Emile Gaboriau
Der Strick um den Hals
Emile Gaboriau

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Zweites Buch

14

Ja, das Unternehmen der Fräulein von Lavarande war unsinnig. Beim gegenwärtigen Stand der Sache Herrn Galpin-Daveline aufsuchen, hieß möglicherweise ihm die Waffen zutragen, mit denen er Jacques vernichten konnte.

Aber wer anders war schuld daran, als Herr von Chandoré und Herr Folgat? Hatten sie nicht eine unverzeihliche Unvorsichtigkeit begangen, indem sie ohne weitere Vorsichtsmaßregel nach Boiscoran fuhren und nur durch den Diener des Herrn Sénéchal sagen ließen, daß sie zum Mittag zurück sein würden und man außer Sorge sein möge? – Außer Sorge sein? Und es waren die Marquise von Boiscoran und Fräulein Denise, die Mutter und die Verlobte Jacques', denen sie das sagen ließen.

Anfangs zwar hatten die beiden Unglücklichen eine gewisse Kaltblütigkeit bewahrt, jede hatte sich bemüht, der andern das Beispiel ihres Mutes und ihrer Zuversicht zu geben. Aber je mehr die Stunden verrannen, je mehr hatte ihre Angst die Oberhand gewonnen, und allmählich hatte ihr Schmerz sich in dem Austausch ihrer Befürchtungen Luft gemacht.

Sie stellten sich Jacques vor – unschuldig und doch wie der ärgste Verbrecher behandelt, in der Tiefe eines Gefängnisses, den schrecklichsten Eingebungen der Verzweiflung überlassen. Welchen Gedanken war er ausgesetzt während der vierundzwanzig Stunden, die er ohne Nachricht von den Seinigen geblieben? Sollte er sich nicht verachtet, verleugnet und verlassen glauben?

»Dieser Gedanke ist unerträglich!« rief endlich Denise. »Auf alle Fälle müssen wir zu ihm gelangen.«

»Aber wie?« fragte Frau von Boiscoran.

»Ich weiß es nicht; doch müssen wir Mittel und Wege finden. Es gibt Schritte, die ich allein nicht wagen würde, aber vereint mit Ihnen, liebe Mutter, bin ich bereit, alles zu versuchen. Gehen wir zu ihm ins Gefängnis!«

Hastig warf Frau von Boiscoran ihren Reisemantel über die Schultern.

»Ich bin bereit«, sagte sie, »gehen wir.«

Sie hatten wohl beide sagen hören, daß Jacques in »geheimer Haft« war, aber weder die eine noch die andere hatte einen Begriff von der tatsächlichen und erschreckenden Bedeutung dieses Ausdrucks. Sie wußten nichts von jenen grauenvollen, aber dennoch durch Gesetz und Verordnungen gerechtfertigten Maßregeln, die einen Menschen zeitweise völlig unterdrücken, gewissermaßen lebendig einmauern, allein mit dem Verbrechen, dessen er angeklagt ist, allein der vollständigen Willkür eines anderen Menschen überlassen, dessen Aufgabe es ist, ihm ein Geständnis zu entreißen.

Für sie war die »geheime Haft« nichts mehr als Entziehung der Freiheit, die Zelle mit ihrer düsteren Ausstattung, die Gitter vor den Fenstern, die Riegel an den Türen, der Gefängniswärter mit seinem Schlüsselbund die dunklen Korridore entlangrasselnd, und der Wache haltende Soldat im Hof.

»Es ist unmöglich«, sagte Frau von Boiscoran, »daß man mir ausschlüge, meinen Sohn zu sehen.«

»Unmöglich!« bestätigte Denise, »übrigens kenne ich den Gefängniswärter Blangin, dessen Frau früher in unseren Diensten war.«

Voll Zuversicht hob daher das junge Mädchen mit ihrer schmächtigen Hand den schweren Türklopfer des Gefängnisses. Blangin selbst öffnete ihnen, und beim Anblick der beiden unglücklichen Frauen malte sich großes Erstaunen in seinem breiten Gesicht.

»Wir kommen, Herrn von Boiscoran zu besuchen«, sagte Fräulein Denise in festem Ton.

»Die Damen haben doch einen Erlaubnisschein?« fragte der Gefängniswärter.

»Einen Erlaubnisschein? Von wem?«

»Von Herrn Galpin-Daveline.«

»Nein, den haben wir nicht.«

»Dann bedaure ich, den Damen sagen zu müssen, daß es unmöglich ist, Herrn von Boiscoran zu sehen. Er ist in Untersuchungshaft, und ich habe die strengsten Befehle.«

Denise zog die Stirne kraus. »Ihre Befehle, Herr Blangin«, unterbrach sie ihn, »können sich nicht auf diese Dame, die Marquise von Boiscoran, erstrecken.«

»Meine Befehle sind für jedermann.«

»Sie könnten eine Mutter hindern, ihren Sohn zu umarmen?«

»Ich bin es ja nicht, der das tut, gnädiges Fräulein! Ich – was bin ich hier? Nichts als ein Riegel, den das Gericht nach Belieben vorstößt und zurückschiebt.«

Zum erstenmal stieg dem jungen Mädchen der Gedanke auf, daß ihr Versuch scheitern könnte.

