Emile Gaboriau
Der Strick um den Hals
Emile Gaboriau

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17

»Was kann Denise zugestoßen sein, daß sie so lange ausbleibt?« murmelte Herr von Chandoré, indem er den Neumarkt mit großen Schritten durchmaß und wohl zum zwanzigsten Male seine Uhr hervorzog.

Lange hatte die Befürchtung, seiner Enkelin zu mißfallen und von ihr ausgezankt zu werden, ihn an der Stelle zurückgehalten, wo sie ihm zu warten befohlen hatte. Endlich aber, ernstlich beunruhigt, dachte er: »Auf Ehre, wohl oder übel, ich wage es!«

Und das Trottoir überschreitend, welches den Platz von den Häusern trennt, betrat er den Flur im Hause der Schwestern Méchinet. Schon setzte er seinen Fuß auf die erste Stufe der Treppe, als er oben Licht schimmern sah. Fast zu gleicher Zeit vernahm er die Stimme seiner Enkelin und erkannte ihren leichten Schritt.

»Endlich!« dachte er, und leise, wie ein Schüler, der den Lehrer kommen hört und davor zittert, bei einer Ungehörigkeit ertappt zu werden, ging er wieder auf den Platz zurück.

Einen Augenblick später war Denise schon neben ihm. »Liebster Großvater!« rief sie, ihm an den Hals springend, »da, nimm deine Papiere!« Und indem sie einen schallenden Kuß auf die rauhen Wangen des Greises drückte, fügte sie hinzu: »Da hast du sie, ich bring' sie dir zurück.«

Wenn es in der Welt etwas gab, was Herrn von Chandoré in Staunen setzen mußte, so war es die Möglichkeit, daß es ein Geschöpf gab, welches hart, grausam, barbarisch genug war, um den Bitten und Tränen seiner Denise zu widerstehen – da diese Bitten und Tränen noch obendrein mit hundertzwanzigtausend Francs unterstützt worden waren.

Nichtsdestoweniger flüsterte er traurig: »Ich sagte es dir wohl, daß du nichts ausrichten würdest!«

»Und du irrtest dich, liebster Großvater, und du irrst dich noch – ich habe etwas ausgerichtet!«

»Und doch . . . bringst du mir das Geld zurück?«

»Ja, weil ich einen braven Mann gefunden habe, Großvater, einen Mann von Herz. Armer Junge! Auf welch harte Probe ich seine Ehrlichkeit stellte! . . . Denn er ist in sehr drückender Lage, seit er und seine Schwestern das Haus gekauft haben, ich weiß es aus guter Quelle. Es war mehr als Wohlhabenheit, es war Reichtum, was ich ihm bot. Hättest du das Aufleuchten seiner Augen und das Zittern seiner Hände gesehen, während er die Papiere betrachtete und sie mit seinen Fingern durchwühlte! Dennoch hat er sie ausgeschlagen, liebster Großvater – ja, er hat sie ausgeschlagen! Er will keine Belohnung haben für den unermeßlichen Dienst, den er uns leistet.«

Mit dem Kopfe nickend, bestätigte Herr von Chandoré: »Du hast recht, Töchterchen, der Gerichtsschreiber ist ein braver Mann und hat sich von nun an ein ewiges Recht auf unsere Dankbarkeit erworben.«

»Ich muß aber hinzufügen«, fuhr Denise fort, »daß ich außerordentlich tapfer gewesen bin. Nie hätte ich mich einer solchen Kühnheit fähig gehalten. Warum konntest du dich nicht in einem Winkelchen verstecken, liebster Großvater, um mich zu sehen und zu hören! Du hättest deine Enkelin nicht wiedererkannt Ich habe wohl ein wenig geweint, aber erst dann, als ich erreicht hatte, was ich wollte . . .«

»O mein liebes, liebes Kind«, murmelte der Greis gerührt.

»Siehst du«, sagte sie, »es geschah bloß, weil ich nur an Jacques' Gefahr dachte und an den Ruhm, mich seiner, der so tapfer ist, würdig zu zeigen. Ich hoffe, er wird mit mir zufrieden sein.«

Im Gehen erzählte sie ihm die Unterredung mit Méchinet bis auf die geringsten Einzelheiten, und der alte Edelmann erklärte, daß er in Wahrheit nicht wisse, was er am meisten bewundern solle, ihre Geistesgegenwart oder die Uneigennützigkeit Méchinets.

»Ein Grund mehr«, schloß das junge Mädchen, »die Gefahren, denen sich dieser Ehrenmann aussetzt, nicht noch zu vermehren. Ich habe ihm die äußerste Verschwiegenheit versprochen und werde mein Versprechen halten. Wenn du mir folgst, liebster Großvater, so ist es besser, wir sagen weder den Tanten Lavarande noch Frau von Boiscoran ein Wort davon.«

»Gestehe nur gleich, Schlaukopf, daß du allein Jacques retten möchtest . . .«

»Oh! wenn ich es könnte! . . . Unglücklicherweise müssen wir Herrn Folgat mit ins Vertrauen ziehen, denn wir werden seinen Rat nicht entbehren können.«

Einige Stunden später fand eine Beratung zwischen dem jungen Mädchen, Herrn Folgat und Herrn von Chandoré im Zimmer des Barons statt.

