Emile Gaboriau
Der Strick um den Hals
Emile Gaboriau

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40

Endlich sah Jacques von Boiscoran in der Tiefe seines Kerkers den Tag sich nahen, welcher über sein Geschick entscheiden sollte.

Er sollte gerichtet werden!

Die Gelegenheit war zu kostbar, als daß die ›Indépendance de Sauveterre‹ sie sich hätte entgehen lassen. Sonst nur am Morgen erscheinend, veröffentlichte er diesmal »angesichts des Ernstes der Umstände« eine Abendausgabe, welche bis Mitternacht in den Straßen von einem Dutzend Gassenjungen ausgerufen wurde. Der Inhalt war folgender:

Schwurgericht zu Sauveterre.
Sitzung: Donnerstag, 23. . . .
Vorsitzender: Herr Domini.
Mord – Brandstiftung.
(Sonderbericht der »Indépendance«.)

. . . Warum in unserer sonst so stillen Stadt diese ungewöhnliche Bewegung, dieser Tumult, diese Erregung? . . . Warum diese Ansammlungen auf unsern öffentlichen Plätzen, diese Gruppen vor den Häusern? . . . Warum auf allen Gesichtern Unruhe, in allen Augen Bangigkeit? . . .

Es geschieht, weil heute der Tag gekommen ist, da vor dem Gerichtshofe jene düstere Geschichte von Valpinson erscheint, welche seit Wochen unsere Bevölkerung bewegt . . . Es geschieht, weil heute der Mann, der dieses großen Verbrechens angeklagt ist, gerichtet wird.

Lange vor Eröffnung der Sitzung ist alles übervoll. Es könnte keine Nadel zu Boden fallen. Nicht ein Zoll Raum ist unbesetzt. Rings die Wände entlang drängen sich stehend die Männer. Auf beiden Seiten der Estrade haben auf reservierten Stühlen zahlreiche Damen der Gesellschaft aus Sauveterre und Umgegend, ja sogar aus benachbarten Städten Platz genommen. Einige erscheinen in wahrhaft entzückender Garderobe.

Tausend Sachdarstellungen zirkulieren, tausend Vermutungen, tausend Unterstellungen, die mitzuteilen wir uns hüten . . . Wozu auch?

Sagen wir vor allem, daß der Angeklagte von dem ihm zustehenden Rechte, eine gewisse Anzahl Geschworene zurückzuweisen, keinen Gebrauch gemacht, sondern alle Namen angenommen hat, die aus der Urne gezogen wurden und die der öffentliche Ankläger nicht ablehnte. Ein Anwalt, der zu unsern Freunden gehört, teilte uns diese Besonderheit mit, und gerade als er damit endete, erhob sich an der Haupttür ein großes Geräusch, gefolgt von einem heftigen Rücken der Stühle und unterdrückten Ausrufen. Soeben trat die Familie des Angeklagten ein und nahm Besitz von reservierten Plätzen ganz nahe an den Schranken. Der Marquis von Boiscoran führte Fräulein von Chandoré, die dunkelgraue Kleidung von ausgesuchter Eleganz trug. Herr Baron von Chandoré stützte die Frau Marquise von Boiscoran.

Bald aber gibt man es auf, sich mit ihnen zu beschäftigen. Die ganze Aufmerksamkeit wird durch einen inmitten des Gerichtssaals aufgestellten Tisch angezogen, auf welchem sich eine Anzahl Gegenstände befinden, die man noch nicht sehen kann, weil sie mit einem großen roten Tuch bedeckt sind . . . Es sind die Beweisstücke.

Indessen schlägt es elf Uhr. Die Diener des Palastes gehen umher und halten eine letzte Überschau. Links öffnet sich eine kleine Tür, durch welche die Verteidiger eintreten. Unsere Leser kennen sie. Der eine ist Herr Magloire-Mergis, die Koryphäe unserer Anwaltschaft, der andere ein Anwalt aus der Hauptstadt, Herr Folgat, noch jung und schon berühmt.

Herr Magloire sieht heiter aus und knüpft ein lächelndes Gespräch mit dem Bürgermeister von Sauveterre, Herrn Sénéchal, an, während Herr Folgat seine Mappe öffnet und seine Schriftstücke durchsieht.

Elf und ein halb Uhr. Ein Gerichtsdiener kündigt den Gerichtshof an.

Herr Domini nimmt auf dem Präsidentensessel Platz. Herr Du Lopt de la Gransière begibt sich zum Stuhle des öffentlichen Anklägers.

Hinter ihnen ordnen sich schweigend und ernst die Herren Geschworenen.

Plötzlich großer Tumult. Jeder erhebt sich, jeder regt sich und stellt sich auf die Fußspitzen. Im Hintergrunde steigen einige sogar auf ihre Stühle.

Der Präsident gibt Befehl, den Angeklagten hereinzuführen.

Dieser erscheint. . . Er ist ganz schwarz und mit seltener Eleganz gekleidet. Es wird besonders beachtet, daß er an seinem Knopfloch das rote Band der Ehrenlegion trägt . . . Er ist blaß, aber sein Blick ist frei und klar, sicher, ohne Trotz. Seine Haltung ist traurig, aber mutvoll.

Kaum hat er sich niedergelassen, als einer der Beisitzenden drei Reihen Stühle durchbricht und trotz der Gerichtsdiener ihm die Hand drückt. Es ist der Doktor Seignebos.

Der Präsident befiehlt den Gerichtsdienern, Ruhe herzustellen, und nachdem er noch daran erinnert hat, daß alle Zeichen des Beifalls oder Mißfallens streng untersagt seien, wendet er sich an den Angeklagten:

»Nennen Sie mir Ihren Vornamen, Ihren Namen, Ihr Alter, Ihren Stand, Ihren Wohnsitz . . .«

Der Angeklagte erwidert: »Louis Trivulce Jacques von Boiscoran, siebenundzwanzig Jahre alt, Gutsbesitzer, wohnhaft zu Boiscoran, Bezirk Sauveterre.«

»Setzen Sie sich und hören Sie die Darlegung des Tatbestandes, dessen Sie angeklagt sind.«

Der Gerichtsschreiber Méchinet hatte die Anklageakte vorzulesen, deren schreckliche Einfachheit die Zuhörerschaft durchschauerte.

Wir verzichten darauf, sie hier mitzuteilen, da alle Einzelheiten unsern Lesern nur zu wohl bekannt sind.

 

Vernehmung des Angeklagten

Präsident: »Angeklagter, erheben Sie sich und antworten Sie mit Bestimmtheit! Sie haben während der Untersuchung abgelehnt, auf eine Menge Fragen Antwort zu geben. Hier aber ist es nötig, daß Licht werde, und ich darf Ihnen sagen, daß es in Ihrem Interesse liegt, offen zu sein.«

Angeklagter: »Niemand kann mehr als ich wünschen, daß die Wahrheit bekanntwerde. Ich bin bereit zu antworten.«

Präsident: »Warum verweigerten Sie Ihre Antworten während der Untersuchung?«

Angeklagter: »Ich hielt es für in meinem Interesse liegend, erst an dieser Stelle zu antworten.«

Präsident: »Sie haben jedenfalls vernommen, welcher Verbrechen Sie beschuldigt sind?«

Angeklagter: »Ich bin unschuldig . . . Und vor allem, Herr Präsident, gestatten Sie mir eine Bemerkung. Das Verbrechen von Valpinson ist abscheulich, feig, gemein . . . aber es ist zugleich auch so albern und dumm, daß es mir scheint, als habe es ein Schwachsinniger oder ein Verrückter verübt. Mir aber hat man niemals einen gewissen Verstand streitig gemacht . . .«

Präsident: »Das gehört zur späteren Erörterung . . .«

Angeklagter: »Indessen, Herr Präsident . . .«

Präsident: »Später haben Sie die volle Freiheit, Ihre Gründe geltend zu machen. Für den Augenblick beschränken Sie sich darauf, die Fragen zu beantworten, die ich an Sie richte.«

Angeklagter: »Ich füge mich, mein Herr.«

Präsident: »Wollten Sie sich nicht in nächster Zeit vermählen?«

Bei dieser Frage wendeten sich alle Blicke nach Fräulein von Chandoré, die tief errötete, ohne jedoch die Augen niederzuschlagen.