»Also auch mich, mein guter Herr Blangin«, sagte sie mit Tränen in den Augen, »auch mich können Sie zurückweisen? Kennen Sie mich nicht mehr? Hat Ihre Frau nie von mir gesprochen?«

Der Gefängniswärter war augenscheinlich gerührt.

»Ich weiß«, sagte er, »ich weiß alles, was meine Frau und ich der Güte des Fräuleins verdanken, aber ich habe meine Befehle. Das gnädige Fräulein werden nicht wollen, daß ein armer Mann seinen Posten verliert.«

»Wenn Sie Ihren Posten verlieren, mein guter Blangin, so verbürge ich, Denise von Chandoré, Ihnen einen andern, der Ihnen das Doppelte einbringt.«

»Mein Fräulein –«

»Mißtrauen Sie etwa meinem Wort, lieber Blangin?«

»Gott behüte mich! Aber, mein Fräulein, es handelt sich hier nicht allein um meinen Posten. Wenn ich täte, was Sie verlangen, so würde ich auch schwer bestraft werden.«

Der Ton, in dem der Gefängniswärter sprach, überzeugte Frau von Boiscoran, daß Denise nichts erreichen würde.

»Bestehe nicht länger darauf, mein Kind«, sagte sie, »gehen wir nach Hause.«

»Wie? Ohne zu erfahren, was hinter diesen undurchdringlichen Mauern vorgeht; ohne selbst zu wissen, ob Jacques lebt oder tot ist?«

Offenbar kämpfte der Gefängniswärter in seinem Herzen einen schweren Kampf.

Plötzlich sagte er mit gedämpfter Stimme und einem besorgten Blick um sich her: »Es ist mir untersagt, zu sprechen. Aber gleichviel – ich werde Sie nicht fortgehen lassen, ohne Ihnen wenigstens mitzuteilen, daß Herr von Boiscoran sich in guter Gesundheit befindet.«

»Weiter!« drang die junge Dame in ihn.

»Gestern, als man ihn herbrachte, war er wie stumpfsinnig. Er warf sich über sein Bett wie ein Sterbender und blieb über zwei Stunden regungslos liegen. Ich glaube wohl – er weinte!«

Ein Stöhnen, welches Denise nicht bemeistern konnte, machte Blangin erbeben.

»Fassen Sie sich, mein Fräulein«, sprach er lebhaft, »dieser Zustand hat ja nicht lange gedauert. Bald darauf ist Herr von Boiscoran aufgesprungen mit dem Ausruf: ›Ach was! Ich bin albern, mich so der Verzweiflung zu überlassen.‹«

»Sie haben das gehört?« fragte Frau von Boiscoran.

»Nicht ich selbst, sondern Frumence Cheminot hat es vernommen.«

»Frumence Cheminot?«

»Ja, einer unserer Gefangenen. Oh, er ist nur ein simpler Vagabund, gar nicht bösartig, der den Auftrag hat, Herrn von Boiscoran durchs Guckloch zu beobachten und ihn nie aus den Augen zu lassen. Herr Galpin-Daveline hat diese Vorsichtsmaßregel getroffen, weil die Beschuldigten bisweilen, zu Anfang, wenn Verzweiflung und Lebensüberdruß sie packt . . . ein Unglück ist ja so schnell geschehen! Frumence soll dieses Unglück verhindern.«

Frau von Boiscoran zuckte vor Schreck zusammen. Mehr als alles gab diese Vorsichtsmaßregel ihr den vollen Begriff von der Lage ihres Sohnes.

»Übrigens«, fuhr Blangin fort, »ist jetzt nichts mehr zu fürchten. Herr von Boiscoran ist wieder ganz gelassen und ruhig, heiter sogar, wenn ich so sagen darf. Als er heute morgen aufstand, nachdem er die ganze Nacht fest geschlafen hatte, ließ er mich rufen und verlangte Papier, Tinte und Feder. Das pflegen die Gefangenen am zweiten Tage zu fordern. Ich hatte Befehl, ihm das Verlangte zu geben; und er erhielt es. Als ich wiederkam, ihm sein Frühstück zu bringen, händigte er mir einen an Fräulein von Chandoré adressierten Brief ein.«

»Wie?« rief Denise. »Sie haben einen Brief für mich und geben ihn mir nicht heraus?«

»Weil ich ihn nicht mehr habe, mein Fräulein, sondern ihn, wie es meine Pflicht war, dem Herrn Galpin-Daveline aushändigte, als er mit seinem Schreiber Méchinet herkam, um Herrn von Boiscoran zu verhören.«

»Und was hat er gesagt?«

»Er erbrach den Brief, las ihn, steckte ihn in die Tasche und sagte: ›Es ist gut.‹«

Wieder füllten sich Fräulein von Chandorés Augen mit Tränen, aber diesmal waren es Tränen des Zorns.

»Welch eine Schmach!« rief sie. »Dieser Mensch wagt es, den Brief zu lesen, den Jacques an mich gerichtet hat! Es ist schändlich!«

Und indem sie in ihrem Kummer Herrn Blangin zu danken vergaß, zog sie Frau von Boiscoran mit sich fort und sprach, bis sie zu Hause anlangten, kein Wort.

»Armes Kind, du hast nichts ausgerichtet!« riefen die Tanten Lavarande, als sie ihre Nichte eintreten sahen.

