Emile Gaboriau
Der Strick um den Hals
Emile Gaboriau

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20

Der Baron von Chandoré hatte einmal in seinem Leben eine schreckliche Nacht verbracht, in welcher er die Sekunden nach den Pulsschlägen seines Sohnes abzählte. Abends zuvor hatten die Ärzte ihm gesagt:

»Wenn er diese Nacht überlebt, kann er gerettet sein.«

Nun, jene unglückselige Nacht hatte den alten Edelherrn kaum größere Angst gekostet als diese, in welcher Denise vom Abend bis zum Morgen außer dem Hause gewesen war.

Die ganze Nacht über hörte sein alter Kammerdiener ihn in seinem Zimmer auf und ab gehen, und von sieben Uhr morgens an stand er auf der Schwelle seiner Tür und sah besorgten Blicks die Straße hinab.

Um halb acht Uhr suchte Herr Folgat ihn auf, aber kaum wünschte er ihm guten Morgen, und ohne Zweifel hörte er nichts von dem, was der Anwalt ihm zu seiner Beruhigung sagte, bis endlich der Greis ausrief:

»Sie ist es!«

Er täuschte sich nicht. Soeben bog Denise in die Rue de la Montagne ein. Sie schritt mit fieberhafter Hast daher, als ob sie fühlte, daß ihre Kraft zu Ende war und daß sie gerade nur noch genug übrig hatte, um das Haus zu erreichen.

Mit einer Art wahnsinniger Freude warf Herr von Chandoré sich ihr entgegen und wiederholte, sie in seine Arme pressend: »O Denise, meine Tochter, wie habe ich gelitten! Aber alles ist vergessen, komm, komm, schnell!«

Und er zog oder trug sie vielmehr in den Saal und ließ sie sanft auf ein Sofa niedergleiten.

Dann kniete er, vor Glückseligkeit lachend, neben ihr nieder; aber kaum hatte er ihre Hände erfaßt, als er ausrief:

»Deine Hände sind brennend heiß, du fieberst.«

Sie sah ihn an und schlug ihren Schleier zurück.

»Du bist bleich wie der Tod«, fuhr er fort, »deine Augen sind rot und geschwollen.«

»Ich habe geweint, liebster Großvater«, antwortete sie sanft.

»Geweint, warum?«

»Ach! weil ich nichts ausgerichtet habe.«

Wie durch Federkraft emporgeschnellt, fuhr Herr von Chandoré auf.

»Beim ewigen Gott!« rief er. »Was! . . . du selbst, Denise von Chandoré, bist zu ihm ins Gefängnis gegangen, du hast ihn beschworen!«

»Und er ist unerbittlich geblieben, liebster Großvater. Er wird nicht vor Abschluß der Untersuchung sprechen.«

»So haben wir uns in ihm getäuscht, und er ist ein Bursche ohne Herz und Seele.«

Mühsam hatte Denise sich erhoben.

»Ach! beschuldige ihn nicht, liebster Großvater«, unterbrach sie ihn, »beschuldige ihn nicht! Er ist so unglücklich!«

»Und was sagt er, was für Gründe führt er an?«

»Er sagt, die Wahrheit erscheine so unwahrscheinlich, daß man sie ihm gewiß nicht glauben werde, und daß es sein Verderben wäre, wenn er spräche, solange er in geheimer Haft sei und der Unterstützung eines Verteidigers entbehre. Er sagt, daß seine schreckliche Situation das Werk einer abscheulichen Rache sei. Er sagt, daß er den Übeltäter zu kennen glaube und daß er, um sich zu verteidigen, genötigt sei, anzuklagen.«

Bei den letzten Worten hatte Herr Folgat, der bis dahin ein stummer Zeuge gewesen war, sich genähert.

