenommen?« fragte der Polizist.

»Ich . . . ich . . . habe sie vom Grafen zum Vögelschießen, und ich . . . ich . . . ich habe sie noch . . . in dem Loche, wo Michel mich hat gefunden.«

Mehr konnte der vor Wut und Ungeduld kochende Doktor Seignebos nicht ertragen; er riß hastig die Tür auf und schoß in den Hof hinaus.

»Bravo, Goudar!« jubelte er.

Infolge des Lärms war Cocoleu aufgesprungen . . . Der Schrecken machte ihn nüchtern und entstellte seine häßlichen Züge.

Er begriff. . .

»Wart, du Schuft!« gurgelte er, warf sich wie ein wildes Tier auf Goudar und versetzte ihm zwei Messerstiche.

Diese Bewegung kam so plötzlich und unerwartet, daß sie von niemandem verhindert werden konnte. Cocoleu schleuderte Folgat, der ihn entwaffnen wollte, wütend von sich, sprang nach einer Ecke des Hofs, und von diesem Rückhalte aus bedrohte er mit fletschenden Zähnen, schäumendem Munde und blutunterlaufenen Augen, gleich einem reißenden Tiere, jeden, der sich ihm zu nähern suchte.

Auf die Rufe Daubigeons und Davelines eilten die Krankenpfleger herbei, und es würde sich wahrscheinlich ein blutiger Kampf entsponnen haben, wenn nicht ein Pfleger die Geistesgegenwart gehabt hätte, von außen auf die Mauer zu steigen und den Arm Cocoleus mit einer Schlinge zu fesseln. In wenigen Augenblicken war er entwaffnet.

»Ich – ich – ich sage kein Wort mehr!« knirschte der Elende.

Während dieser Zeit hatte sich der unfreiwillige und betroffene Urheber dieses Auftrittes, Doktor Seignebos, mit dem Verwundeten beschäftigt. Die beiden Verletzungen Goudars waren schwer, aber nicht tödlich, nicht einmal sehr gefährlich, da das Messer seitlich abgeglitten war.

In ein besonderes Krankenzimmer gebracht, kam Goudar bald wieder zu sich, und als er Daubigeon, Daveline, Folgat und den Arzt über sein Lager gebeugt sah, da murmelte er mit einem traurigen Lächeln:

»Hatte ich nicht recht zu sagen, daß ich ein hundsföttisches Gewerbe habe?«

»Nun hält Sie nichts mehr ab, es aufzugeben«, erwiderte Folgat, »so gewiß als das Haus in der Rue de la Vigne Ihren liebsten Wünschen genügt.«

Da leuchtete das blasse Gesicht des Polizisten in heller Freude auf.

»Bekomme ich es wirklich?« rief er.

»Haben Sie nicht den Schuldigen entdeckt und dem Gericht in die Hände geliefert?«

»In diesem Falle sollen die Messerstiche gesegnet sein! Ich fühle, daß ich binnen vierzehn Tagen wieder auf den Beinen bin. Geschwind Feder und Papier, daß ich meine Entlassung einreichen und meiner Frau die gute Nachricht mitteilen kann!«

Er wurde durch den Eintritt eines Gerichtsdieners unterbrochen. Dieser näherte sich dem Staatsanwalt.

»Herr Staatsanwalt«, sagte er respektvoll, »der Herr Pfarrer von Bréchy ist im Gerichtsgebäude und wartet auf Sie.«

»Ich bin im Augenblick bei ihm«, erwiderte Daubigeon. »Kommen Sie, meine Herren, kommen Sie!«

Wirklich fanden sie den Pfarrer noch wartend; er erhob sich lebhaft von dem Sessel, in dem er sich niedergelassen hatte, als er den Staatsanwalt mit Herrn Daveline, Folgat und Doktor Seignebos eintreten sah.

»Vielleicht wünschen Sie mich allein zu sprechen, Herr Pfarrer?« fragte Daubigeon.

»Nein, mein Herr«, erwiderte der alte Priester, »nein . . . das Werk der Ehrenerklärung, womit ich beauftragt bin, muß öffentlich geschehen.«

Er überreichte dem Staatsanwalt ein Schreiben.