»Nun wohl«, fuhren sie fort, nachdem Denise ihnen alles mitgeteilt hatte, »wir werden ihn aufsuchen, diesen elenden Menschen, der uns vorgestern noch auf das niedrigste den Hof machte, um die Mitgift unserer Nichte zu erhalten. Wir werden ihm reinen Wein einschenken. Und wenn wir nicht erreichen, daß er uns Jacques herausgibt, so werden wir wenigstens seinen Triumph beeinträchtigen und ihn demütigen.«

Wie hätte Fräulein von Chandoré diesem Plan der Tanten Lavarande nicht zustimmen sollen, der ihrem Zorn alsbaldige Genugtuung versprach und ihre geheimen Hoffnungen nährte!

»Ja, ihr habt recht, liebe Tanten«, rief sie. »So geht, ohne eine Minute zu verlieren!«

Unfähig, solchem Drängen zu widerstehen, machten beide sich auf den Weg, ohne den zaghaften Einwänden der Marquise von Boiscoran Gehör zu geben. In einem Punkt aber irrten sich die guten Damen – in betreff der Gemütsverfassung des Herrn Galpin-Daveline.

Der Exbewerber um ihre Nichte Lavarande war nicht auf Rosen gebettet.

Beim Beginn dieser seltsamen Angelegenheit hatte er sich fieberhaft hineingestürzt. Endlich glaubte er die glänzende Gelegenheit erreicht zu haben, der er seit Jahren nachgejagt und die ihm die Pforte öffnen sollte, die bisher seinem Ehrgeiz verschlossen geblieben.

Als aber die Untersuchung einmal im Gange war, als er sich in den Kampf verwickelt sah, hatte die Strömung ihn mit sich fortgerissen, die rascher war als seine Überlegung.

Mit einer Art krankhafter Genugtuung hatte er die Beschuldigungen sich häufen und anwachsen sehen. Bewies diese Untersuchung nicht die glänzendsten Fähigkeiten und eine außerordentliche Gewandtheit, indem sie binnen wenigen Stunden die Justiz von der Tatsache eines unerklärlichen Verbrechens bis zu dem Anstifter desselben hinführte, den niemand zu verdächtigen gewagt hätte?

Aber einige Stunden später sah Herr Galpin-Daveline die Ereignisse nicht mehr mit denselben Augen an. Die Überlegung kühlte ihn ab, er begann an seiner Geschicklichkeit zu zweifeln, und er fragte sich, ob er nicht mit zu großer Hast gehandelt habe.

Wenn Jacques schuldig war, so konnte nichts günstiger für ihn sein. Es brachte dem Untersuchungsrichter, das war klar, Beförderung ein, sobald die Verurteilung erfolgt war.

Wenn aber Jacques unschuldig war? . . .

Dieser Gedanke, der nun zum erstenmal in Herrn Daveline aufstieg, ließ ihn bis ins innerste Mark erbeben.

»Jacques unschuldig!« Darin lag für Galpin-Daveline die Verurteilung, die verlorene Zukunft, vernichtete Hoffnung, eine für immer gehemmte Laufbahn.

»Jacques unschuldig!« Das war für ihn eine sichere, demütigende Schlappe; man würde ihn von Sauveterre entfernen, das für ihn nach einem solchen Skandal unmöglich wäre. Er würde nach irgendeinem verlorenen Winkel des Landes versetzt werden und jede Aussicht auf Beförderung sich abgeschnitten sehen.

Vergeblich wandte er ein, daß er nur seine Pflicht getan. Man würde ihm antworten, wenn man ihn überhaupt noch einer Antwort wert hielt, daß es gewisse aufsehenerregende Mißgriffe und skandalöse Irrtümer gibt, die ein Beamter nicht begehen darf, und daß es zum Ruhm der Justiz und im Interesse der so heftig angegriffenen Magistratur unter gewissen Umständen besser sei, einen Schuldigen ungestraft zu lassen, als einen Unschuldigen in Gefangenschaft zu setzen.

Unter solchen Ängsten, den furchtbarsten, die das Herz eines Ehrgeizigen zerreißen können, hatte er die Nacht verbracht.

Um sechs Uhr morgens schon war er aufgestanden. Um elf Uhr schickte er nach seinem Gerichtsschreiber Méchinet, und sie begaben sich gemeinschaftlich in das Gefängnis, um ein neues Verhör anzustellen. Dort händigte man ihm den Brief ein, den Jacques an Fräulein Denise gerichtet hatte.

Er war kurz und so gehalten, wie ein Mann schreibt, der zu gebildet ist, um nicht zu wissen, daß ein Gefangener nicht auf Geheimhaltung seiner Korrespondenz rechnen kann. Er war nicht einmal versiegelt; ein Umstand, der dem Gefängniswärter Blangin entgangen war.

»Denise, meine Geliebte«, schrieb Jacques. »Der Gedanke an den entsetzlichen Schmerz, den ich Dir verursacht, ist mein größter und fast mein einziger Kummer. Soll ich mich erniedrigen, Dir zu schwören, daß ich unschuldig bin? Nein, nicht wahr? Ich bin das Opfer eines so unglückseligen Zusammentreffens von Umständen, daß das Gericht sich täuschen mußte. Aber beruhige Dich; sei außer Sorge. Wenn der Augenblick da ist, werde ich wissen, diesen unheilvollen Irrtum aufzuklären. Auf Wiedersehen!