Mehr noch als Herr von Chandoré mußte Herr Folgat überrascht sein über Denises Einfall und über die Kühnheit, mit der sie ihn ausgeführt. Nie hätte er sie eines solchen Unternehmens für fähig gehalten, so sehr vereinigte sie mit den Reizen des erblühenden Mädchens die Naivität und Schüchternheit eines Kindes.

Er wollte ihr zu ihrem Verdienst Glück wünschen, aber sie unterbrach ihn hastig mit den Worten: »Wo ist denn mein Verdienst? Welch einer Gefahr hab' ich mich ausgesetzt?«

»Einer sehr großen Gefahr, mein Fräulein, ich versichere Sie –«

»Bah!« machte Herr von Chandoré.

»Einen Beamten bestechen«, fuhr Herr Folgat fort, »das ist ein schweres Vergehen. Es gibt in dem Strafgesetzbuch einen gewissen Artikel 179, der keinen Spaß versteht und der den Bestechenden dem Bestochenen gleichstellt.«

»Gut – um so besser!« rief Denise, »wenn dieser arme Méchinet ins Gefängnis muß, so werde ich mit ihm gehen.«

Und ohne die Unzufriedenheit zu bemerken, die diese Worte in ihrem Großvater erregten, fuhr sie fort:

»Kurz, Herr Folgat, Sie sehen somit Ihren Wunsch erfüllt. Von nun an werden wir zuverlässige Nachrichten von Herrn von Boiscoran erhalten; er wird uns seine Verhaltungsmaßregeln geben . . .«

»Vielleicht, mein Fräulein.«

»Wie! vielleicht? Sie sagten doch in meiner Gegenwart . . .«

»Ich habe Ihnen gesagt, mein Fräulein, daß es unnütz, ja vielleicht unklug wäre, irgend etwas zu versuchen, ohne die Wahrheit zu kennen. Werden wir sie erfahren? Glauben Sie, daß Herr von Boiscoran, der so viel Ursache hat, sich in jeder Weise vorzusehen, sie in einem Schriftstück aussprechen wird, das durch soundsoviel Hände geht, ehe es zu Ihnen gelangt?«

»Er wird sie aussprechen, mein Herr, ohne Vorbehalt, ohne Furcht, ohne Gefahr . . .«

»Täuschen Sie sich nicht!«

»Meine Maßnahmen sind getroffen. Sie werden sehen.«

»Dann bleibt uns nur noch übrig, zu warten.«

Ach, leider ja, jetzt galt es zu warten; das war es, was Denise bekümmerte. Sie konnte in der nächsten Nacht kaum schlafen. Der ganze folgende Tag war für sie eine lange Marter. Bei jedem Ton der Hausglocke fuhr sie zusammen und eilte nachzusehen.

Endlich, als es fünf Uhr vorbei war, sagte sie sich: »Für heute ist's nichts mehr. Wenn nur – mein Gott! – der arme Méchinet sich nicht hat ertappen lassen.«

Vielleicht um der Qual ihrer Befürchtungen zu entgehen, willigte sie ein, Frau von Boiscoran auf einen Besuch zu begleiten.

Oh, wenn sie geahnt hätte! Kaum zehn Minuten, nachdem sie fort war, erschien einer der Straßenjungen, die man auf den Plätzen von Sauveterre zu jeder Tageszeit antrifft, als Überbringer eines Briefes, der an Denise adressiert war. Man brachte ihn zu Herrn von Chandoré, der, das Mittagessen erwartend, in Herrn Folgats Begleitung eine Runde im Garten machte.

»Ein Brief an Denise«, rief der alte Edelherr, sobald der Diener sich entfernt hatte, »das ist die Antwort, die wir erwarten!«

Mutig erbrach er das Siegel. Aber ach – vergebliche Hast! Der Brief, der in dem Kuvert steckte, war folgendermaßen abgefaßt:

31:9, 17, 19, 23, 25, 28, 32, 101, 102, 129, 137, 504, 515, – 37: 2, 3, 4, 5, 7, S, 10, 11, 13, 14, 24, 27, 52, 54, 118, 119, 120, 200, 201, – 41: 7, 9, 17, 21, 22, 44, 45, 46 . . .

Und so ging es zwei Seiten lang fort.

»Da, mein Herr, versuchen Sie, daraus klug zu werden«, sagte Herr von Chandoré, das Schriftstück Herrn Folgat hinhaltend.