Angeklagter, mit leiser Stimme: »Ja.«

Präsident: »Haben Sie am Abend des Verbrechens, nur wenige Stunden ehe es geschah, an Ihre Braut geschrieben?«

Angeklagter: »Ja, mein Herr, und ich habe meinen Brief durch Michel, den Sohn meines Pächters, zu ihr tragen lassen.«

Präsident: »Was teilten Sie ihr mit?«

Angeklagter: »Daß eine wichtige Angelegenheit mich verhindere, den Abend bei ihr zuzubringen.«

Präsident: »Worin bestand diese Angelegenheit?«

In dem Augenblicke, da der Angeklagte den Mund zum Sprechen öffnet, hält ihn der Präsident mit einer Gebärde auf.

Präsident: »Sehen Sie sich vor!. . . Diese Frage ist Ihnen während der Untersuchung vorgelegt worden, und Sie haben geantwortet, daß Sie in Bréchy gewesen seien, um Ihren Holzhändler zu sprechen.«

Angeklagter: »Dies habe ich im ersten Moment erklärt . . . es ist aber nicht richtig.«

Präsident: »Warum haben Sie eine Unwahrheit gesagt?«

Angeklagter, mit einer Bewegung des Zornes, die niemandem entgeht: »Ich konnte nicht an die Gefahr meiner Lage glauben. Ich vermochte nicht anzunehmen, daß ich durch die Staatsanwaltschaft ernstlich bloßgestellt werden könne, während sie mich nun doch auf diese Bank gebracht hat . . . und in jenem Zweifel am völligen Ernste sah ich die Notwendigkeit nicht ein, die Geheimnisse meiner Privatangelegenheiten preiszugeben.«

Präsident: »Sie haben aber nicht gesäumt, die Gefahr Ihrer Lage zu erkennen.«

Angeklagter: »Allerdings.«

Präsident: »Warum haben Sie dann später nicht die Wahrheit gesagt?«

Angeklagter: »Weil der Beamte, welcher mit der Untersuchung beauftragt war, früher auf einem zu vertraulichen Fuße mit mir stand, als daß er mir volles Vertrauen hätte einflößen können.«

Präsident: »Erklären Sie sich deutlicher.«

Angeklagter: »Ich bitte Sie um die Erlaubnis, darüber schweigen zu dürfen, Herr Präsident. Es würde mir möglicherweise an Mäßigung fehlen, wenn ich von Herrn Galpin-Daveline spräche.«

Ein dumpfes Gemurmel im Zuhörerraume bekräftigte diese Erwiderung Jacques'.

Präsident: »Dieses Gemurmel ist nicht statthaft. Ich ermahne die Zuhörerschaft an die Achtung vor der Justiz.«

Der Oberstaatsanwalt Du Lopt de la Gransière, sich erhebend:

»Wir werden diese Gegenbeschuldigungen gegen einen Beamten, welcher nobel gehandelt und, soviel es ihn auch gekostet hat, seine Pflicht erfüllte, nicht dulden. Wenn der Angeklagte gegen den Untersuchungsrichter Gründe gesetzmäßigen Verdachts hatte, warum machte er sie früher nicht geltend? . . . Er kann keine Unwissenheit für sich anführen, er kannte das Gesetz, und er wird verteidigt. Seine Verteidiger sind erfahrene Männer.«

Anwalt Magloire, von seinem Platze: »Wir sind allerdings der Ansicht gewesen, daß Herr von Boiscoran dem Gerichtshofe einen Antrag auf Aufschub des Prozesses einreichen solle. Er hat es indes abgelehnt, unsern Rat zu befolgen, indem er, wie er uns sagte, auf die Gerechtigkeit seiner Sache vertraute.«

Du Lopt de la Gransiére, sich niedersetzend: »Die Herren Geschworenen werden dieses System richtig einzuschätzen wissen.«

Präsident, gegen den Angeklagten: »Sind Sie nun gesonnen, die Wahrheit über jene Angelegenheit zu sagen, welche Sie abhielt, den Abend bei Ihrer Braut zuzubringen?«

Angeklagter: »Ja, mein Herr; meine Vermählung sollte in der Kirche zu Bréchy stattfinden, und ich hatte mich mit dem Pfarrer über die Einzelheiten der Zeremonie zu verständigen. Außerdem hatte ich religiöse Pflichten zu erfüllen. Der Herr Pfarrer von Bréchy, der mein Freund ist, wird Ihnen sagen, daß ich im Einverständnis mit ihm an einem beliebigen Abende der Woche ihm beichten sollte.«

Die Versammelten hatten eine aufregende Mitteilung erwartet und schienen nun sehr enttäuscht, es wurde spöttisches Lachen von verschiedenen Seiten hörbar.

Präsident, mit strenger Stimme: »Diese Verhöhnungen sind zweideutig und gehässig. Gerichtsdiener, entfernen Sie die Personen, welche sich zu lachen erlauben! Und ein letztes Mal bemerke ich, daß bei der ersten Äußerung im Zuhörerraum der Saal geräumt werden wird.«

Präsident, zum Angeklagten: »Fahren Sie fort.«

Angeklagter: »Ich wollte mich also am Abend des Verbrechens zum Pfarrer von Bréchy begeben. Unglücklicherweise war in der Pfarre bei meinem Eintreffen niemand anwesend. Ich klingelte vergeblich drei- oder viermal, als ein kleines Bauernmädchen vorüberging, das mir sagte, es sei dem Pfarrer nahe am Carrefour des Maréchaux begegnet. In der Meinung, ihn zu treffen, machte ich mich sofort dahin auf den Weg, aber vergebens ging ich bis zu dessen Ende, und indem ich annehmen mußte, daß das kleine Mädchen entweder mich oder sich selbst getäuscht hatte, kehrte ich nach Hause zurück.«

Präsident: »Ist dies Ihre Erklärung?«

Angeklagter: »Ja.«

Präsident: »Und finden Sie dieselbe wahrscheinlich?«

Angeklagter: »Ich habe mich nicht verpflichtet, etwas Wahrscheinliches, sondern nur die Wahrheit zu sagen, und ich kann überdies hinzufügen, daß gerade weil die Erklärung so sehr einfach ist, ich früher zögerte, sie zu geben, nachdem ich mich nicht gleich anfangs getrieben gefühlt hatte, alles zu sagen. Und dennoch würde ohne das Vorkommen eines Verbrechens jedermann es ganz natürlich gefunden haben, wenn ich am andern Morgen gesagt hätte: »Ich bin gestern abend in Bréchy gewesen, um den Pfarrer zu sprechen, habe ihn aber nicht angetroffen.«

Präsident: »Und um eine so natürliche Verpflichtung zu erledigen, schlugen Sie an jenem Abend einen so abgelegenen, schwierigen, ja fast gefahrvollen Weg ein, durch die Sümpfe?«

Angeklagter: »Ich wählte eben den kürzesten Weg.«

Präsident: »Warum aber dann Ihr Erschrecken, als Sie dem jungen Ribot an der Krümmung der Seille begegneten?«