»Sind Sie gewiß, mein Fräulein«, fragte er, »daß Herr von Boiscoran sich so ausgedrückt hat?«

»Sehr gewiß, mein Herr, und wenn ich tausend Jahre lebte, so würde ich weder den Blick seiner Augen noch den Klang seiner Stimme vergessen, die seine Aussage begleiteten.«

Herr von Chandoré litt es nicht, daß man sie noch länger unterbrach.

»Aber dir, liebe Tochter, dir hat Jacques doch etwas Genaueres sagen müssen?«

»Nichts.«

»So hast du ihn nicht gefragt, worin diese unwahrscheinliche Wahrheit besteht?«

»Oh! und wie!«

»Nun?«

»Er hat mir geantwortet, daß mir vor allen er es nicht sagen könnte, daß ich das letzte Wesen auf der Welt wäre, dem er es gestände.«

»Dieser Mann verdiente auf langsamem Feuer verbrannt zu werden!« murmelte Herr von Chandoré.

Dann fügte er lauter hinzu:

»Und das alles scheint dir, liebste Tochter, nicht sehr seltsam, sehr unerklärlich?«

»Dies alles scheint mir fürchterlich!«

»Ich verstehe – aber was denkst du denn von Jacques' Verhalten?«

»Ich denke, liebster Großvater, daß, da er so handelt, er nicht anders handeln kann. Jacques ist an Geist und Mut ein zu überlegener Mensch, um sich selbst plump zu vernichten. Da er der einzige Wissende ist, ist er auch der einzige rechte Beurteiler seiner Lage. Mehr als irgend jemand muß ich seine Gründe achten.«

Aber der alte Edelmann glaubte sich zu seinem Teil durchaus nicht verpflichtet, sie zu achten, und durch diese resignierte Antwort seiner Enkelin bis zum äußersten gebracht, war er im Begriff, ihr alles zu sagen, was er dachte – als sie sich nicht ohne Aufregung erhob.

»Ich bin gebrochen, liebster Großvater«, sagte sie mit erlöschender Stimme, »gestatte mir, ich bitte dich, mich in mein Zimmer zurückzuziehen.«

Mit diesen Worten verließ sie den Saal, bis zur Tür von Herrn von Chandoré gefolgt, der sie mit seinen Blicken geleitete, bis er sie am Arm ihrer Kammerfrau die Treppe hinaufsteigen sah.

»Man wird sie mir töten«, sprach er dann zu Herrn Folgat zurückkehrend, mit einem Ausbruch von Zorn und Verzweiflung, der erschreckend war bei einem Mann seines Alters.

»Sie beunruhigen sich zu Ihrem größten Schaden, mein Herr«, begann Herr Folgat.

Großvater Chandoré schüttelte den Kopf.

»Nein«, antwortete er, »mein Kind ist vielleicht ins Herz getroffen. Haben Sie sie nicht gesehen, weiß wie Wachs? Haben Sie ihre Stimme nicht gehört, so ohne Leben, ohne Wärme? Allmächtiger Gott! werde ich denn allein von den Meinigen hier auf Erden bleiben? Und daß ich nichts tun kann, um das Unglück zu beschwören! O dieser Jacques von Boiscoran! Wenn er dennoch schuldig wäre! Wenn dieser Mann, den Denise liebt, ein Mörder wäre! O der Elende! Ich würde mir das Amt des Henkers erkaufen, damit er von meinen Händen umkäme!«

Tief erregt hielt Herr Folgat Herrn von Chandoré mit einer Handbewegung zurück.

»Beschuldigen Sie Herrn von Boiscoran nicht in einem Augenblick, da alles ihn anklagt«, sprach er. »Von uns allen ist er der am grausamsten Geprüfte, denn er ist unschuldig!«

»Glauben Sie das noch?«

»Mehr denn je. So wenig er gesprochen hat, es ist genug, mir die Richtigkeit meiner Vermutungen zu beweisen und daß ich schon dem Punkt, um den es sich handelt, auf die Spur gekommen bin.«

»Wann?«

»An dem Tage, an dem wir zusammen nach Boiscoran gegangen sind.«

Der Baron schien sich zu besinnen.