Zwar versuchte es der Anwalt, aber nach fünf Minuten vergeblicher Anstrengung sagte er: »Ich begreife, Fräulein von Chandoré hatte recht, uns zu sagen, daß wir die Wahrheit erfahren werden . . . Herr von Boiscoran und sie sind früher übereingekommen, sich durch Chiffren zu verständigen.«

Großvater Chandoré hob die Hände zum Himmel:

»Nun sehen Sie dieses junge Mädchen, sehen Sie!«

»Wir sind ihrem Gutdünken anheimgestellt; denn nur sie kann uns diese Rätselschrift erklären.«

Wenn Denise, als sie Frau von Boiscoran zu Frau Sénéchal begleitete, geglaubt hatte, ihre düsteren Vorahnungen zu zerstreuen, so war dies eine vergebliche Hoffnung.

Die vortreffliche Frau des Bürgermeisters war nicht die Person, bei der man in Stunden der Niedergeschlagenheit Ermutigung schöpfen konnte. Sie wußte nichts Besseres zu tun, als sich abwechselnd in Frau von Boiscorans und in Fräulein von Chandorés Arme zu werfen und unter heftigem Schluchzen zu wiederholen, daß sie die eine für die unglücklichste Mutter, die andere für die unglücklichste Braut halte!

»So glaubt also diese Frau, Jacques sei schuldig!« dachte Denise nicht ohne Erregung.

Damit aber noch nicht genug. Als beide zurückkehrten, hörte sie inmitten der Rue Mautrec, unweit des Hauses, in welchem der Graf und die Gräfin Claudieuse einstweilen untergebracht waren, einen jungen Burschen hinter sich rufen: »Mutter, komm doch und sieh da die Mutter und die gute Freundin des Mörders!«

Während also das arme junge Mädchen noch betrübter zurückkehrte, als sie gegangen war, kam ihre Kammerjungfer ihr eilend entgegen und sagte ihr, daß der Großvater und Herr Folgat sie im Zimmer des Barons erwarteten.

Ohne sich Zeit zu nehmen, ihren Hut abzulegen, eilte Denise dahin.

»Hier ist die Antwort«, rief Herr von Chandoré, als sie eintrat – und hielt ihr Jacques' Brief entgegen.

Sie vermochte einen Aufschrei der Freude nicht zu unterdrücken, und mit einer heftigen Bewegung das Blatt an ihre Lippen führend, rief sie wiederholt:

»Wir sind gerettet! Wir sind gerettet!«

Lächelnd beobachtete Herr von Chandoré das Glück seiner Enkelin.

»Ei, Mamsell Geheimnistuerin«, sagte er, »Sie haben ja, wie es scheint, große Geheimnisse mit Herrn von Boiscoran auszutauschen gehabt, da Sie sich eine Chiffresprache ausgeklügelt haben, gerade wie Verschwörer!«

Jetzt erst erinnerte sich das junge Mädchen der Anwesenheit des Pariser Anwalt; rot wie eine Pfingstrose, entgegnete sie:

»In letzter Zeit hatten Jacques und ich, ich weiß nicht bei welcher Gelegenheit, von den verschiedenen Mitteln gesprochen, die man erdacht hat, um eine geheime Korrespondenz zu führen. Und er hat mir dieses hier gezeigt. Zwei Korrespondenten wählen ein beliebiges Werk und jeder hat ein Exemplar von derselben Ausgabe. Der, welcher schreibt, sucht in seinem Exemplar die Worte auf und gibt sie durch Zahlen an. Der, welcher den Brief erhält, findet vermittels der Zahlen die Worte. So bezeichnen in Jacques' Brief die von zwei Punkten gefolgten Zahlen die Seite, und die anderen die Reihenfolge der auf dieser Seite ausgesuchten Worte.«

»Ei! ei! . . .»lächelte Großvater Chandoré, »da hätte ich lange suchen können.«

»Es ist sehr einfach«, fuhr Denise eifrig fort, »sehr bekannt und doch sehr zuverlässig. Wie will ein Uneingeweihter das von den beiden Korrespondenten gewählte Buch erraten? Dann gibt es noch Mittel, jeder Entdeckung vorzubeugen. Man kommt zum Beispiel überein, daß die Zahlen nie ihren eigentlichen Wert behalten, sondern daß dieser Wert je nach dem ersten, zweiten, dritten oder letzten Tag der Woche wechselt, an welchem man den Brief erhält. So zum Beispiel haben wir heute Montag, nicht wahr? Gut! Von jeder Seitenzahl muß ich 1 abziehen und jeder Nummer des Wortes 1 zuzählen.«

»Und darauf verstehst du dich?« fragte Herr von Chandoré.

»Gewiß, lieber Großvater. Sobald Jacques mir dieses System auseinandergesetzt hatte, machte ich mich natürlich daran, es auszuprobieren. Wir haben ein Buch gewählt, das ich sehr liebe, den ›Ontariosee‹ von Cooper, und wir belustigten uns damit, uns auf diese Weise unendliche Briefe zu schreiben. Oh! . . . das nimmt viel Zeit, denn man findet nicht immer die Worte, die man benützen möchte, und dann muß man sie Buchstabe für Buchstabe bezeichnen.«

»Hat Herr von Boiscoran den ›Ontariosee‹ in seinem Gefängnis?« fragte Herr Folgat.