Angeklagter: »Ich war nicht erschrocken, sondern überrascht, wie man es stets ist, wenn man jemanden da trifft, wo man niemanden zu finden glaubt. Und wenn ich überrascht war, so war es Ribot nicht weniger als ich.«

Präsident: »Sie geben also zu, daß Sie hofften, niemandem zu begegnen?«

Angeklagter: »Um Vergebung, mein Herr, ich habe nichts Derartiges gesagt. Annehmen oder Voraussetzen ist nicht Hoffen.«

Präsident: »Warum versuchten Sie aber in diesem Falle Ihre Anwesenheit an der abgelegenen Stelle zu erklären?«

Angeklagter: »Ich habe keine Erklärungen gegeben. Der junge Ribot fing zuerst an, indem er lachend sagte, wo er hingehe, und ich habe ihm erwidert, daß ich nach Bréchy wolle.«

Präsident: »Ebenso aber sagten Sie ihm, Sie seien nach den Sümpfen gekommen, um Wasservögel zu schießen. Gleichzeitig zeigten Sie ihm Ihr Gewehr.«

Angeklagter: »Das ist wohl möglich. Aber ist dies denn ein Beweis gegen mich? Ich glaube ganz das Gegenteil. Wenn ich verbrecherische Absichten hatte, wie die Anklage mir unterstellt, und ich sah mich ertappt, das heißt in großer Gefahr, entdeckt zu werden, so würde ich umgekehrt und nach Hause gegangen sein . . . Ich aber ging zu meinem Freund, dem Pfarrer.«

Präsident: »Und zu diesem Besuche nahmen Sie ein Gewehr mit?«

Angeklagter: »Mein Grundbesitz liegt zwischen dem Wald und den Sümpfen, und es vergeht kein Tag, ohne daß ich die Gelegenheit wahrnähme, ein Kaninchen oder einen Wasservogel zu erlegen. Alle Landleute werden bestätigen, daß ich nie ohne mein Gewehr ausgehe.«

Präsident: »Warum gingen Sie dann, um nach Hause zu kommen, durch den Wald von Rochepommier?«

Angeklagter: »Weil dies von der Richtung her, in welcher ich mich befand, wahrscheinlich der kürzeste Weg nach Boiscoran ist. Ich sage: wahrscheinlich, weil dies im Augenblick für mich nicht Gegenstand näherer Erwägungen ist. Ein Mensch, welcher spazierengeht, würde neunmal unter zehn Malen in Verlegenheit kommen, wenn man ihn nach dem Grunde fragt, warum er diesen oder jenen Weg eingeschlagen habe.«

Präsident: »Sie wurden im Walde von einem Holzhauer namens Gaudry gesehen.«

Angeklagter: »Dies sagte mir der Untersuchungsrichter.«

Präsident: »Dieser Zeuge bekundete, daß Sie in heftiger Aufregung gewesen seien. Sie rissen Zweige ab, sprachen sehr laut . . .«

Angeklagter: »Gewiß war ich sehr verdrießlich darüber, nutzlos einen Abend verloren zu haben, vor allem auch darüber, daß mich das kleine Mädchen getäuscht hatte, und es ist sehr möglich, daß mir im Gehen Worte entschlüpft sind, wie zum Beispiel: ›Hole der Geier meinen Freund, den Pfarrer, der nach der Stadt speisen geht!‹ oder etwas Ähnliches.«

Man lächelt im Zuhörerraum, aber nicht so offen, daß der Präsident Anlaß zu einer Zurechtweisung gehabt hätte.

Präsident: »Es ist Ihnen also bekannt gewesen, daß der Herr Pfarrer von Bréchy am Abend des Verbrechens auswärts speiste?«

Anwalt Magloire sich erhebend: »Durch uns, Herr Präsident, kennt Herr von Boiscoran diesen Umstand. Nachdem er uns mitgeteilt hatte, wo er an jenem Abend gewesen sei, haben wir uns zu dem Herrn Pfarrer von Bréchy begeben, und er hat uns erklärt, wie es kam, daß weder er noch seine alte Haushälterin anwesend war. Der Herr Pfarrer von Bréchy ist auf unsern Antrag vorgeladen. Ebenso sind wir unterrichtet worden, daß ein anderer Geistlicher zu derselben Stunde nahe am Carrefour des Maréchaux vorüberkam und daß es dieser war, welchen das kleine Bauernmädchen sah.«

Nachdem der Präsident dem Verteidiger ein Zeichen gab, daß er sich niederlassen möge, wendete er sich aufs neue an den Angeklagten.

Präsident: »Die Frau Courtois, welche Ihnen begegnet ist, hat erklärt, daß Sie ganz ungewöhnlich ausgesehen und nicht gesprochen, sondern Eile gehabt hätten, sie zu verlassen.«

Angeklagter: »Die Nacht war viel zu finster, als daß diese Frau meinen Gesichtsausdruck hätte sehen können. Sie bat mich um einen leichten Dienst, und ich habe ihn erwiesen. Ich habe nicht zu ihr gesprochen, weil ich ihr nichts mitzuteilen hatte. Ich habe sie auch nicht plötzlich verlassen, sondern ließ sie nur zurück, weil ihr Esel sehr langsam ging.«

Auf ein Zeichen des Präsidenten nehmen die Gerichtsdiener die Decke vom Tische mit den Beweisstücken. Eine lebhafte Neugier bekundet sich ringsum, man steht auf und reckt den Hals, um besser sehen zu können. Auf dem Tische sind Kleider ausgebreitet, eine Hose von hellgrauem Samt, ein kurzer Rock von kastanienbraunem Samt, ein alter Strohhut und falblederne Stiefel. Zur Seite liegt eine Doppelflinte, daneben befinden sich Patronenschachteln, zwei Schalen voll Schrot und endlich ein großes englisches Fayencebecken, auf dessen Boden man etwas wie schwärzlichen Schmutz bemerkt.

Präsident, dem Angeklagten die Kleidungsstücke zeigend: »Sind dies die Kleider, die Sie am Abend des Verbrechens trugen?«

Angeklagter: »Ja, mein Herr.«

Präsident: »Ein seltsamer Anzug, um einem würdigen Geistlichen einen Besuch zu machen und ernste religiöse Pflichten zu erfüllen.«

Angeklagter: »Der Pfarrer von Bréchy war, wie ich schon bemerkte, mein Freund. Unsere Vertraulichkeit erklärt dieses Sichgehenlassen, wenn sie es nicht rechtfertigt.«

Präsident: »Erkennen Sie ebenso dies Waschbecken wieder? Man hat das Wasser mit der größten Behutsamkeit verdampfen lassen, nur der Rückstand ist auf dem Boden geblieben.«

Angeklagter: »Es ist richtig, daß der Untersuchungsrichter dieses Becken mit schwärzlichem Wasser gefüllt bei mir vorfand. Ich hatte keinen Grund, ihm nicht zu gestehen, daß ich mir nach meiner Heimkehr die Hände gewaschen habe. Ist es nicht ganz einleuchtend, daß, wenn ich der Täter gewesen wäre, es mein erstes Bestreben gewesen wäre, die Spuren meines Verbrechens zu beseitigen? . . . Dennoch wurde dieser Umstand als ein überzeugender Beweis meiner Schuld angesehen und ist heute die stärkste Belastung, welche die Anklage gegen mich aufzubringen vermocht hat.«

Präsident: »Es ist in der Tat eine starke Belastung.«

Angeklagter: »Nun, mir ist nichts leichter, als diesen Umstand zu erklären . . . Ich bin Raucher. Als ich am Abend des Verbrechens von meinem Hause wegging, hatte ich mich zwar mit Zigarren versehen, aber als ich mir unterwegs eine davon anzünden wollte, bemerkte ich, daß ich keine Zündhölzer bei mir trug.«

Anwalt Magloire erhebt sich: »Und ich weise darauf hin, daß dies nicht etwa eine nachträglich erfundene Erklärung für das Bedürfnis einer zweifelhaften Sache ist. Sie verlangen den Beweis? Wir haben ihn, bündig und unumstößlich. Wenn Herr von Boiscoran nicht das Streichholzetui bei sich hatte, das er gewöhnlich trug, so kam dies daher, daß er es am Abend zuvor bei Herrn von Chandoré zurückgelassen, wo es blieb, wo ich es gesehen habe und wo es sich noch befindet . . .»