»Ich erinnere mich nicht«, begann er.

»Dennoch«, beharrte der Anwalt, »sind Sie nicht hinausgegangen, damit der alte Antoine, den ich befragte, sich freier aussprechen könnte?«

»Das ist richtig«, antwortete Herr von Chandoré, »das ist richtig.«

»Herr von Boiscoran sagt, daß die Wahrheit unwahrscheinlich klinge; das stimmt mit meinen Voraussetzungen überein. Da Ihnen indessen die Hände gebunden sind und Sie das Ende der Untersuchung abwarten müssen, so werde ich die Zeit benützen, um die Leute vom Lande zu befragen, die mir vielleicht bessere Auskunft erteilen können als Antoine. Sie haben unter Ihren Freunden Persönlichkeiten, die sehr wohl unterrichtet sein müssen, Herrn Sénéchal, den Doktor Seignebos.«

Was den letzteren betraf, so hatte Herr Folgat nicht lange zu warten; denn im gleichen Augenblick schrie der Genannte dem Diener im Vorsaal zu:

»Ich bin es, Seignebos, der Doktor Seignebos.«

Fast gleichzeitig erschien er wie ein Wirbelwind im Saal.

Es war vier Tage her, daß der Doktor Seignebos sich nicht mehr in der Rue de la Montagne hatte sehen lassen. Er war nicht selbst gekommen, den Rapport und die Schrotkörner abzuholen; er hatte seinen Diener danach geschickt, die Wichtigkeit und Überhäufung seiner Geschäfte vorschützend.

In Wahrheit aber hatte er diese vier Tage sozusagen im Hospital zugebracht, und zwar in Gesellschaft eines Kollegen, eines Oberarztes, der vom Gerichtshof berufen war, um in Gemeinschaft mit dem Doktor Seignebos den geistigen Zustand Cocoleus zu untersuchen.

»Und diese Untersuchung ist es, die mich herführt«, rief er, indem er eintrat, »und diese Untersuchung ist, wenn es so fortgeht, im Begriff, Herrn von Boiscoran die schönste und sicherste Rettungsaussicht zu entziehen.«

Nach dem, was Denise ihnen mitgeteilt, legten weder Herr von Chandoré noch Herr Folgat besonderes Gewicht auf Cocoleus Zustand.

Das Wort »Rettung« aber machte sie aufmerksam. Es gibt keinen gleichgültigen Umstand in einem Kriminalprozeß.

»So, gibt es etwas Neues, Doktor?« fragte der Anwalt.

Statt zu antworten, verschloß der Doktor sorgfältig die Türen, legte seinen Stock und den breitrandigen Hut auf den Tisch und fuhr fort:

»Nein, es gibt nichts Neues. Man fährt nur wie bisher in der Absicht fort, Herrn von Boiscoran zu verderben, und um dies zu erreichen, schreckt man vor keinem Umtrieb zurück.«

»Man . . . auf wen bezieht sich dieses ›Man‹?« fragte Herr von Chandoré.

Verächtlich zuckte der Doktor die Achseln.

»Können Sie wirklich noch fragen?« antwortete er. »Die Tatsachen sprechen, denke ich, deutlich genug. Im übrigen hören Sie mich an. In unserem Bereich, wie in allen anderen, finden sich, es schmerzt mich, es gestehen zu müssen, eine Anzahl von Ärzten, die nicht auf der Höhe ihrer Aufgabe stehen und die, um die Wahrheit zu sagen, Esel sind.«

Trotz des Ernstes der Lage kostete es Herrn Folgat Mühe, ein Lächeln zu unterdrücken.

»Aber es gibt unter diesen Eseln einen«, fuhr der Doktor fort, »der in der Dickfelligkeit und der Länge seiner Ohren alle anderen weit übertrifft. Und eben diesen hat der Gerichtshof mir aus dem großen Taubenschlag beigeordnet.«

Bei diesem Thema erschien es geraten, Doktor Seignebos' Schwung zu mäßigen.