»Ja, mein Herr, ich hab' es durch Méchinet erfahren. Jacques' erste Sorge war, sobald er sich in geheimer Haft sah, einige Romane von Cooper zu verlangen; und Herr Galpin-Daveline, der so fein, so mißtrauisch, so scharfsichtig ist, hat sie ihm selbst geholt. Jacques zählte auf mich.«

»Dann, liebe Tochter«, sagte Herr von Chandoré, »mach dich daran, uns dieses Rätsel zu entziffern!«

Und kaum war sie hinaus, als er leise hinzufügte: »Wie sie ihn liebt, diesen Jacques, wie sie ihn liebt! Wenn ihm ein Unglück zustieße, Herr, sie würde daran sterben.«

Herr Folgat nahm diesen Ausruf schweigend hin, und es verging wohl eine Stunde, bis Denise, die sich in ihr Zimmer eingeschlossen hatte, alle die von Jacques durch Ziffern bezeichneten Worte zusammengesucht hatte.

Aber als sie zu Ende war und wieder im Zimmer ihres Großvaters erschien, malte sich die tiefste Verzweiflung auf ihrem jugendlichen Antlitz.

»Es ist schrecklich!« sagte sie.

Der gleiche Gedanke durchfuhr Herrn von Chandoré und Herrn Folgat wie ein scharfer Pfeil.

»Sollte Jacques gestanden haben?«

»Da, lest«, sagte Fräulein Denise, ihnen den Brief hinhaltend.

»Ich danke Dir für Deinen Brief, meine Geliebte!« schrieb Jacques. »Ein Vorgefühl ließ ihn mich so sicher erwarten, daß ich mir den ›Ontariosee‹ verschafft hatte. – Ich begreife nur zu sehr Euren Schmerz, indem Ihr meine Haft sich verlängern seht, ohne daß ich mich rechtfertige. Wenn ich schwieg, so geschah dies, weil ich hoffte, daß die Beweise meiner Unschuld von außen kommen würden. Ich sehe ein, daß es unsinnig wäre, dieser Hoffnung noch länger Raum zu geben, daß ich genötigt sein werde zu sprechen. Ich werde sprechen. Aber was ich zu sagen habe, ist so gewichtig, daß ich bei meinem Stillschweigen verharren werde, bis es mir möglich sein wird, mich mit einem Manne zu beraten, der mein ganzes Vertrauen besitzt. Ich muß jetzt nicht nur Vorsicht beobachten, ich bedarf der Gewandtheit.

Bis zu diesem Augenblick war ich, kraft meiner Unschuld, ruhig. Mein letztes Verhör aber hat mir die Augen geöffnet über das ganze Ausmaß der Gefahr, die mir droht.

Die Pein meiner Lage wird groß sein bis zu dem Tage, da es mir gestattet sein wird, einen Anwalt zu sprechen. Ich danke meiner Mutter, daß sie einen mit sich gebracht hat. Ich hoffe, daß er mir verzeihen wird, wenn ich mich zuerst an einen andern als an ihn wende. Ich bedarf eines Mannes, der das Land und seine Sitten auf das genaueste kennt.

Es ist Herr Mergis, den ich erwähle, und ich verpflichte euch, ihn zu benachrichtigen, daß er sich bereithalte auf den Tag, wo nach beendeter Untersuchung die geheime Haft aufgehoben sein wird.

Bis dahin ist nichts zu tun als, wenn möglich, zu erlangen, daß der Prozeß Galpin-Daveline entzogen und einem andern anvertraut werde. Das Verhalten dieses Menschen ist unwürdig. Er will mich auf jeden Fall schuldig haben. Er würde ein Verbrechen begehen, um mich eines solchen anzuklagen; es gibt keine Schlinge, die er mir nicht stellte. Ich muß mir Gewalt antun, um meine Ruhe zu bewahren, sooft dieser Richter, der sich meinen Freund genannt hat, in mein Gefängnis tritt.

O meine Lieben, ich büße schwer für einen Fehler, aus dem ich mir bis jetzt kaum ein Gewissen machte.

Und Du, meine einzig Geliebte, wirst Du mir je die schrecklichen Qualen vergeben, die ich Dir verursache?

Ich hätte Euch noch viel zu sagen, aber der Gefangene, der mir den Brief zugestellt hat, hat mir gesagt, ich müsse mich beeilen, und es dauert lange, die Worte zusammenzusuchen.

J. . . . . .«

Nachdem sie diesen Brief gelesen, wandten Herr von Chandoré und Herr Folgat traurig den Kopf ab; unwillkürlich fürchteten sie, Denise könnte etwas von dem Geheimnis ihrer Gedanken aus ihren Augen lesen.

Aber sie begriff nur zu wohl, was diese Bewegung bedeutete.

»So zweifelst du an Jacques, Großvater?« rief sie.

»Nein«, erwiderte Herr von Chandoré mit leiser Stimme, »nein!«

»Sie aber, Herr Folgat, fühlen Sie sich verletzt, weil Jacques zuerst einen andern Anwalt als Sie zu befragen wünscht?«

Sie bedurfte ihrer ganzen Kraft, um ihre Tränen zurückzuhalten.