Präsident: »Es genügt, Herr Magloire. Lassen Sie den Angeklagten fortfahren.«

Angeklagter: »Wenn ich also rauchen wollte, mußte ich jenes Hilfsmittel anwenden, welches alle Jäger in ähnlichen Fällen gebrauchen. Ich nahm eine meiner Patronen, ersetzte die Bleiladung durch ein Stück Papier und schoß dieses in Brand.«

Präsident: »Auf diese Weise erhält man Feuer?«

Angeklagter: »Nicht jedesmal, aber gewiß einmal unter dreien.«

Präsident: »Und bei dieser Prozedur schwärzt man sich die Hände?«

Angeklagter: »Bei der Ausführung selbst nicht, aber konnte ich, sobald ich meine Zigarre in Brand gesetzt, das benutzte Papier brennend fortwerfen? Ich hätte möglicherweise einen Brand entzündet.«

Präsident: »In den Sümpfen?«

Angeklagter: »Aber, mein Herr, ich habe während des Abends fünf oder sechs Zigarren geraucht, das heißt also, ich habe acht bis zehn Patronen an verschiedenen Stellen, auf freier Straße und selbst im Walde verwendet. Und jedesmal habe ich das brennende Papier zwischen meinen Fingern zerdrückt, was in Verbindung mit dem Pulverrückstand ausreicht, sich die Hände wie ein Kohlenbrenner schwarz zu machen.«

Die Einfachheit und eine gewisse Wärme des Tones, womit diese Erklärung vorgetragen wird, scheinen auf die Zuhörer einen überwältigenden Eindruck zu machen.

Präsident: »Wir kommen nun zu Ihrem Gewehr. Erkennen Sie das vorliegende als dieses an?«

Angeklagter: »Ja, Herr Präsident. Ist es mir gestattet, es in die Hand zu nehmen?«

Präsident: »Tun Sie es.«

Mit einer fieberhaften Bewegung bemächtigt sich der Angeklagte der Waffe, läßt die Hähne schnappen und führt seinen Finger in die Läufe ein. Er wird sehr rot und flüstert, zu seinen Verteidigern hingebeugt, diesen einige Worte zu, die von anderen nicht verstanden werden.

Präsident: »Was gibt es?«

Magloire, sich erhebend: »Es zeigt sich ein Umstand, welcher die Schuldlosigkeit des Herrn von Boiscoran ans Licht stellen dürfte. Durch einen glücklichen Zufall hatte sein Diener Antoine zwei Tage vor dem des Verbrechens das Gewehr gereinigt, und der eine Lauf ist noch heute sauber. Es kann demnach nicht Herr von Boiscoran gewesen sein, der zwei Schüsse abgefeuert hat, welche Herrn von Claudieuse getroffen haben.«

Während dieser Zeit ist der Angeklagte an den Tisch mit den Beweisstücken herangetreten. Er wickelt sein Taschentuch um den Ladestock des Gewehrs, wischt damit in einem der Läufe, zieht es wieder heraus und zeigt, daß es kaum geschwärzt ist.

Die heftigste Aufregung erfaßt die atemlose Zuhörerschaft.

Präsident, zum Angeklagten: »Wiederholen Sie diese Probe mit dem andern Laufe.«

Der Angeklagte gehorcht. Sein Taschentuch bleibt weiß.

Präsident: »Sehen Sie! Und dennoch wollen Sie uns sagen, daß Sie, um Ihre Zigarren anzuzünden, acht bis zehn Patronen abgebrannt haben. Aber die Anklage hatte Ihren Einwand vorausgesehen und befindet sich in der Lage, Ihnen darauf zu erwidern . . . Gerichtsdiener, lassen Sie den Zeugen Maucroy eintreten!«

Alle unsere Leser kennen diesen Zeugen, dessen schöne Waffen-, Jagd- und Fischereigeräte-Handlung einer der Zierden unseres Neumarktes bildet.

Präsident: »Wiederholen Sie Ihre Aussage in bezug auf das vorliegende Gewehr.«

Zeuge: »Es ist eine ausgezeichnete Waffe von großem Wert, wie sie in Frankreich nicht mehr gefertigt werden, weil man sich bei uns viel zu sehr von dem Wohlfeilen einnehmen läßt.«

Bei dieser Antwort ertönt Lachen durch den ganzen Saal. Herr Maucroy steht nicht gerade in dem Rufe, seine Ware zu verschenken. Selbst einige Geschworene haben Mühe, ernst zu bleiben.

Präsident: »Ersparen Sie uns Ihre Betrachtungen und teilen Sie uns lediglich mit, was Sie von den Eigenschaften dieses Gewehrs wissen.«

Zeuge: »Gut. Also, dank einer besonderen Beschaffenheit der Patronenhülse und ebenso dank der besonderen Eigenschaft der Treibladung werden die Läufe dieses Gewehrs beim Schießen fast gar nicht verunreinigt.«

Angeklagter, lebhaft: »Sie täuschen sich, mein Herr. Ich selbst habe mein Gewehr mehrmals gereinigt und im Gegenteil die Läufe sehr schmutzig gefunden.«

Zeuge: »Weil Sie dann dasselbe viel gebraucht hatten. Ich behaupte aber, daß man eine oder zwei Patronen abfeuern kann, ohne daß die Läufe Spuren davon zeigen.«

Angeklagter: »Das bestreite ich in aller Form.«

Präsident, zum Zeugen: »Und wenn man acht oder zehn Patronen abfeuert?«

Zeuge: »Oh, dann werden die Läufe stark verunreinigt.«

Präsident: »Untersuchen Sie die Läufe und sagen Sie uns Ihre Meinung.«

Zeuge, nach genauester Prüfung: »Ich erkläre, daß seit der letzten Reinigung keine zwei Patronen abgefeuert worden sind.«

Präsident, zum Angeklagten: »Wohlan, wie ist es mit den zehn Patronen, die Sie abfeuerten, um Ihre Zigarren anzuzünden und womit Sie sich die Hände so sehr schwärzten?«

Der Angeklagte, welcher seit dem Beginn der Verhandlung bewunderungswürdige Beweise von Kaltblütigkeit und seltener Entschlossenheit gegeben hat, erbleicht sichtlich und erwidert nichts.

Magloire: »Die Frage ist viel zu ernst, als daß man sie der Meinung eines einzigen Zeugen anvertrauen könnte.«

Der Oberstaatsanwalt: »Wir suchen nichts als die Wahrheit. Ein Versuch ist leicht gemacht.«

Zeuge: »Oh, gewiß.«

Präsident: »Machen Sie ihn.«

Der Zeuge steckt eine Patrone in jeden Lauf und feuert sie durch das hinter den Schranken hegende Fenster ab. Das Krachen der Schüsse entreißt mehreren Damen einen Schrei des Schreckens.