Jacques.«

»Es ist gut!« hatte in der Tat Herr Galpin-Daveline gesagt, nachdem er diesen Brief gelesen. Er hatte ihm nichtsdestoweniger einen heftigen Stoß ins Herz gegeben. »Welch eine Zuversicht!« dachte er.

Dennoch hatte er sich ein wenig beruhigt, als er die Gefängnistreppe emporstieg. Ohne Zweifel hatte Jacques sich nicht eingebildet, daß sein Brief auf geradem Wege an seine Bestimmung gelangen würde; es lag also nahe zu vermuten, daß er ihn mehr für das Gericht als für Fräulein Denise geschrieben hatte. Das mangelnde Siegel gab dieser Voraussetzung ein gewisses Gewicht.

»Nun«, sagte sich Galpin-Daveline, während Blangin die Zelle des Angeklagten öffnete, »wir werden ja sehen, wie es steht!«

Aber er fand Jacques so gelassen, als wäre er frei, auf seinem Schloß zu Boiscoran, trotzig, ja sogar spöttelnd. Unmöglich, etwas aus ihm herauszubringen. Mit Fragen bedrängt, hüllte er sich in das hartnäckigste Schweigen oder antwortete, daß er darüber erst nachdenken müsse.

Somit trat der Untersuchungsrichter seinen Rückzug noch viel beunruhigter an, als er gekommen war.

Jacques' Haltung beschämte ihn, wenn für ihn noch Umkehr möglich gewesen wäre.

Aber er konnte es nicht; er hatte seine Schiffe verbrannt und war verdammt, bis zum Äußersten zu gehen.

Für sein künftiges Heil war es notwendig, daß Jacques von Boiscoran schuldig befunden, dem Schwurgericht ausgeliefert und bestraft wurde. So mußte es unbedingt kommen. Es war eine Frage auf Leben und Tod. – Das waren die Erwägungen des Herrn Galpin-Daveline, als ihm gemeldet wurde, daß die Schwestern Lavarande ihn zu sprechen wünschten.

Er richtete sich bei dieser Meldung im Moment kerzengerade auf, und sein überreizter Geist umfaßte sofort alle denkbaren Möglichkeiten. Was konnten diese beiden alten Jungfern von ihm wollen?

»Sie mögen eintreten«, rief er endlich.

Sie traten ein, steif, hochmütig, den Sessel zurückweisend, den der Beamte ihnen anbot.

»Ich war auf die Ehre Ihres Besuches wenig gefaßt, meine Damen«, begann er. Die ältere der Schwestern, Fräulein Adélaïde, schnitt ihm das Wort ab: »Sehr erklärlich«, sagte sie, »nach dem, was sich zugetragen hat!«

Und alsbald begann sie mit der Gewalt eines Gläubigen, der einem Gottlosen sein Sündenregister vorhält, ihm vorzuwerfen, was sie seinen »infamen Verrat« nannte. Was? Er, er hatte Partei gegen Jacques, gegen seinen Freund ergriffen, gegen einen Mann, der sich bemüht hatte, ihm die Gunst einer unverhofften Verbindung zu verschaffen! Durch den einzigen Umstand dieser Heiratsaussicht zählte er gewissermaßen zur Familie. Wo war er denn her, daß er vergessen hatte, daß unter Verwandten, selbst wenn sie sich tödlich hassen, einer dem andern Schutz und Beistand schuldig ist, sobald es gilt, das heilige Erbgut, das man »Ehre« nennt, zu verteidigen?

Betroffen wie ein Vorübergehender, der aus der fünften Etage mit einem Steinregen überschüttet wird, behielt Herr Galpin-Daveline doch genug Kaltblütigkeit, um sich zu fragen, ob es nicht möglich sei, aus diesem unerwarteten Vorfall irgendeinen Vorteil zu ziehen. War eine Umkehr unmöglich?

Wirklich begann er, als Fräulein Adélaïde kaum innehielt, sich zu rechtfertigen und in heuchlerischen Ausdrücken den Schmerz zu schildern, der ihn erfülle.

»Wenn er Ihnen so teuer ist«, unterbrach ihn Fräulein Adélaïde, »so lassen Sie ihn in Freiheit setzen.«

»O mein Fräulein, wenn das in meiner Macht stände!«

»Dann geben Sie wenigstens seiner Familie die Erlaubnis, ihn zu sehen.«

»Das verbietet mir das Gesetz. Wenn er unschuldig ist, so mag er sich rechtfertigen, ist er aber schuldig, so bekenne er. Im ersten Fall wird er in Freiheit gesetzt, im zweiten wird er bei sich empfangen können, wer ihm beliebt.«

»Haben Sie sich vielleicht auch ›aus Freundschaft‹ erlaubt, den Brief zu lesen, den Jacques seiner Braut geschrieben hat?«

»Ich habe damit nur eine Pflicht meines peinlichen Berufs erfüllt, mein Fräulein!«

»Ah! und dieser Beruf verbietet Ihnen wohl auch, den Brief herauszugeben, wenn Sie ihn gelesen haben?«

»Ja – aber ich kann Ihnen denselben mitteilen.«

Mit diesen Worten zog er ihn aus einem Aktenstoß hervor, und die jüngere der Tanten, Fräulein Elisabeth, schrieb ihn mit einem Bleistift ab. Nachdem dies geschehen war, entfernten sich beide, fast ohne zu grüßen.