»Ja, dieser Brief ist schrecklich«, sagte sie, »aber wie sollte er es nicht sein! Es läßt sich begreifen, daß Jacques verzweifelt ist, daß seine Vernunft nach so viel unverdienten Martern zu schwanken beginnt . . .«

Ein leises Klopfen an der Tür unterbrach sie.

»Ich bin es«, sagte Frau von Boiscorans Stimme.

Großvater Chandoré, Herr Folgat und Denise sahen sich einen Augenblick fragend an.

»Die Lage ist zu bedenklich«, sagte zuerst Herr Folgat, »um Herrn von Boiscorans Mutter nicht mit ins Vertrauen zu ziehen.«

Damit erhob er sich, um ihr zu öffnen.

Während Denise, ihr Großvater und Herr Folgat sich berieten, war wenigstens fünfmal der Diener erschienen und hatte durch die verriegelte Tür gerufen, daß die Suppe auf dem Tisch sei.

»Es ist gut«, hatten sie jedesmal geantwortet.

Als sie aber noch immer auf sich warten ließen, fing Frau von Boiscoran an zu ahnen, daß etwas Außergewöhnliches vorgehen müsse.

Was aber konnte das sein, da man ihr ein Geheimnis daraus machte? »Wenn es ein glückliches Ereignis wäre«, dachte sie, »hätte man es mir nicht verhehlt.«

Es geschah also in der festen Absicht, sich öffnen zu lassen, als Frau von Boiscoran selbst hinging und an Herrn von Chandorés Tür klopfte.

»Ich will wissen«, sprach sie, sobald Herr Folgat ihr öffnete und sie hereintrat, »ich will wissen –«

Aber Denise fiel ihr ins Wort:

»Was auch kommen mag, so erinnern Sie sich, Madame, daß ein einziges Wort von dem, was ich Ihnen anvertrauen will, wenn man es Ihrer Freude oder Ihrem Schmerz entrisse, hinreichte, einen Ehrenmann zugrunde zu richten, gegen den wir eine nie abzutragende Verpflichtung eingegangen sind. Es ist mir gelungen, einen Briefwechsel zwischen Jacques und uns herzustellen . . .«

»Denise!« jubelte Frau von Boiscoran.

Wie von einem Delirium ergriffen, stürzte sie über den Zettel, den das junge Mädchen ihr hinhielt. Aber je weiter sie las, desto deutlicher konnte man sehen, wie das Blut ihr aus dem Gesicht wich, wie ihre Lippen erbleichten, wie ihre Augen sich trübten und in ihrer keuchenden Brust der Atem stockte.

Endlich entfiel der Brief ihrer niedersinkenden Hand, und indem sie sich schwer auf einen Sessel fallen ließ, stammelte sie:

»Wozu noch länger kämpfen, da wir verloren sind!«

Stolz war die Miene und bewunderungswürdig der Ton, mit denen Denise ihr erwiderte:

»Warum fügten Sie nicht gleich hinzu, liebe Mutter, daß Jacques ein Brandstifter und ein Mörder ist?«

Und das Haupt mit unbeugsamem Mut erhoben, fuhr sie mit zornsprühendem Blick und bebender Lippe fort:

»So werde ich allein bleiben, ihn zu verteidigen, der in den Tagen seines Glücks so viele Freunde zählte! . . . Es sei.«

Weniger ergriffen natürlicherweise, als Herr von Chandoré und Frau von Boiscoran es waren, hatte Herr Folgat sich auch zuerst wieder gefaßt.

»Wir würden in jedem Fall unserer zwei sein, mein Fräulein«, versetzte er, »denn es wäre unverzeihlich, wenn ich mich durch diesen Brief beeinflussen ließe. Ich wäre nicht zu entschuldigen, denn ich kenne aus Erfahrung, was Ihr Herz erraten hat. Die Untersuchungshaft hat Schrecken, welche selbst den stärksten und härtesten Charakter auflösen können. Die Tage ziehen sich endlos hin, und die Nächte bringen namenloses Grauen. Der Unschuldige in seiner einsamen Zelle sieht sich schuldig werden, so wie der vollkommen Vernünftige im Verlies eines Wahnsinnigen fühlt, wie sein Gehirn sich verwirrt.«

Fräulein von Chandoré ließ ihn nicht fortfahren.

»Das war es, mein Herr, was ich fühlte«, rief sie, »was ich nur nicht ausdrücken konnte wie Sie!«

Beschämt durch ihre Schwäche, bemühten Herr von Chandoré und die Marquise von Boiscoran sich, den schrecklichen Zweifel zu bekämpfen, dem sie einen Augenblick unterlegen waren.

»Nun, welche Maßregeln können wir noch ergreifen?« fragte die Marquise mit schwacher Stimme.

»Ihr Sohn selbst sagt es uns, gnädige Frau«, antwortete der Anwalt; »es bleibt uns nichts übrig, als das Ende der Untersuchung abzuwarten.«

»Verzeihung!« entgegnete Herr von Chandoré, »wir haben einen anderen Untersuchungsrichter zu verlangen.«

Herr Folgat schüttelte den Kopf.