Der Zeuge stößt in die Läufe und zeigt, daß sie nicht schmutziger sind als vor dem Versuch: »Nun, hatte ich recht?«

Präsident zum Angeklagten: »Sie sehen, daß dieser von Ihnen als so bedeutend vorgebrachte Umstand, weit entfernt, Ihnen günstig zu sein, darlegt daß Sie uns eine unwahre Erklärung des Zustandes Ihrer Hände gegeben haben.«

Auf Anordnung des Präsidenten zieht der Zeuge sich zurück, und das Verhör des Angeklagten wird fortgesetzt.

Präsident: »Welches waren Ihre Beziehungen zu Herrn von Claudieuse?«

Angeklagter: »Wir hatten gar keine.«

Präsident: »Bitte um Entschuldigung! Es ist weit und breit bekannt, daß Sie ihn haßten.«

Angeklagter: »Das ist ein Irrtum. Ich versichere es bei meiner Ehre, daß ich ihn für den besten und ehrenhaftesten Mann halte.«

Präsident: »In diesem Punkte wenigstens gehen Sie mit allen einig, die ihn kennen. Sie hatten indes mit ihm einen Prozeß . . .«

Angeklagter: »Mein Onkel hat mir mit seinem Vermögen auch diesen Prozeß vererbt. Ich setzte ihn fort, aber ohne Leidenschaft. Ich verlangte nichts als einen Vergleich . . .«

Präsident: »Und da Herr von Claudieuse ihn zurückwies, wollten Sie ihn tot haben.«

Angeklagter: »Nein.«

Präsident: »Sie wollten es bis zu dem Punkte, da Sie einmal auf ihn anlegten; bis zu dem Punkte, da Sie ein anderes Mal äußerten: ›Er wird mich nicht eher in Frieden lassen, bis ich ihm eine Kugel durch den Kopf gejagt habe.‹ . . . Leugnen Sie nicht! Sie können Zeugen darüber hören.«

Mit stolz erhobenem Haupt und festem Blicke nimmt der Angeklagte, nach Aufforderung des Präsidenten, seinen Platz wieder ein und knüpft in der ruhigsten Haltung mit seinen Verteidigern ein Gespräch an.

Unbestreitbar ist die öffentliche Meinung in diesem Augenblicke ihm günstig. Er hat sich die Teilnahme selbst derer gewonnen, die mit den stärksten Vorurteilen gekommen waren. Es ist niemand, der nicht ergriffen wurde von seiner zugleich so mutig stolzen und traurigen Haltung, niemand, der sich nicht angezogen fühlte durch die äußerste Einfachheit seiner Antworten.

Mag auch die Diskussion in Sachen des Gewehrs sich nicht zu seinen Gunsten gewendet haben, so hat sie ihm doch auch in keiner Weise geschadet. Die Frage der Verunreinigung der Gewehrläufe ist lebhaft bestritten.

Die Sitzung ist nicht eigentlich aufgehoben, aber es ist eine Pause geboten durch das Kommen und Gehen der Gerichtsdiener, welche wieder ein Tuch über die Beweisgegenstände breiten und dann einen Lehnsessel an den Fuß der Schranken rücken.

Endlich erscheint ein Gerichtsdiener, beugt sich zum Ohr des Präsidenten und spricht einen Augenblick zu ihm mit gedämpfter Stimme.

Der Präsident nickt mit dem Kopfe: »Ja.«

Der Gerichtsdiener entfernt sich.

Präsident: »Wir gehen nun zur Vernehmung der Zeugen über und beginnen mit Herrn von Claudieuse. Obschon sehr schwer krank, ist er doch bereit, vor Gericht zu erscheinen.«

Wir sehen bei den letzten Worten den Doktor Seignebos sich erheben, als ob er das Wort ergreifen wolle, aber einer seiner Freunde, der neben ihm sitzt, zieht ihn am Rockschoß zurück, und Herr Folgat macht ihm ein verständliches Zeichen, worauf er sich wieder setzt.

Präsident: »Gerichtsdiener, führen Sie den Herrn Grafen von Claudieuse herein!«

 

Zeugenvernehmung

Die kleine Tür, durch welche der Büchsenmacher Maucroy eingetreten war, tut sich von neuem auf, und der Graf von Claudieuse erscheint, gestützt, fast getragen von seinem Kammerdiener. Ein Gemurmel des Mitleids empfängt um. Seine Abgezehrtheit ist schaudererregend, seine Züge sind so entstellt, daß er aussieht, als wolle er eben seinen letzten Seufzer aushauchen. Alles in ihm noch übrige Leben scheint in seinen Augen sich zu befinden, die ungewöhnlich leuchten.

Mit schwacher Stimme leistet er den Eid. Aber die Stille ist so tief, daß auf die vom Präsidenten ausgesprochene Formel: »Schwören Sie, die ganze Wahrheit sagen zu wollen?« man bis zu den äußersten Winkeln des Saales deutlich die Antwort: »Ich schwöre es!« vernimmt.

Präsident, mit Güte: »Wir sind Ihnen dankbar, mein Herr, für die Anstrengung, der Sie sich unterziehen . . . Für Sie ist dieser Lehnsessel bereitgestellt worden; lassen Sie sich nieder.«

Graf von Claudieuse: »Ich danke Ihnen, mein Herr, es bleibt mir noch so viel Kraft, um stehend sprechen zu können.«

Präsident: »Wollen Sie uns sagen, mein Herr, was Sie über das Attentat wissen, dessen Opfer Sie geworden sind.«

Zeuge: »Es mochte elf Uhr sein . . . Ich hatte mich einen Augenblick zuvor niedergelegt, hatte mein Licht gelöscht und war im Begriff einzuschlafen, als sich mein Schlafzimmer mit blendender Helle erleuchtete. Sofort begreifend, daß dies Feuer sei, sprang ich aus meinem Bett und eilte, kaum bekleidet, nach der Treppe. Es kostete mich einige Mühe, die äußere Tür zu öffnen, die ich selbst verschlossen hatte . . . Indessen, es gelang mir. Kaum aber hatte ich den Fuß auf den Sandboden gesetzt, als ich in der rechten Seite einen Schmerz fühlte und fast im selben Augenblick dicht neben mir das Krachen eines Schusses vernahm . . . Instinktiv eilte ich der Stelle zu, von woher der Schuß fiel, aber ich hatte noch nicht drei Schritte gemacht, als ich, aufs neue in die Schulter getroffen, bewußtlos niederstürzte.«

Präsident: »Wieviel Zeit verging zwischen dem ersten und dem zweiten Schuß?«

Zeuge: »Höchstens drei oder vier Sekunden.«

Präsident: »Also ausreichend, um den Angreifer zu bemerken.«

Zeuge: »Und ich habe ihn auch bemerkt, wie er hinter dem Reisighaufen, wo er sich verborgen gehalten hatte, hervorsprang und entfloh.«

Präsident: »Dann können Sie uns sagen, wie er gekleidet war?«

Zeuge: »Gewiß. Er trug hellgraue Beinkleider, schwarzen Rock und einen breiten Strohhut.«

Auf eine Handbewegung des Präsidenten hin und unter tiefster Stille nehmen die Gerichtsdiener die Decke vom Tische mit den Beweisgegenständen.

Präsident, auf die Kleider des Angeklagten deutend: »Entsprach die von Ihnen bemerkte Kleidung dieser hier?«

Zeuge: »Notwendigerweise, denn es ist dieselbe.«

Präsident: »Dann haben Sie, mein Herr, wohl den Mörder selbst erkannt?«

Zeuge: »Die Flammen waren bereits so gewaltig, daß man sehen konnte wie am hellen Tage. Ich habe Herrn Jacques von Boiscoran erkannt.«

Es war in dem ganzen weiten Saale niemand mehr, der nicht mit dem Gefühl des unbeschreiblichsten Bangens diese niederschmetternde Antwort erwartet hätte. Wir selbst erwarteten sie so sicher, daß wir unsere Augen fest auf den Angeklagten gerichtet hielten.