Herr Galpin-Daveline war zornberauscht.

»Ah, ihr alten Hexen!« rief er, »dieser Schritt beweist mir, daß ihr weit entfernt seid, an Jacques' Unschuld zu glauben. Warum liegt seiner Familie so viel daran, zu ihm zu gelangen? Ohne Zweifel, um ihm die Mittel zu verschaffen, sich durch Selbstmord der Bestrafung seines Verbrechens zu entziehen . . . Aber, bei Gott, das wird nicht geschehen, ich werde es zu hindern wissen. Was sollen Gegenvorwürfe über eine Handlung nützen, die nicht ungeschehen zu machen ist?«

Wie sehr es auch Herrn Folgat verdroß, als er von Denise den Schritt der Tanten Lavarande erfuhr, so ließ er sich doch nichts anmerken. War es nicht an ihm, inmitten dieser so schwer geprüften Familie für alle Kaltblütigkeit zu bewahren?

Herr von Chandoré dagegen verhehlte nur schlecht seine Unzufriedenheit. Und trotz seines Respekts vor dem Willen seiner Enkelin sprach er zu dieser: »Gewiß, liebes Kind, ich will nicht sagen, daß du Unrecht hattest; aber du kennst doch die Tanten, du weißt, wie wenig nachgebend sie sind. Sie sind fähig, Herrn Galpin-Daveline vor Erbitterung zum Äußersten zu bringen.«

»Gleichviel«, antwortete stolz das junge Mädchen. »Die Behutsamkeit bleibe dem Schuldigen überlassen. Jacques aber ist unschuldig.«

»Das Fräulein hat recht«, bestätigte Herr Folgat, der, wie die ganze Familie, Denises Herrschaft anzuerkennen schien. »Was auch die Fräulein von Lavarande sagen oder tun mögen, sie werden die Situation nicht verschlimmern. Herr Galpin-Daveline wird nach wie vor ein erbitterter Feind sein.«

»Aber –« Großvater Chandoré fuhr vom Stuhle auf.

Der Anwalt schnitt ihm das Wort ab. »Seine Persönlichkeit kümmert mich weiter nicht«, sagte er, »wohl aber die Gesetzeseinrichtung, deren Mißlichkeit er unterworfen ist. Ist es wohl möglich, daß ein Untersuchungsrichter immer durchaus unparteiisch bleiben kann, in einzelnen, aufsehenerregenden Prozessen zum Beispiel, in welchen er gewissermaßen seine Zukunft aufs Spiel setzt? Man mag noch so sehr als Beamter unbestechlich, jeder Verletzung der Amtspflicht unfähig sein, seinen Pflichten aufs strengste ergeben – man ist aber auch Mensch und hat seine Interessen. Im Ministerium werden Untersuchungen, die mit einer Freisprechung endigen, nicht gern gesehen. Der Richter, den man belohnt, ist nicht immer derjenige, der die Wahrheit eines schwierigen Prozesses ans Licht bringt.«

»Aber Herr Galpin-Daveline war unser Freund, mein Herr –«

»Jawohl, und gerade das läßt mich alles fürchten. Wie wird seine Lage sein, wenn eines Tages Herr von Boiscoran für unschuldig erklärt wird?«

»Wohlan, wir werden jetzt vor allem sehen, was die Tanten Lavarande ausgerichtet haben.«

Diese kehrten soeben zurück, nicht wenig stolz auf ihre Expedition, die Abschrift von Jacques' Brief vorzeigend.

Während Denise diese Abschrift an sich nahm und zurücktrat, um sie zu lesen, erzählte Fräulein Adélaïde ihr Zusammentreffen, nicht wenig betonend, wie entschlossen und abstoßend ihr Verhalten gewesen und wie gedemütigt und reuig Herr Galpin-Daveline erschienen sei.

»Denn er war wie vom Blitz getroffen«, erklärten die beiden alten Jungfern übereinstimmend, »er war zermalmt, vernichtet!«

»Ja freilich, ihr habt da einen schönen Streich ausgeführt«, brummte Herr von Chandoré, »und ich rate euch sehr, nicht noch damit zu prahlen!«

»Die Tanten haben recht getan«, erklärte Denise. »Hört lieber, was Jacques mir hier schreibt. Das ist einleuchtend, das ist klar. Was haben wir nach diesem seinem Ausspruch noch zu fürchten? ›Seid außer Sorge‹, schreibt er, ›ich werde, wenn es Zeit ist, wissen, diesen unheilvollen Irrtum aufzuklären.‹«

Herr Folgat, der die Abschrift genommen und gelesen hatte, schüttelte den Kopf.