»Unglücklicherweise«, sagte er, »ist das ein Traum, der nicht verwirklicht werden kann. Man kann einen Untersuchungsrichter, der in seiner Eigenschaft handelt, nicht wie einen einfachen Geschworenen zurückweisen.«

»Aber –«

»Der Gesetzgeber hat – nach der Ansicht unserer hervorragendsten Rechtslehrer – gewollt, daß nichts über den Untersuchungsrichter die Oberhand habe, nichts ihm den Weg abschneiden, nichts seine Macht zügeln dürfe. Der Artikel 524 des Gesetzbuchs in betreff der Kriminaluntersuchung ist bestimmt . . .«

»Und was sagt dieser Artikel?« fiel Denise ihm ins Wort.

»Er sagt im wesentlichen, mein Fräulein, daß die von einem Angeklagten vorgeschlagene Verwerfung eines Untersuchungsrichters das Verlangen nach Zurückweisung wegen gesetzlichen Verdachts ausdrückt, ein Verlangen, dessen Entscheidung nur dem Kassationshof zusteht, weil der Untersuchungsrichter innerhalb der Grenzen seiner Befugnisse eigene Gerichtsbarkeit bildet . . . Ich weiß nicht, ob ich mich deutlich genug ausdrücke?«

»Oh! sehr deutlich«, erklärte Herr von Chandoré. »Aber weil Jacques es wünscht . . .«

»Das ist wahr, nur weiß Herr von Boiscoran nicht –«

»Bitte um Entschuldigung! Er weiß, daß sein Richter sein Todfeind ist!«

»Mag sein! Was werden wir aber gewinnen, wenn wir gehorchen? Glauben Sie, daß unsere Forderung nach Zurückweisung Herrn Galpin-Daveline hindern würde, in seinem Prozeß fortzufahren? Keineswegs. Er würde ihn bis zum Beschluß des Kassationshofes weiterverfolgen. Er wäre bis dahin freilich verhindert, einen endgültigen Anklagebeschluß herbeizuführen; aber Herr von Boiscoran muß diesen Beschluß nur herbeiwünschen, weil die erste Folge desselben die Aufhebung der Einzelhaft sein wird; nächstdem die Erlaubnis, seinen Anwalt zu sprechen.«

»Es ist grausam!« murmelte Herr von Chandoré.

»Ja, es ist in der Tat grausam, aber es ist Gesetz.«

Wohl glücklich diejenigen, die nie in ihrem Leben – ob es sich um sie, oder um jemand, der ihnen teuer ist, handelt – Veranlassung haben, das fürchterliche Buch zu öffnen, welches man »Codex« nennt, um mit gepreßtem Herzen und unbeschreiblicher Seelenangst nach dem verhängnisvollen und unerbittlichen Artikel zu suchen, von dem ihr Schicksal abhängt.

Schon seit einigen Minuten schien Denise nachzusinnen. »Ich habe Sie wohl verstanden«, sagte sie zu dem Anwalt, »und morgen schon werden Ihre Einwendungen Jacques von Boiscoran mitgeteilt werden.«

»Vor allem«, versetzte der Advokat, »erklären Sie ihm wohl, daß alle Schritte in dem Sinne, wie er sie angibt, sich gegen ihn kehren würden. Herr Galpin-Daveline ist unser Feind; aber wir haben keinen positiven Vorwurf gegen ihn aufzustellen. Man würde uns stets antworten: ›Wenn Herr von Boiscoran unschuldig ist, warum spricht er nicht?‹«

»Dennoch«, begann Herr von Chandoré, der dieser Ansicht nicht ganz zustimmen wollte, »wenn wir hohe Protektionen hätten . . .»

»Besitzen wir solche?«

»Gewiß. Boiscoran hat hervorragende Freunde, die unter allen Regierungsformen ihren Einfluß zu bewahren wußten. Er war früher eng befreundet mit Herrn von Margeril.«

»Alle Wetter!« fiel Herr Folgat ihm mit bedeutsamer Gebärde ins Wort, »wenn Herr von Margeril uns einen Rückhalt geben wollte! . . . Aber das ist ein wenig zugänglicher Mann.«

»Man kann ihm immerhin die Sache ans Herz legen . . . Da er in Paris geblieben ist, um von dort aus Schritte zu tun, so wäre dies eine Gelegenheit . . . Ich werde ihm noch heute abend schreiben.«

Seit man Herrn von Margerils Namen ausgesprochen, war Frau von Boiscoran noch tiefer erblaßt.

Bei den letzten Worten des alten Mannes aber erhob sie sich und sprach heftig:

»Schreiben Sie nicht, mein Herr, es wäre vergeblich, ich will es nicht.«

So sichtlich war ihre Erregung, daß sie die übrigen nicht wenig in Verwirrung setzte.

»Boiscoran und Herr von Margeril sind also entzweit?« fragte Herr von Chandoré.

»Ja.«

»Aber es handelt sich um Jacques' Rettung, liebe Mutter!« rief Denise.