Nicht ein Muskel seines Gesichts zuckte. Seine Verteidiger blieben ebenso gelassen wie er. Gleich wie wir, beobachteten der Herr Präsident und der Herr Oberstaatsanwalt den Angeklagten und seine Verteidiger. Erwarteten sie einen Protest, eine Entgegnung, ein Wort? Es ist wahrscheinlich.

Da nichts erfolgte, wendete sich der Herr Präsident wieder an den Zeugen.

Präsident: »Ihre Aussage ist von furchtbarer Tragweite.«

Zeuge: »Ich werde sie verantworten.«

Präsident: »Sie weicht ganz entschieden von Ihrer ersten Aussage vor dem Untersuchungsrichter ab.«

Zeuge: »Dies ist in der Tat der Fall.«

Präsident: »Wenige Stunden nach verübtem Verbrechen befragt, haben Sie erklärt, den Mörder nicht erkannt zu haben. Noch mehr, als der Name des Herrn von Boiscoran ausgesprochen wurde, schienen Sie empört, daß man es wagte, ihn zu verdächtigen, und wollten für seine Schuldlosigkeit fast die Bürgschaft übernehmen.«

Zeuge: »Damals sprach ich entgegen der Wahrheit. Damals versuchte ich, in einem leicht begreiflichen Gefühl des Mitleids, ein entehrendes Urteil von einem Manne abzuwenden, der einer hochangesehenen Familie angehört.«

Präsident: »Und heute?«

Zeuge: »Heute erkenne ich, daß ich unrecht gehandelt habe und daß die Gerechtigkeit ihren Lauf nehmen muß. Und heute komme ich, getroffen von einem Unheil, welches nie verziehen werden kann, und nahe daran, vor Gott zu erscheinen, um Ihnen zu sagen: Herr von Boiscoran ist schuldig, ich habe ihn erkannt.«

Präsident, zum Angeklagten: »Sie hören es?«

Angeklagter, sich erhebend: »Bei allem, was mir heilig und teuer in der Welt ist. schwöre ich, daß ich schuldlos bin. Der Herr Graf von Claudieuse wird, wie er sagt, bald vor Gott erscheinen, und es ist die göttliche Gerechtigkeit, die ich anrufe . . .«

Schluchzen erstickt die Stimme des Angeklagten. Die Frau Marquise wird von einem sehr schweren Nervenanfalle ergriffen. Man trägt sie kalt und leblos weg, gefolgt von Doktor Seignebos und Fräulein von Chandoré.

Angeklagter, zu Herrn von Claudieuse: »Es ist meine sterbende Mutter, mein Herr!«

Gewiß sind diejenigen, welche sensationelle Enthüllungen erwarteten, nicht enttäuscht worden. Alle Gesichter erscheinen bestürzt. Tränen schimmern in den Augen aller Frauen. Ist es uns erlaubt zu sagen, daß uns selbst der Herr Präsident und der Herr Oberstaatsanwalt einen Augenblick bestürzt erschienen? Aber schon fährt der Präsident fort.

Präsident: »Erst vor wenigen Augenblicken, Herr Graf, habe ich den Angeklagten befragt, ob zwischen Ihnen irgendein schwererer Grund zum Haß bestand.«

Zeuge, mit immer schwächer werdender Stimme: »Ich kenne keinen andern als unseren Prozeß wegen eines Wasserlaufes . . .«

Präsident: »Hat der Angeklagte Sie nicht eines Tages mit seinem Gewehr bedroht?«

Zeuge: »Ja, aber ich habe die Drohung nicht ernst genommen, und ich habe deswegen keinen Groll gegen ihn gehegt.«

Präsident: »Beharren Sie bei Ihrer Erklärung?«

Zeuge: »Ich beharre. Und abermals versichere ich auf meinen Eid, daß ich in einer Weise, die keine Täuschung zuließ, Herrn von Boiscoran erkannt habe.«

Es war Zeit, daß der Herr Graf von Claudieuse seine Aussage beendete. Er wankte, seine Augen umschleierten sich, sein Kopf zitterte auf seinen Schultern, und er bedurfte, um sich zu entfernen, der Unterstützung zweier Gerichtsdiener, welche mit Hilfe des Kammerdieners ihn mehr hinaustrugen als führten.

Würde die Frau von Claudieuse nach ihm auftreten? Wir dachten es, und die Anwesenden glaubten es mit uns. Aber es war nicht so. Zurückgehalten am Bett ihrer äußerst kranken jüngeren Tochter, ist die Gräfin nicht erschienen, und der Gerichtsschreiber verliest nur ihre Aussage. Diese enthält keine neuen Tatsachen und ist ohne Einfluß auf den Verlauf der Verhandlung.

Nunmehr wird der Zeuge Ribot hereingeführt. Er ist ein hübscher Bursche, ein wahrer Hahn des Dorfes, mit einer blau und roten Krawatte um den Hals, während eine glänzende Uhrkette aus der Hosentasche heraushängt. Er scheint stolz auf seine Rolle zu sein.

Mit einem sehr wichtigtuerischen Ausdruck schildert er sein Zusammentreffen mit dem Angeklagten. Er tut, als ob er alles wisse, alles erklären könne. Es fehlt wenig, daß er versichert, der Angeklagte habe ihm seine Mord- und Brandstiftungspläne anvertraut. Seine Antworten werden mit steigender Heiterkeit aufgenommen, welche der Zuhörerschaft eine neue Verwarnung des Präsidenten zuzieht.

Der Zeuge Gaudry, welcher ihm folgt, ist ein kleiner, elender, blasser Mensch mit tückischer Miene und falschem, scheuem Blick, der sich in Höflichkeiten erschöpft. Im Gegensatz zu Ribot scheint er alles vergessen zu haben. Man sieht ihm an, daß er sich bloßzustellen fürchtet. Er verehrt den Herrn von Claudieuse, nicht weniger aber Herrn von Boiscoran. Er beteuert ebenso seinen tiefen Respekt vor den lieben Richtern wie vor diesen Herren und Damen und vor der ganzen verehrten anwesenden Gesellschaft.

Die Frau Courtois, welche nach Gaudry aussagt, wünscht offenbar lieber hundert Klafter tief unter der Erde als hier zu sein. Nur mit unsäglichen Anstrengungen vermag der Präsident ihr Wort für Wort ihre Aussage zu entlocken, und diese ist völlig bedeutungslos.

Hierauf erscheinen zwei Pächter von Bréchy, welche dem heftigen Wortwechsel beigewohnt hatten, in dessen Folge Herr von Boiscoran auf den Grafen von Claudieuse das Gewehr anlegte. Ihr jeden Augenblick mit Abschweifungen versehener Bericht ist wenig klar. Sie versuchen es, nach einer Bemerkung der Verteidiger, deutlicher zu werden, und man versteht noch weniger, was sie sagen wollen.

Überdies widersprechen sie sich. Der eine hat in der Gebärde des Angeklagten nur einen Scherz gesehen, der andere sie dermaßen ernst genommen, daß er, wie er sagt, sich auf Herrn von Boiscoran geworfen habe, um diesen am Schießen zu hindern, und daß ohne sein Dazwischentreten das Verbrechen bereits an jenem Tage verübt worden wäre.