»Es bedurfte dieses Briefes nicht«, sagte er, »um meine Ansicht zu befestigen. Diesem Prozeß liegt ein Geheimnis zugrunde, in das keiner von uns gedrungen ist. Aber Herr von Boiscoran ist sehr kühn, so mit einem Kriminalprozeß zu spielen. Warum hat er sich nicht gleich gerechtfertigt? Was gestern leicht war, kann heute schwierig und in acht Tagen unmöglich sein.«

»Jacques ist ein zu vortrefflicher Mensch, mein Herr«, rief Denise, »als daß man sich nicht ohne weiteres auf das verlassen dürfte, was er gesagt hat.«

Frau von Boiscoran, die soeben eintrat, machte es dem Anwalt unmöglich, etwas zu erwidern. Zwei Stunden der Ruhe hatten der unglücklichen Frau einen Teil ihrer Energie und ihrer Geistesgegenwart zurückgegeben, und sie kam nun zu fordern, daß man ein Telegramm an ihren Gemahl abschicke.

»Das ist das wenigste, was wir tun können«, brummte Herr von Chandoré, »obgleich es im Grunde sehr überflüssig ist. Boiscoran kümmert sich viel um seinen Sohn, so wahr ich lebe! Ah, wenn es sich um ein seltenes Stück Fayence handelte oder um einen Teller, der seiner Sammlung fehlt – das wäre eine andere Geschichte!«

Die Depesche wurde nichtsdestoweniger aufgesetzt und auf das Telegraphenbüro gesandt, als eben der Diener kam, um zu melden, daß das Mittagsmahl aufgetragen sei.

Diese Mahlzeit war weniger traurig, als man hätte voraussetzen sollen. Gewiß war jedem das Herz schwer bei dem Gedanken, daß vielleicht in diesem Augenblick Jacques vom Gefängniswärter mit der Gefängniskost bedient wurde. Gewiß konnte Denise ihre Tränen nicht zurückhalten, als sie Herrn Folgat den Platz einnehmen sah, der sonst ihrem Verlobten gehörte. Aber niemand, mit Ausnahme des jungen Anwalts, glaubte, daß Jacques wirklich in Gefahr war.

Herr Sénéchal jedoch, der erschien, als man eben den Kaffee servierte, teilte die Befürchtungen des Herrn Folgat.

Der gute Bürgermeister war gekommen, um Nachrichten von seinen Freunden zu erhalten und um ihnen mitzuteilen, wie der Tag vergangen war.

Die Beerdigung der Feuerwehrleute war ohne Unruhe verlaufen, obgleich nicht ohne tiefe Erschütterung. Von den Auftritten, die er befürchtet hatte, war nichts geschehen, der Doktor Seignebos hatte auf dem Kirchhof keine Rede gehalten. Doch er habe den Kummer gehabt, zu erkennen, daß die Bewohner Sauveterres in großer Mehrzahl an Herrn von Boiscorans Schuld glaubten.

Das Rollen eines Wagens, der vor der Tür hielt, schnitt ihm sehr zur rechten Zeit das Wort ab.

»Was ist das?« rief Denise auffahrend.

Man hörte im Korridor das Geräusch von Stimmen und Schritten, etwas wie das Gestampfe eines Kampfes; fast unmittelbar darauf öffnete sich die Tür des Speisesaales, und Michel, der Sohn des Pächters von Boiscoran, erschien mit dem Ausruf: »Es ist gelungen. Ich bring' ihn. Da hab' ich ihn.«

Dabei schleppte er Cocoleu herein, der grunzend um sich schlug und mit dem wilden Blick eines in der Schlinge ertappten Tieres um sich blickte.

»Meiner Seel', Sohn«, rief Herr Sénéchal, »du bist geschickter gewesen als die Gendarmen.«

Die Art, wie Michel mit den Augen zwinkerte, ließ leicht erkennen, daß sein Glaube an die Geschicklichkeit der Gendarmen nicht eben weit her war.

»Als ich dem Herrn Baron versprach, Cocoleu aufzuspüren«, sagte er, »da hatte ich schon meinen Plan. Ich wußte, daß er, ein stinkendes Vieh, wie er ist, sich um diese Zeit oft in einem Loch zu vergraben pflegt, das er sich unter den Felsen im tiefsten Dickicht der Wälder von Rochepommier gegraben hat. Durch Zufall hatte ich diesen Dachsbau entdeckt, denn man könnte hundertmal darüber und daneben hingehen, ohne zu ahnen, daß er existiert. Als nun Herr von Chandoré mir sagte, daß der ›Einfältige‹ verschwunden sei, dachte ich bei mir selbst: ›Sicherlich steckt er in seinem Loch. Wir wollen einmal zusehen.‹ Gleich machte ich mich auf die Beine, komme bei den Felsen an und finde Cocoleu. Nur kann ich versichern, daß es mir schlecht erging, bis ich ihn heraus hatte; er wollte nicht kommen, der Schuft, und hat mich wie ein toller Hund in die Hand gebissen, als er sich verteidigte.«

Damit zeigte Michel seine linke Hand vor, die mit blutiger Leinwand umwickelt war.

Cocoleu war abschreckend in diesem Augenblick, mit seinem fahlen Gesicht, das sich mit roten Flecken bedeckt hatte, mit seinen hängenden Lippen, von denen der Geifer floß, und mit seinen stumpfsinnigen Blicken.

»Warum wolltest du nicht kommen?« fragte ihn Herr Sénéchal.

Der Schwachsinnige schien ihn nicht einmal zu hören.

»Warum hast du Michel gebissen?« fuhr der Bürgermeister fort.

Cocoleu gab keine Antwort.

»Weißt du, daß Herr von Boiscoran aufgrund dessen, was du gesagt hast, im Gefängnis ist?«

Noch immer keine Antwort.