»Lesen Sie, bitte«, fügte er hinzu, »lesen Sie mit lauter Stimme!«

Der Staatsanwalt brach mit zitternder Hand das Wappensiegel des Kuverts und las:

»In dem Augenblicke, da ich als Christ sterbe, bin ich es mir selbst, bin ich es Gott, den ich beleidigt, und den Menschen schuldig, zu verkündigen, was die Wahrheit ist: Durch Haß verleitet, habe ich mich eines falschen Zeugnisses schuldig gemacht, indem ich aussagte, daß ich in dem Menschen, der auf mich geschossen hat, Herrn von Boiscoran erkannt hätte. Ich habe diesen nicht nur nicht erkannt, sondern ich weiß auch und bin davon überzeugt, daß er schuldlos ist, und schwöre dies bei allem, was mir heilig ist in dieser Welt, die ich verlasse, und in der andern Welt, wo ich meinen höchsten Richter finden werde. Möge Herr von Boiscoran mir verzeihen, wie ich selbst verzeihe!

Trivulce von Claudieuse.«

»Unglücklicher Mann!« murmelte Herr Folgat.

Der Pfarrer ergriff jetzt das Wort.

»Sie sehen, meine Herren«, sprach er, »daß Herr von Claudieuse an seine Zurücknahme keine Bedingung geknüpft hat. Er verlangt nichts, als daß die Wahrheit an den Tag komme. Dennoch bin ich der Interpret des letzten Wunsches eines Sterbenden, indem ich Sie bitte, im Laufe eines neuen Prozesses den Namen der Gräfin von Claudieuse nicht zu nennen.«

In diesem Augenblick gab es keinen, der nicht mit den Tränen kämpfte.

»Seien Sie ohne Besorgnis, Herr Pfarrer«, erwiderte Daubigeon; »der letzte Wunsch des Herrn von Claudieuse soll erfüllt werden, es ist nicht nötig, den Namen der Gräfin zu nennen. Das Geheimnis ihres Fehltritts werde von denen, die es kennen, tief bewahrt.«

Es war vier Uhr. Eine Stunde später trafen beim Gericht ein Gendarm und der Pächterssohn Michel ein, welche die Erklärung Cocoleus bestätigten. Sie brachten das Gewehr, dessen der Elende sich bedient und das sie in dem Tannendickicht im Walde von Rochepommier gefunden hatten, in welchem Michel den Schwachsinnigen am Tage nach dem Verbrechen entdeckte.

Nunmehr war die Unschuld Jacques' klar wie der Tag, und wenn er auch bis zur Umwandlung des Richterspruchs faktisch verurteilt bleiben mußte, so wurde doch unter Hinzuziehung des Präsidenten Domini und des Herrn Du Lopt de la Gransière beschlossen, den fälschlich Verurteilten noch an demselben Abend einstweilen in Freiheit zu setzen.

Die Anwälte Folgat und Magloire hatten die angenehme Aufgabe, dem Gefangenen die glückliche Nachricht zu überbringen.

Sie fanden ihn, gleich einem Wahnsinnigen, in seiner Zelle auf und ab schreitend und von der peinlichsten Ungewißheit gefoltert, seitdem Daubigeon Worte der Hoffnung an ihn gerichtet hatte.

Ja, er hoffte, und dennoch sank er, als er vernahm, daß er gerettet, daß er frei sei, wie betäubt auf einen Sessel, weniger gerüstet gegen die Freude als gegen den Schmerz. Aber man erholt sich rasch von derlei Erschütterungen. Einige Augenblicke später verließ Jacques von Boiscoran an den Armen seiner Verteidiger das Gefängnis, in welchem er so bitter gebüßt hatte für etwas, was so viele Menschen in unserer Zeit kaum ein leichtes Vergehen nennen.

Als sie in der Rue de la Montagne angelangt waren, hielt ihn Folgat einen Moment an.

»Man erwartet Sie sicher nicht, Herr von Boiscoran«, sagte er. »Gehen Sie langsamer, während ich vorauseile und auf Ihr Eintreffen vorbereite.«

Er fand die Eltern und Freunde Jacques' im Salon vereinigt, von Ängsten und Sorgen gepeinigt, denn sie wußten noch nicht, was an den bis zu ihnen gedrungenen unbestimmten Gerüchten Wahres sei. Folgat unternahm es, sie mit der äußersten Vorsicht auf die Wahrheit vorzubereiten; aber Denise unterbrach ihn.

»Wo ist Jacques?« rief sie.

Jacques lag zu ihren Füßen, im Überschwang des Dankgefühls und der Liebe.


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