»Kurz?« unterbrach ihn Herr von Chandoré.

»Kurz, meine Herren, mein gelehrter Kollege ist vollständig überzeugt, daß der Beruf eines Gerichtsarztes darin besteht, beständig den Hut zu ziehen und zu allem, was in der Untersuchung vorgesungen wird, Amen zu sagen. ›Cocoleu ist schwachsinnig‹, erklärt unumstößlich Herr Galpin-Daveline. ›Er ist es oder muß es sein‹, antwortet mein gelehrter Kollege. ›Wenn er über das Verbrechen gesprochen hat, so ist es die Folge einer Eingebung von oben gewesen‹, fährt der Untersuchungsrichter fort. ›Offenbar‹, urteilt der Kollege, ›ist er von oben inspiriert worden.‹ Kurzum, das Endurteil in dem Bericht dieses gelehrten Doktors ist folgendes: ›Cocoleu ist ein Schwachsinniger, der von der Vorsehung durch einen Blitzstrahl der Vernunft erleuchtet worden ist.‹ – Das hat er nicht genau mit diesen Worten geschrieben, aber er will es damit sagen.« In einem Anfall von Wut hatte der Doktor seine Brille abgezogen und gereinigt.

»Aber Ihre Meinung, Doktor?« fragte Herr Folgat.

Mit einer feierlichen Bewegung setzte der Doktor Seignebos seine Brille wieder zurecht und antwortete kalt:

»Meine Meinung ist, und ich habe sie weitläufig in meinem Bericht entwickelt, daß Cocoleu nicht schwachsinnig ist.«

Bei diesem Ausspruch fuhr Herr von Chandoré von seinem Sitz auf, so ungeheuerlich erschien ihm eine solche Behauptung.

Er kannte Cocoleu wohl. Während der achtzehn Monate, daß dieser Elende in des Doktors Behandlung stand, hatte er ihn oft genug durch die Straßen von Sauveterre schlendern sehen.

»Was? Cocoleu wäre nicht schwachsinnig?« wiederholte er.

»Nein«, erklärte Herr Seignebos unerschütterlich, »und um sich davon zu überzeugen, braucht man ihn nur zu untersuchen. Hat er das breite, glatte Gesicht, den formlosen Mund, die gelbe, lohfarbige Haut, dicke Lippen, brandige Zähne und schielende Augen? Schaukelt ein unförmiger Kopf, zu schwer für den Hals, auf seinen Schultern hin und her? Ist seine Figur ungestalt, seine Wirbelsäule gekrümmt? Hat er einen großen, schlaffen Bauch? Hängen die Hände ihm schwer und dick an den Hüften herab? Sind seine Beine ungeschickt, seine Bewegungen von ungewöhnlicher Schwerfälligkeit? . . . Meine Herren, es sind das die Hauptkennzeichen eines Schwachsinnigen. Können Sie diese an Cocoleu sehen? Ich finde in ihm einen Burschen, der sich einer eisernen Gesundheit erfreut, mit sehr geschickten Händen, der wie ein Affe auf die Bäume klettert, um die Vogelnester auszuleeren, der über zehn Fuß breite Gräben springt . . . Gewiß behaupte ich nicht, daß seine Geistesfähigkeit eine normale sei, aber ich behaupte, daß man ihn unter jene Geistesschwachen zählen muß, bei denen einzelne Fähigkeiten entwickelt sein können, wenn auch andere und vielleicht wichtigere Fähigkeiten mangeln.«

Wenn Herr Folgat mit allen Anzeichen der gespanntesten Aufmerksamkeit zuhörte, so war dies mit Herrn von Chandoré bei weitem weniger der Fall.

»Zwischen einem Schwachsinnigen und einem nur Geistesschwachen . . .« begann er.