Der Angeklagte protestiert dagegen mit seltener Energie. Er habe den Herrn von Claudieuse nicht gehaßt und keinen Grund gehabt, ihn zu hassen.

Noch sechs weitere Aussagen ohne Interesse, und die Liste der Belastungszeugen ist zu Ende.

Es erscheinen nun die auf Antrag der Verteidigung bestellten Zeugen.

Der erste ist der würdige Pfarrer von Bréchy. Er bestätigt die von dem Angeklagten in bezug auf ihn gemachten Aussagen. Am Abend des Verbrechens speiste er im Schlosse von Bresson, seine Haushälterin war gekommen, um ihn abzuholen, und die Pfarrei war leer. Er sagt, es sei Tatsache, daß er mit Herrn von Boiscoran übereingekommen sei, daß dieser eines Abends komme, um seine religiösen Pflichten zu erfüllen. Er kennt Jacques von Boiscoran seit dessen Kindheit und hat nie einen ehrenhafteren und besseren Menschen gesehen. Seiner Meinung nach hat der vom Präsidenten erwähnte Haß nie bestanden. Er kann nicht glauben und glaubt nicht, daß der Angeklagte schuldig ist.

Der zweite Zeuge ist der Pfarrverweser einer benachbarten Gemeinde. Er erklärt, daß er am Abend des Verbrechens zwischen neun und zehn Uhr in der Nähe des Carrefour des Maréchaux unterwegs war. Die Nacht war sehr dunkel; er ist von derselben Gestalt wie der Pfarrer von Bréchy, es ist leicht möglich, daß ein kleines Landmädchen ihn mit diesem verwechseln und Herrn von Boiscoran täuschen konnte.

Nachdem noch drei weitere Zeugen gehört worden sind und weder der Angeklagte noch seine Verteidiger etwas hinzuzufügen haben, wird das Wort dem öffentlichen Ankläger erteilt.

 

Die Rede des Staatsanwalts

Die Beredsamkeit des Herrn Du Lopt de la Gransière ist zu Recht viel zu berühmt, als daß wir hier davon zu sprechen nötig hätten. Wir erwähnen nur, daß er sich in dieser Rede, die länger als eine Stunde währte, selbst übertraf und eine atemlose und von den stärksten Empfindungen bewegte Zuhörerschaft mit seinen Worten zu fesseln wußte.

Er begann mit einer Schilderung von Valpinson, »von diesem Daheim, poetisch und bezaubernd wie sein Name, wo der wundervolle Hochwald von Rochepommier sich mit dem Kristall der Seille vermählt«.

»Dort«, fuhr er fort, »lebten der Graf und die Gräfin von Claudieuse in der vollkommensten Harmonie. Der Himmel hatte ihre Verbindung gesegnet und ihnen zwei Töchter geschenkt, die sie anbeteten. Der Reichtum lächelte ihren geistvollen Bestrebungen. Geachtet, gefeiert, geliebt von allen, lebten sie glücklich und hatten das Recht, noch viele Jahre des Wohlbefindens zu erwarten . . .

Aber nein, der Haß wachte.

Eines Abends wurde der Graf durch einen unheilverkündenden Schein geweckt. Er eilte nach draußen, zwei Schüsse wurden auf ihn abgefeuert, und er stürzte blutüberströmt . . . Angezogen durch das Krachen der Schüsse, stürzte die Gräfin herbei. Sie stieß gegen den wie leblosen Körper ihres Gatten, und erstarrt vor Schrecken, sank sie besinnungslos nieder . . .

Und die Kinder? Sollten sie zugrunde gehen? Nein. Die Vorsehung wachte. Sie entzündete einen Funken von Verstand im Gehirn eines Schwachsinnigen, der, sich in den Rauch stürzend, die Kinder den Flammen entriß, welche bereits ihre Wiege umzingelten . . .

Die Familie ist gerettet, aber der Brand verdoppelt sein Rasen.

Auf das Läuten der Sturmglocken eilen alle Bewohner der umliegenden Dörfer herbei; aber ohne geordnetes Kommando, ohne das nötige Gerät, erschöpfen sie sich in fruchtlosen Bemühungen.

Indessen belebt ein fernher kommendes Rollen in ihrer Seele die schon verlöschende Hoffnung. Dieses Rollen verkündet die Ankunft von Spritzen . . . Sie treffen ein, sie sind da. Alles, was menschenmöglich ist, wird versucht . . . Aber, allmächtiger Gott! Was bedeutet das Geschrei des Schreckens und Entsetzens, welches bis zu ihnen dringt? . . . Das Dach des Schlosses stürzt ein und begräbt unter seinen brennenden Trümmern zwei Männer, die eifrigsten und unerschrockensten von allen so eifrigen und unerschrockenen Männern, Bolton, den Trommler, der einen Augenblick vorher noch den Generalmarsch geschlagen hatte, und Guillebault, den Vater von fünf Kindern . . .

Unterm Prasseln der Flammen erhob sich ihr herzzerreißender Schrei . . . Konnte man sie zugrunde gehen lassen? . . . Ein Gendarm dringt vor und mit ihm ein Bauer von Bréchy . . . Vergeblicher Heldenmut! Das wütende Element will seine Opfer behalten . . .«

Der Oberstaatsanwalt malte dieses Bild der Zerstörung von Valpinson mit den düstersten Farben seiner Beredsamkeit, indem er die Gräfin am Bett ihres sterbenden Gatten kniend darstellte, während die Menge sich um die Verletzten drängte und den Flammen die verkohlten Überreste Boltons und Guillebaults streitig machte.

Dann, seine Stimme erhebend, fuhr er fort: »Und was tat der Urheber aller dieser Frevel während dieser Zeit? . . . Da sein Haß nun gesättigt war, entfloh er durch den Wald und gelangte zu seiner Behausung . . . Er hatte keine Gewissensbisse . . . Sobald er heimgekehrt war, aß, trank er, rauchte eine Zigarre. Seine Stellung im Lande ist derart, und er hat alle seine Maßnahmen so gut getroffen, daß er sich über jeden Verdacht erhaben glaubt. Er ist ruhig, so ruhig, daß er die gewöhnlichsten Vorsichtsmaßregeln vernachlässigt, daß er sich nicht einmal die Mühe nimmt, das Wasser wegzuschütten, in welchem er sich seine von der Brandstiftung geschwärzten Hände gewaschen hat.

Doch eine Macht vergaß er, die Vorsehung, deren Blitz in solchen entscheidenden Fällen die menschliche Gerechtigkeit erleuchtet und führt . . . Wie hätte in der Tat ohne ein Eingreifen der Vorsehung die Justiz den Schuldigen in einem der prächtigsten Schlösser der Umgegend suchen sollen?

Da aber befand er sich, der Mörder, der Brandstifter . . . Und wenn man uns nur nicht sagen wollte, daß die Vergangenheit Jacques von Boiscorans ihn gegen die ungeheure Anklage schütze, die sich überwältigend gegen ihn erhoben hat! . . . Wir kennen diese Vergangenheit. Ein vollendetes Muster jener müßigen Jugend, welche das von ihren Vätern zusammengeraffte Vermögen in alle Winde ihrer Launen verstreut, hatte Jacques von Boiscoran keinerlei Beschäftigung. Unnütz in der Gesellschaft, sich selbst genug, stürzte er sich ohne alle Führung und Richtschnur ins Leben . . . Indessen war er ehrsüchtig, von jenem gefährlichen und schlechten Ehrgeiz erfüllt, der nicht von der Arbeit, sondern von der Intrige Sättigung fordert.