»Oh, es lohnt die Mühe nicht, ihn zu verhören«, sagte Michel. »Sie könnten ihn bis morgen prügeln. Sie würden ihm eher die Seele aus dem Leibe schlagen als ein Wort herausbringen.«

»Ich habe . . . ich habe Hunger«, stotterte Cocoleu.

Herr Folgat brach in Entrüstung aus.

»Ist es möglich«, murmelte er, »ist es möglich zu denken, daß man auf die Aussage eines solchen Geschöpfes eine Anklage auf Tod und Leben gründet?«

Großvater Chandoré schien seinerseits sehr verlegen.

»Was werden wir nun«, fragte er endlich, »mit diesem elenden Bengel beginnen?«

»Ich will ihn sogleich selbst ins Hospital bringen«, antwortete Herr Sénéchal, »und den Doktor Seignebos sowie den Staatsanwalt von diesem wichtigen Fund in Kenntnis setzen.«

Der Doktor Seignebos hatte seine Sonderbarkeiten, das war unwiderleglich, und alle die komischen Abenteuer, die ihm von seinen Feinden zugeschrieben wurden, waren nicht aus der Luft gegriffen. In jedem Fall aber besaß er die sehr selten gewordene Eigenschaft, für seine »Kunst«, wie er sagte, eine Ehrfurcht zu hegen, die dem Fanatismus nahekam.

Die Fakultät seiner Wissenschaft war seiner Meinung nach keines Irrtums fähig, ihr schrieb er bereitwillig die »Unfehlbarkeit« zu, die er dem Papst absprach. Er gab im Vertrauen wohl zu, daß etliche seiner Kollegen Esel seien, aber nie hätte er einem Laien erlaubt, diese unehrerbietige Ansicht in seiner Gegenwart auszusprechen. Von dem Augenblick an, da ein Mann mit dem wichtigen Diplome versehen war, welches das Recht über Tod und Leben verleiht, mußte dieser Mann, seiner Ansicht gemäß, in den Augen jedes gewöhnlichen Menschen ein »erhabenes Wesen« sein.

Es war seiner Meinung nach ein Verbrechen, sich nicht blindlings der Anordnung eines Arztes zu unterziehen.

Daher sein Eigensinn, dem Herrn Galpin-Daveline die Stirn zu bieten, die Bitterkeit seiner Widersprüche und die Unmanierlichkeit, mit welcher er die Herren vom Gericht bat, das Zimmer, in dem sein Kranker lag, zu verlassen und ihre Verhandlungen draußen abzumachen.

»Denn diese Teufel da«, hatte er hinzugefügt, »würden ohne weiteres einen Menschen töten, um die Mittel zu finden, einem andern den Kopf abzuschneiden.«

Darauf seine Pinzetten, sein Skalpell und seinen Schwamm wieder zur Hand nehmend, hatte er sich von neuem ans Werk gemacht, mit Frau von Claudieuses Hilfe die Schrotkörner herauszuziehen, die dem Grafen noch im Leibe steckten.

Um neun Uhr war er damit fertig.

»Nicht, daß ich behaupte, alles herausgezogen zu haben«, sagte er bescheiden, »aber was im Körper von Körnern etwa übrig ist, läßt sich von mir vorläufig nicht ergründen, ich muß gewisse Symptome abwarten, die mir ihr Vorhandensein beweisen.«

Übrigens schien, wie er es vorausgesetzt, Herrn von Claudieuses Zustand sehr verschlimmert. Der ersten Aufregung war eine große Entkräftung gefolgt. Das Wundfieber begann sich durch leichtes Frösteln anzukündigen.

»Ich sehe indes doch die Gefahr als überstanden an«, sagte der Doktor Seignebos zu der Gräfin, nachdem er, um zu verhindern, daß sie in Aufregung geriete, alle Zufälle auseinandergesetzt hatte, die möglicherweise eintreten könnten; worauf er ihr vor allem anempfahl, nicht zu gestatten, daß irgend jemand, und am wenigsten Herr Galpin-Daveline, sich dem Lager ihres Gatten näherte. Dieser Rat war nicht überflüssig gewesen, denn fast in demselben Augenblick meldete ein Bauer, daß ein Bürger von Sauveterre da sei, der Herrn von Claudieuse zu sprechen wünschte.

»Er mag kommen«, sagte der Doktor. »Diesmal werd' ich ihn empfangen.«

Es war ein gewisser Têtard, der früher als Gerichtsschreiber gedient und seinen Posten verkauft hatte, um den Steinhandel zu betreiben.

Besagter Têtard aber nannte sich nicht nur »ehemaliger Ministerialbeamter und Kaufmann«, wie seine Visitenkarten angaben, er war außerdem noch Vertreter einer Feuerversicherungs-Gesellschaft.

In dieser Eigenschaft erlaube er sich vorzustellen, erklärte er der Gräfin.