»Liegt ein Abgrund!« rief Herr Seignebos, der nun unaufhaltsam fortfuhr:

»Der Geistesschwache bewahrt noch einige Reste von Verstand, er kann sprechen, seine Wahrnehmungen ausdrücken, seine Bedürfnisse kundtun. Er vereinigt seine Gedanken, vergleicht seine Eindrücke, erinnert sich, gewinnt Erfahrung. Er ist der Schlauheit und der Verstellung fähig. Er ist nicht immer gesellig, aber er ist stets den Eingebungen anderer zugänglich. Es ist leicht, eine vollständige Herrschaft über ihn zu gewinnen. Das Schwankende seiner Absichten ist charakteristisch, und dennoch ist er oft von einer unüberwindlichen Hartnäckigkeit und kann sich mit einem außerordentlichen Eigensinn an einen Gedanken hängen. Endlich sind die Geistesschwachen eben dieser teilweisen Zurechnungsfähigkeit wegen gefährlich. Unter ihnen finden sich fast alle jene elenden Monomanen, die die Gesellschaft einzusperren gezwungen ist, weil sich ihre tierischen Neigungen nicht zügeln lassen.«

»Sehr wohl«, bestätigte Herr Folgat, der vielleicht hierin die Elemente zu einer Verteidigung fand.

Der Doktor verbeugte sich.

»So steht es mit Cocoleu. Folgt daraus, daß ich ihn für seine Handlungen verantwortlich finde? Nein, gewiß nicht. Aber es folgt daraus, daß ich ihn für einen falschen Zeugen halten kann, der abgerichtet worden ist, um einen Ehrenmann zu verderben.«

Es war klar, daß ein solches System Herrn von Chandoré nicht gefiel.

»Früher«, sagte er, »sprachen Sie anders, Doktor!«

»Ich sagte sogar genau das Gegenteil, mein Herr«, antwortete nicht ohne Würde der Doktor Seignebos. »Ich hatte Cocoleu nicht genug studiert; er hat mich zum besten gehalten. Ich schäme mich nicht, es zu gestehen. Nach einem Jahr fruchtloser Versuche habe ich Cocoleu fortgeschickt, indem ich erklärte und es wahrhaftig glaubte, daß er unheilbar sei. Die Wahrheit ist, daß er nicht geheilt sein wollte. Die Landleute, diese klugen und mißtrauischen Beobachter, haben sich nicht getäuscht. Fast alle werden sie Ihnen sagen, daß Cocoleu mehr boshaft als dumm ist. Das ist richtig. Er hat sehr wohl begriffen, daß, wenn er seinen Schwachsinn übertreibt, er sein Leben fristen kann, ohne zu arbeiten; und er hat ihn übertrieben. Bei Herrn von Claudieuse aufgenommen, ist er schlau genug gewesen, gerade so viel Verstand zu zeigen, daß er erträglich wurde und sich eine bessere Behandlung sicherte, ohne doch zu irgendeiner Beschäftigung gezwungen zu werden.«

»Mit einem Wort«, sagte Herr von Chandoré, immer noch ungläubig, »somit wäre Cocoleu ein sehr großer Komödiant?«

»So groß, daß er mich betrogen hat«, entgegnete der Doktor.

Und sich an Herrn Folgat wendend, fuhr er fort: »Alles das hatte ich meinem gelehrten Kollegen gesagt, ehe ich ihn in das Hospital führte. Wir fanden Cocoleu eigensinniger denn je bei seinem Schweigen verharrend, aus welchem Herr Galpin-Daveline ihn nie herausziehen konnte. Alle unsere Bemühungen, ihm ein Wort zu entreißen, sind gescheitert, obgleich ich sehr wohl einsah, daß er uns begriff. Ich wollte zu gewissen, meiner Meinung nach sehr erlaubten Kunstmitteln greifen, die man anwendet, um einen Heuchler zu entlarven; mein Kollege hat sich dem widersetzt und ist, ich weiß nicht mit welchem Recht, darin von dem Untersuchungsrichter bestärkt worden. Dann habe ich verlangt, daß man Frau von Claudieuse kommen lasse und sie ersuche, Cocoleu zu befragen, weil sie das Talent hat, ihn zum Sprechen zu bringen. Herr Daveline hat es nicht erlaubt. Und so stehen die Sachen.«