Leider konnte die arme Frau in diesem Augenblick nicht mitteilen, welcher Verdacht einst das Leben des Marquis von Boiscoran getrübt hatte; durfte niemanden ahnen lassen, wie grausam in diesem Augenblick die Mutter die von der Gattin begangene Unbedachtsamkeit büßte.

»Wenn es durchaus sein muß«, sprach sie mit erstickter Stimme, »so werde ich selbst Herrn von Margeril aufsuchen.«

Von allen Anwesenden war vielleicht Herr Folgat der einzige, der die schmerzlichen Erinnerungen erriet, die dieser Name in Frau von Boiscorans Herzen erweckte.

»Auf alle Fälle«, erklärte er daher, ihr das Wort abschneidend, »ist meine Ansicht die, das Ende der Untersuchung abzuwarten. Aber ich kann mich irren, und ehe wir Herrn Jacques antworten, wünsche ich mit dem Anwalt zu sprechen, den er bezeichnet hat.«

»Das ist ohne Zweifel der verständigste Entschluß, den wir fassen können«, bestätigte Herr von Chandoré.

Einem Diener klingelnd, befahl er diesem, zu Herrn Mergis zu gehen mit der Einladung, nach seinem Mittagessen herüberzukommen.

Jacques von Boiscoran hatte seine Wahl sehr gut getroffen.

Herr Magloire Mergis, bekannter unter dem Namen Magloire, galt in Sauveterre als der geschickteste und beredteste Anwalt, nicht nur der Umgegend, sondern im ganzen Gebiet von Poitiers. Er hatte außerdem, was seltener und bei weitem ruhmreicher ist, den wohlverdienten und unangreifbaren Ruf der Ehrenhaftigkeit und Unbestechlichkeit.

Es war bekannt, daß er nie eingewilligt hätte, für einen zweideutigen Fall zu plädieren. Übrigens war er durchaus nicht reich und bewahrte bei den vierundfünfzig oder fünfundfünfzig Jahren, die er zählte, die einfachen und bescheidenen Gewohnheiten eines Anfängers ohne Vermögen.

Jung verheiratet, hatte Herr Magloire seine Frau nach wenigen Monaten der Ehe verloren und hatte sich nie über diesen Verlust getröstet. Nach mehr als dreißig Jahren war die Wunde noch nicht vernarbt, und getreulich sah man ihn zu gewissen Zeiten, einen großen Blumenstrauß in der Hand, durch die Stadt dem Friedhof zuschreiten.

Über jeden anderen hätten die Spötter von Sauveterre sich des Lachens nicht enthalten können; über ihn aber durfte niemand spotten, so groß war die Hochachtung, die dieser rechtliche Mann einflößte, mit seinem ruhigen und heiteren Antlitz, mit seinen klaren, stolzen Augen, mit den feingezeichneten Lippen, wahrhaften Rednerlippen, bald Mitleid oder Zorn, bald Spott oder Verachtung ausdrückend. Ebenso wie der Doktor Seignebos war Herr Magloire Republikaner, und bei den letzten Wahlen des Kaiserreichs hatte es den Bonapartisten unglaubliche Anstrengungen, die Unterstützung der Verwaltung und eine Menge zweideutiger Manöver gekostet, um ihn aus der Kammer zu entfernen. Und dennoch wäre es ihnen ohne das Eingreifen des Herrn von Claudieuse nicht gelungen, obgleich dieser ihnen durchaus nicht zugetan war, sondern eine Menge Wähler bewogen hatte, sich der Stimme zu enthalten.

Das war der Mann, der um neun Uhr abends, auf Herrn von Chandorés Einladung, sich in der Rue de la Montagne einfand.

Denise und ihr Großvater, Frau von Boiscoran und Herr Folgat erwarteten ihn.

Er grüßte sie mit achtungsvoller, aber zugleich so trauriger Miene, daß es Denise einen Stoß ins Herz gab.

Sie glaubte zu verstehen, daß Herr Magloire nicht weit davon war, an Jacques von Boiscorans Schuld zu glauben.

Und sie täuschte sich nicht, denn Herr Magloire zögerte nicht, seine Ansicht, wenn auch mit der größten Schonung, so doch sehr deutlich kundzutun.

Nachdem er den Tag im Gerichtshof zugebracht, hatte er die Meinung der Mitglieder des Gerichts vernommen, und diese Meinung war weit entfernt, dem Angeklagten günstig zu sein.

Unter solchen Umständen Jacques' Wunsch nachzugeben und gegen Herrn Galpin-Daveline ein Gesuch um Untersuchungsabgabe einzureichen, wäre ein unverzeihlicher Mißgriff gewesen.

»So wird die Untersuchung also jahrelang dauern«, rief Denise, »da Herr Galpin-Daveline darauf besteht, von Jacques das Geständnis eines Verbrechens zu erlangen, das er nicht begangen hat.«

Herr Magloire schüttelte den Kopf.