Er habe sagen hören, daß die Gebäude von Valpinson, durch seine Gesellschaft versichert, soeben zerstört worden seien, daß das Feuer absichtlich von Herrn von Boiscoran angelegt worden, und er wolle über diesen Gegenstand mit dem Herrn von Claudieuse verhandeln. Zwar sei er weit entfernt, versicherte er, die Verantwortlichkeit seiner Gesellschaft abzulehnen; allein er wolle ihr die gesetzlichen Ansprüche an Herrn von Boiscoran sichern, der Vermögen besitze und ohne Zweifel verurteilt werde, das Unheil, dessen Urheber er sei, zu bezahlen. Dazu seien gewisse Formalitäten notwendig; er komme, Herrn von Claudieuse aufzufordern, gemeinschaftlich mit ihm, Têtard, die Maßregeln zu treffen.

»Und ich fordere Sie auf, mir Ihre Hacken zu zeigen!« schrie Herr Seignebos mit donnernder Stimme, »und ich finde Sie sehr dreist, in so unverschämter Weise Herrn von Boiscoran zu erwähnen.«

Herr Têtard hatte, ohne ein Wort zu verlieren, das Weite gesucht, und noch in voller Aufregung über diesen Vorfall untersuchte der Doktor dann die jüngere Tochter der Frau von Claudieuse, dieselbe, bei welcher sie im Augenblick der Katastrophe gewacht hatte, und der es augenscheinlich besser ging.

Als dieses abgetan war, hielt ihn nichts mehr in Valpinson zurück.

Sorgsam verwahrte er die Schrotkörner, die er aus den Wunden des Grafen gezogen, in seinem Besteck; dann sagte er, Frau von Claudieuse bis an die Schwelle der elenden Hütte ziehend:

»Eh' ich mich entferne, gnädige Frau, liegt mir daran, Sie zu fragen, was Sie von den Ereignissen dieser Nacht denken?«

Bleich wie eine Tote, schien das unglückliche Weib sich nur durch ein Wunder von Willenskraft aufrecht zu halten. Nichts an ihr war lebendig, ausgenommen ihre Augen, die in einem außerordentlichen Glanz leuchteten.

»Ach – was weiß ich, mein Herr«, antwortete sie mit schwacher Stimme.

»Sie haben aber doch Cocoleu befragt?«

»Wen hätte ich nicht befragt, um die Wahrheit zu entdecken!«

»Und der Name, den er aussprach, versetzte Sie nicht in Erstarrung?«

»Sie haben es sehen müssen, mein Herr!«

»Ich habe es gesehen, und darum beharre ich darauf, Ihre Ansicht über Cocoleus Geistesbeschaffenheit zu erfahren.«

»Der Unglückliche ist schwachsinnig, mein Herr, wissen Sie das nicht?«

»Ich weiß es, und darum setzte Ihre Beharrlichkeit, ihn zum Sprechen zu bringen, mich in Erstaunen. Sie mußten doch annehmen, daß ihm zuweilen, trotz seiner gewöhnlichen Einfalt, ein Schimmer von Vernunft auftauchte?«

»Er hatte soeben meine Kinder den Flammen entrissen . . .«

»Das beweist seine Anhänglichkeit für Sie.«

»Er hängt in der Tat an mir wie ein armes Tier, das ich aufgenommen und für das ich Sorge getragen.«

»Gut . . . Seine Handlung bekundet vielleicht etwas mehr als nur tierischen Instinkt.«

»Das ist möglich. Es ist mir vorgekommen, daß ich in Cocoleu hin und wieder einen geistigen Lichtstrahl bemerkte.«

Der Doktor hatte seine goldene Brille abgenommen und putzte sie voll Wut.

»Es ist sehr zu bedauern«, brummte er, »daß ein solcher geistiger Strahl ihm nicht leuchtete, als er Herrn von Boiscoran das Feuer anzünden und sich zum Mordanschlag auf den Herrn von Claudieuse anschicken sah!«

Frau von Claudieuse tat, als sei sie dem Umsinken nahe, und stützte sich auf den Türgriff.

»Gewiß«, sagte sie, »war es gerade die Aufregung, die ihn beim Anblick der Flammen und beim Hören der Schüsse überfiel, was seine Vernunft erweckte.«

»Möglich«, sagte der Doktor, »möglich!« Und seine Brille wieder aufsetzend, fügte er hinzu: »Das werden Leute der Wissenschaft entscheiden, deren Untersuchung dieser Kretin zu unterwerfen ist.«

»Wieso? Man wird ihn untersuchen?«

»Und zwar auf das genaueste, gnädige Frau, ich verspreche es Ihnen, womit ich die Ehre habe, mich zu empfehlen. Denn heute abend komme ich wieder, wenn es Ihnen nicht möglich ist, sich im Laufe des Tages in Sauveterre einzurichten, was sehr wünschenswert wäre, erstens für mich, dann für Ihren Mann und für Ihre Tochter, die in diesem Loch sehr schlecht untergebracht sind.«

Nach diesen Worten lüftete der Doktor leicht seinen breitrandigen Hut und kehrte nach Sauveterre zurück. Kaum hier angelangt, ging er geradewegs zu Herrn Sénéchal, um in gebieterischem Ton Cocoleus Verhaftung zu fordern. Unglücklicherweise hatten die Gendarmen vergeblich nach diesem geforscht, und Herr Seignebos, der wohl sah, welch mißliche Wendung Jacques Sache annahm, fing an, in die peinlichste Ungeduld zu geraten, als noch am Abend um zehn Uhr Herr Sénéchal bei ihm eintrat und ihm entgegenrief: »Cocoleu ist aufgefunden!«


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