Es ereignet sich alle Tage, daß zwei Ärzte, die mit einer gerichtsärztlichen Untersuchung beauftragt sind, in ihren Ansichten vollständig auseinandergehen. Die Justiz hätte viel zu tun, um solche Urteilsverschiedenheiten in Einklang zu bringen. Sie ernennt einfach einen dritten Sachverständigen, der die Frage entscheidet. In dieser Weise mußte notwendig auch Cocoleus Angelegenheit auslaufen.

»Und nicht weniger unzweifelhaft«, schloß der Doktor, »wird der Gerichtshof, der mir den ersten Esel zugesellt hat, mir jetzt den zweiten zuschicken. Sie werden sich als zwei Dummköpfe untereinander verständigen, und ich werde überstimmt und von Dummheit und Vorurteil besiegt werden.«

Wie wär's, hatte er sich also gesagt, wenn ich zu Herrn von Chandoré gehe, um an ihm einen Rückhalt zu finden?

Er verlangte, daß die Familien Boiscoran und Chandoré alle ihre Verwandtschaften und Verbindungen in Bewegung setzen, allen ihren Einfluß geltend machen möchten, um zu erlangen, daß eine Kommission von Ärzten, der Landschaft des Verbrechens fremd, Pariser womöglich, berufen würde, Cocoleu zu untersuchen und über seine geistige Beschaffenheit abzustimmen.

»Aufgeklärten Leuten gegenüber«, sagte er, »verpflichte ich mich zu beweisen, daß der Schwachsinn dieses traurigen Subjekts zum Teil Verstellung ist und daß sein eigensinniges Schweigen nur den Zweck hat, Antworten zu entgehen, die ihn in Verlegenheit bringen könnten.«

Weder Herr Folgat noch Herr von Chandoré gaben sogleich eine Antwort.

Beide überlegten.

»Vergessen Sie nicht«, fügte Herr Seignebos, durch ihr Stillschweigen betroffen, hinzu, »daß, wenn meine Meinung durchdringt, wie ich zu hoffen berechtigt bin, die Angelegenheit sofort eine neue Wendung nehmen muß.«

Herr Folgat erwog bereits die Folgen.

»Ich frage mich nur«, sagte er, »ob es Herrn von Boiscoran nicht eher schaden als nützen könnte, Cocoleus Betrügerei zu beweisen?«

»Ich möchte wahrhaftig wissen, wie!« rief der Doktor aufspringend.

»Nichts einfacher als das«, antwortete der Anwalt. »Cocoleus Schwachsinn ist vielleicht das bedenklichste Hemmnis der Anklage und das sicherste Element der Verteidigung. Was kann Herr Galpin-Daveline antworten, wenn Herr von Boiscoran ihm vorwirft, eine Anklage auf Tod und Leben auf die zusammenhanglosen Reden eines unglücklichen, des Verstandes beraubten, mithin unzurechnungsfähigen Geschöpfes begründet zu haben?«

»Oh! erlauben Sie!« rief der Doktor.