»Ich glaube im Gegenteil, mein Fräulein, daß die Untersuchung sehr bald beendet werden wird.«

»Wenn Jacques aber schweigt . . .«

»Das Schweigen eines Angeklagten kann ebensowenig wie seine Launen und sein Eigensinn den Gang des Prozesses hemmen. Wenn er, in den Stand gesetzt, seine Verteidigung vorzubringen, ausschlägt, es zu tun, so geht das Gericht darüber hinweg.«

»Aber, mein Herr, wenn ein Angeklagter seine Gründe hat?«

»Es gibt niemals gültige Gründe, sich unschuldig anklagen zu lassen. Auch hat man diesen Fall vorhergesehen. Es steht dem Angeklagten frei, auf Fragen, die ihn in Verlegenheit setzen, nicht zu antworten. Nemo tenetur prodere se ipsum. Aber Sie müssen doch zugeben, daß die Verweigerung der Fragebeantwortung den Richter autorisiert, die Punkte, über welche der Angeklagte sich nicht erklären will, als erwiesen anzusehen . . .«

Je ruhiger der angesehene Anwalt von Sauveterre war, desto mehr gerieten seine Zuhörer, mit Ausnahme Herrn Folgats, in Schrecken.

Indem sie die technischen Ausdrücke vernahmen, die er gebrauchte, fühlten sie sich erstarren bis ins innerste Mark, wie die Freunde eines Verwundeten, welche hören, wie der Chirurg seine Operationsmesser schleift.

»Also scheint Ihnen«, fragte Frau von Boiscoran mit schwacher Stimme, »die Lage meines unglücklichen Sohnes bedenklich?«

»Ich sagte gefahrvoll, gnädige Frau.«

»Sie denken mit Herrn Folgat, daß jeder Tag, der dahingeht, die Gefahr steigert, die ihm droht . . .«

»Ich bin dessen nur zu gewiß. Und wenn Herr von Boiscoran wirklich schuldig ist . . .«

»Oh, mein Herr!« unterbrach ihn Denise, »können Sie so sprechen, Sie, der Sie Jacques' Freund waren?«

Mit einem Blick des tiefsten und aufrichtigsten Mitleids betrachtete Herr Magloire einen Augenblick das junge Mädchen.

»Eben weil ich ein Freund bin, mein Fräulein«, antwortete er, »bin ich Ihnen die Wahrheit schuldig. Ja, ich habe Herrn von Boiscorans große Vorzüge gekannt und geschätzt, ich habe ihn geliebt und liebe ihn noch . . . Aber die Sachlage muß nicht mit dem Gefühl, sie muß mit dem Verstand geprüft werden . . . Jacques ist Mensch und wird durch Menschen gerichtet werden . . . Die Merkmale seiner Schuld sind da, fühlbar, tatsächlich, handgreiflich! Welche Beweise können Sie von seiner Unschuld bieten? Nur sittliche Gründe!«

»Mein Gott!« murmelte Denise.

»Ich denke also wie mein ehrenwerter Kollege.«

Und Herr Magloire verbeugte sich gegen Herrn Folgat. »Ich bin fest überzeugt, daß Herr von Boiscoran, wenn er unschuldig ist, ein beklagenswertes System verfolgt hat. Wenn er zu seinem Glück ein Alibi hat, so eile er, ja so eile er, damit hervorzutreten. Er lasse den Prozeß nicht bis zur Anklagekammer fortgehen. Einmal hier angelangt, ist der Angeklagte zu drei Vierteln schon verdammt.«

Diesmal erblaßte das Karmesin auf Herrn von Chandorés Wangen wirklich.

»Und dennoch«, rief er, »wird Jacques sein System nicht ändern. Das ist sicher für jeden, der seinen Eigensinn kennt.«

»Und unglücklicherweise ist sein Entschluß gefaßt«, sagte Denise, »und Herr Magloire, der ihn wohl kennt, wird es nur zu sehr aus dem Brief ersehen, den er uns geschrieben hat.«

Bis dahin war nichts ausgesprochen worden, was den Anwalt von Sauveterre das Mittel ahnen ließ, das man benutzt, um mit dem Gefangenen zu korrespondieren.

Indem man ihm den Brief zeigte, mußte man ihn ins Vertrauen ziehen, und das tat Denise. Davon sofort überrascht, zog er finster die Brauen zusammen.

»Das ist sehr unvorsichtig, und von dem, der es tut, sehr dreist«, sagte er.

Indem er Herrn Folgat ansah, fuhr er fort:

»Unsere Profession hat gewisse Regeln, die zu übertreten stets ein mißliches Ding ist . . . Einen Gerichtsschreiber bestechen, von seiner Schwäche, seiner Armut Vorteil ziehen!«

Der Pariser Anwalt war unmerklich errötet.

»Ich hätte nie zu einer solchen Unvorsichtigkeit geraten«, sagte er, »aber von dem Augenblick an, wo sie begangen war, glaubte ich den Vorteil nicht ausschlagen zu müssen, und sollte ich mich strengen Tadels, oder eines noch Schlimmeren gewärtigen – ich werde es benutzen.«


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