Aber Herr von Chandoré, der von dem Gespräch keine Silbe verloren hatte, unterbrach ihn:

»Erlauben Sie selbst, Doktor, der Schwachsinn Cocoleus ist derselbe Beweisgrund, der von Ihnen am ersten Tage angeführt wurde und der Ihnen, wie Sie sagten, so unfehlbar schien, daß man keines weiteren bedurfte.«

Ehe der Doktor eine Entgegnung finden konnte, fuhr Herr Folgat fort:

»Wenn im Gegenteil festgestellt wird, daß Cocoleu wirklich sich seiner Worte bewußt ist, so ändert sich alles, und die Anklage hat das Recht, auf Grund des Gutachtens der Ärzte Herrn Boiscoran zu sagen: ›Es ist nichts mehr zu leugnen, Sie sind gesehen worden, da ist ein vollgültiger Zeuge.‹«

Diese Einwendungen schienen in der Tat den Doktor in die stärkste Befangenheit zu versetzen; denn er schwieg einige Zeit still und wischte nachdenklich seine Brille ab. War er denn wirklich im Begriff, Jacques von Boiscoran zu schaden, während er vorgab, ihm nützlich zu sein? – Aber er war nicht der Mann, lange an sich zu zweifeln.

»Ich werde nicht weiterstreiten, meine Herren«, antwortete er in trockenem Ton. »Ich werde Ihnen nur eine Frage vorlegen: Ja oder nein! Glauben Sie, daß Jacques von Boiscoran unschuldig ist?«

»Wir sind fest davon überzeugt«, antworteten beide.

»Dann, meine Herren, haben wir, wie mir scheint, keine Gefahr zu fürchten, wenn wir versuchen, einen elenden Galgenstrick zu entlarven.«

Dies war offenbar nicht die Ansicht des Anwalts.

»Beweisen, daß Cocoleu sich dessen bewußt ist, was er sagt«, begann er, »wäre verhängnisvoll, wenn es nicht zu gleicher Zeit gelänge zu beweisen, daß er gelogen hat und daß seine Aussage ihm eingegeben worden ist. Kann man dies beweisen? Gibt es Mittel, festzustellen, daß er auf keine Frage antworten will, weil er die Folgen seines falschen Zeugnisses fürchtet?«

Der Doktor wollte nichts mehr hören.

»Nichts als juristische Spitzfindigkeiten!« rief er wenig höflich aus. »Ich für meinen Teil erkenne nur eins an, die Wahrheit!«

»Es ist nicht immer gut, sie auszusprechen«, murmelte der Anwalt.

»Doch, mein Herr, immer«, entgegnete der Doktor; »immer, und was auch daraus folgen mag. Ich bin Jacques von Boiscorans Freund, aber ich bin vor allem ein Freund der Wahrheit. Wenn Cocoleu ein elender Betrüger ist, wovon ich überzeugt bin, so ist es unsere Pflicht, ihn zu entlarven.«

Was aber Herr Seignebos nicht sagte, was er sich vielleicht selbst nicht gestand, war, daß die Angelegenheit zwischen ihm und Cocoleu ihre persönlichen Gründe hatte. Cocoleu hatte ihn zum besten gehalten, dachte er, und war die Ursache unzähliger schlechter Witze geworden, die man sich in der Stadt gegen ihn erlaubt hatte und die ihm, ohne daß er es merken ließ, sehr ärgerlich gewesen waren.

Cocoleu entlarven, hieß sich Genugtuung schaffen und auf seine Feinde allen Spott, mit dem man ihn überhäuft hatte, zurückwerfen.

»Also«, begann er von neuem, »ist mein Entschluß gefaßt, gleichviel, wofür Sie sich entscheiden mögen, meine Herren; ich werde von heute an darauf ausgehen, wenn es möglich ist, die Ernennung einer Kommission zu erlangen.«

»Es wäre vielleicht ratsam«, wandte Herr Folgat ein, »nichts zu tun, ohne es zuvor reiflich zu erwägen und sich mit Herrn Magloire zu beraten.«

»Ich brauche Herrn Magloires Ratschläge nicht, wenn die Pflicht in mir spricht.«

»Aber Sie werden uns vierundzwanzig Stunden Bedenkzeit geben?«

Der Doktor Seignebos zog seine struppigen Augenbrauen zusammen.

»Nicht eine Stunde!« rief er; »ich begebe mich auf der Stelle zu Herrn Daubigeon, dem Staatsanwalt.«

Damit nahm er Hut und Stock und ging so unzufrieden als möglich hinaus, ohne daß er sich die Mühe nahm, Herrn von Chandoré zu antworten, der ihn nach dem Befinden des Grafen von Claudieuse befragte, dessen Zustand nach dem, was man sich in der Stadt sagte, von Tag zu Tag schlimmer wurde.

»Der Teufel hole diesen alten Sonderling!« rief Herr von Chandoré, noch ehe der Doktor den Korridor durchschritten hatte. Dann, sich zu Herrn Folgat wendend, fuhr er fort: »Obgleich ich zugeben muß, daß Sie die bedeutungsvollen Mitteilungen, die er uns machte, etwas kalt aufgenommen haben!«

»Das tat ich nur, weil sie entsetzlich ernst sind«, antwortete der Anwalt, »und nur darum wollte ich Zeit zum Besinnen haben. Cocoleu – Schwachsinn heuchelnd oder wenigstens seine Einfalt steigernd! Das wäre die Bestätigung dessen, was Herr von Boiscoran gestern Fräulein Denise sagte; der Beweis eines abscheulichen Fallstricks, einer fluchwürdigen Rache, längst überlegt und vorbereitet. Und das ist offenbar der Knotenpunkt der Sache.«

Herr von Chandoré schien aus den Wolken zu fallen.

»Was?« rief er, »das ist Ihre Ansicht, und Sie zögerten, das Unternehmen des Doktor Seignebos zu unterstützen, der jedenfalls ein rechtschaffener Mann ist?«

Der Anwalt schüttelte den Kopf.

»Wenn ich versuchte, vierundzwanzig Stunden zu gewinnen, so geschah das, weil ich es für notwendig hielt, Herrn von Boiscoran selbst zu befragen. Durfte ich das Herrn Seignebos sagen? Hatte ich das Recht, ihm Fräulein Denises Geheimnis auszuliefern?«

»Das ist wahr«, murmelte Herr von Chandoré, »das ist wahr.«

Aber um an Herrn von Boiscoran zu schreiben, war Denises Anwesenheit unerläßlich, und erst am Nachmittag erschien sie, zwar noch sehr bleich, aber mit neuer Willenskraft ausgerüstet. Herr Folgat diktierte ihr die Fragen, die er dem Gefangenen vorzulegen hatte, sie beeilte sich, sie in Chiffern zu übertragen, und gegen vier Uhr wurde der Brief zu dem Gerichtsschreiber Méchinet gebracht.

Am folgenden Abend erhielt man die Antwort.

»Der Doktor Seignebos hat recht, meine lieben Freunde«, schrieb Jacques. »Ich habe nur zu viele Gründe dafür, daß Cocoleus Schwachsinn zum Teil Verstellung ist und daß seine Aussage ihm eingegeben worden ist. Dennoch bitte ich euch, tut keinen Schritt, um eine neue medizinische Untersuchung herbeizuführen. Die geringste Unvorsichtigkeit kann mich verderben. Um des Himmels willen, wartet mit jedem Einschreiten bis zum Ende der Untersuchung, die jetzt, nach dem, was Daveline mir sagt, nicht mehr fern ist.«

Es wurde dieser Brief im Familienkreise gelesen, und seine verzichtende Kürze entriß Frau von Boiscoran einen Schrei der Verzweiflung.

»Werden wir ihm noch gehorchen«, rief sie, »wenn es auf der Hand liegt, daß er sich ins Unglück stürzt, der Arme, wenn er bei seinem Starrsinn bleibt?«

»Als einzig richtiger Beurteiler der Sachlage«, sprach Denise, indem sie sich erhob, »hat er das Recht, zu befehlen, und unsere Pflicht ist, zu gehorchen. Ich appelliere an Herrn Folgat.«

Eine Bewegung des Anwalts gab ihr recht. »Alles, was möglich war, ist geschehen«, sagte er. »Jetzt bleibt uns nichts übrig, als zu warten.«


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