So sehen wir ihn eifrig in die fruchtlosen und schuldvollen Kämpfe unserer unruhevollen Zeit verwickelt, in welchen er gewaltige Streiche hohler Phrasen gegen alles, was verantwortlich und geheiligt ist, führt und den Schlachtruf der verwerflichsten Leidenschaften ausstößt . . .«

Anwalt Magloire: »Wenn dies ein politischer Prozeß sein soll, so ist es nötig, uns davon zu unterrichten.«

Der Oberstaatsanwalt: »Es handelt sich hier nicht um Politik, sondern um die Umtriebe eines Menschen, der ein Apostel der Zwietracht war.«

Magloire: »Glaubt vielleicht die Staatsanwaltschaft, daß sie Eintracht predigt?«

Präsident: »Ich ersuche die Verteidigung, nicht zu unterbrechen.«

Oberstaatsanwalt: »Und in diesem Ehrgeize des Angeklagten muß man vor allem den Ursprung des wilden Hasses suchen, der ihn zum Verbrechen führen konnte. Jacques von Boiscoran bereitete seine Kandidatur für die nächsten Wahlen vor . . .«

Angeklagter: »Ich habe niemals daran gedacht!«

Oberstaatsanwalt, ohne auf diesen Einwurf zu achten: »Er selbst sagte dies nicht, aber seine Freunde sagten es für ihn, indem sie stets und überall wiederholten, daß er vermöge seiner Stellung, seines Vermögens und seiner Gesinnung der geeignetste Kandidat der Republikanischen Partei sei. Und er hätte in der Tat gute Aussichten gehabt, wenn zwischen ihm und dem Ziel seiner Wünsche sich nicht ein Mann erhoben hätte, der Graf von Claudieuse, an dessen Einfluß bereits andere gescheitert sind . . .»

Magloire, lebhaft: »Ist diese Anspielung auf mich gemünzt?«

Oberstaatsanwalt: »Ich habe niemanden bezeichnet.«

Magloire: »Warum nicht lieber gleich geradeheraus sagen, daß ich und meine Freunde die Mitschuldigen des Herrn von Boiscoran sind, die ihn gedungen haben, einen politischen Gegner niederzumachen!«

Oberstaatsanwalt, fortfahrend: »Meine Herren! Darin liegt der wahre Beweggrund des Verbrechens. Daher stammt jener Haß, dessen Geheimnis der Angeklagte nicht hinreichend zu verbergen wußte, der sich in Beleidigungen und Todesandrohungen äußerte, bis zum Anlegen des Gewehrs auf den Grafen von Claudieuse . . .«

Der Herr Oberstaatsanwalt ging nun zu einer Prüfung des Schuldbeweises über, den er als entscheidend und unumstößlich bezeichnete. Dann fuhr er fort:

»Aber wozu bedarf es dieser Prüfung nach der niederschmetternden Aussage des Grafen von Claudieuse? . . . Haben Sie ihn nicht selbst gehört? Ihn, der bereit ist, vor Gott zu treten!

Im ersten Augenblick verzieh er, mißleitet von dem Edelmut seiner Seele, er wollte den Mann retten, der ihn zu ermorden versucht hatte . . . Aber angesichts des nahen Todes hat er eingesehen, daß er nicht das Recht besitzt, der Gerechtigkeit einen Schuldigen zu entziehen, er hat sich erinnert, daß es außer ihm noch andere Opfer gibt . . . Und nun ist er, sich von seinem Schmerzensbett erhebend, mühsam bis hierhergekommen, um Ihnen zu sagen: ›Er ist's. Beim Lichte des von ihm angestifteten Brandes habe ich ihn gesehen, ihn erkannt . . . er ist es!‹

Und nach all diesem sollten Sie zögern, ihn zu verurteilen? Nein, ich kann dies nicht glauben. Nach solchen Freveln erwartet die menschliche Gesellschaft, daß Gerechtigkeit geschehe! Gerechtigkeit im Namen des sterbenden Grafen von Claudieuse! Gerechtigkeit im Namen der Toten! Gerechtigkeit im Namen der Mutter Boltons, im Namen der Witwe und der fünf Kinder Guillebaults!«

Noch lange nach den letzten Worten des Herrn du Lopt de la Gransière pflanzte sich im Saal ein Gemurmel der Anerkennung fort.

Präsident: »Der Verteidiger hat das Wort.«

 

Die Verteidigungsrede

Weil Herr Magloire bis zu diesem Augenblicke von Seiten der Verteidigung allein das Wort ergriffen hatte, glaubte man, daß er auch jetzt die Verteidigung vertrete. Man täuschte sich. Statt seiner erhebt sich Herr Folgat.

Unser Gerichtsgebäude hat manchen großen Meister des Wortes gesehen: Berryer, Dufaure, Jules Favre, Lachaud . . . Aber selbst nach diesen gefeierten Rednern fand Herr Folgat das Geheimnis, uns zu Bewunderung hinzureißen und uns zu erschüttern.

Auf Hügeln der Stenographie halten wir einige von seinen Äußerungen fest; was uns aber darzustellen unmöglich ist, das ist seine vorzügliche Haltung voll Stolz und Geringschätzung, sein leuchtender Blick, seine gebieterische Gebärde, und vor allem seine klare und klangvolle Stimme, deren metallischer Ton in allen Herzen widerhallte . . .

»Gewisse Männer gegen gewisse Beschuldigungen verteidigen«, beginnt er, »hieße sie erniedrigen. Dem von der Staatsanwaltschaft gezeichneten Porträt des Herrn von Boiscoran stelle ich einfach die Antwort des würdigen Pfarrers von Bréchy entgegen. Was sagte er Ihnen? ›Herr von Boiscoran ist der beste und ehrenhafteste Mensch, den ich je gesehen habe.‹ Dies ist die Wahrheit. Man hat ihn zu einem ehrgeizigen Intriganten stempeln wollen. In Wirklichkeit hat er nur den Ehrgeiz, sich seinem Lande nützlich zu machen . . . Er wünschte die Macht, sagten Sie; nein, er erträumte das Glück. Sie sprachen von einem Briefe, den er einige Stunden vor dem Verbrechen an seine Verlobte schrieb. Ich fordere Sie auf, ihn zu lesen . . . Er enthält vier Seiten, und schon bei der zweiten angelangt, würden Sie sich gezwungen sehen, die Anklage fallenzulassen.«

Weiter nahm der junge Anwalt mit unerbittlicher Folgerichtigkeit das System des Angeklagten wieder auf, und unter den Streichen seiner Beredsamkeit scheint die Anklage wahrhaft in Staub zu zerfallen. Man ist bezaubert, geblendet . . .

»Und nun«, fährt er fort, »was bleibt von Beweisen übrig? Die Aussage des Herrn von Claudieuse. ›Sie ist vernichtend‹, sagen Sie. Ich sage, sie ist befremdlich. Wie! Da ist ein Zeuge, welcher die letzte Stunde, die letzte Minute erwartet, um zu sprechen, und dies erscheint Ihnen natürlich! ›Aus Edelsinn‹, sagen Sie, ›hat er geschwiegen.‹ Ich aber frage Sie, wie dann unser grausamster Feind handeln sollte.

›Niemals sei eine Sache klarer gemacht worden‹, behauptet die Staatsanwaltschaft. Ich bemerke dagegen, daß niemals eine Sache unklarer geblieben ist und daß, weit entfernt, uns das Geheimnis zu lösen, die Untersuchung nicht einmal das erste Wort der Lösung erbracht hat.«

Herr Folgat setzt sich nieder, und es bedarf des Einschreitens der Gerichtsdiener, um die Beifallszeichen aufzuhalten. Wenn man in diesem Augenblicke die Stimmen zählte, wäre Herr von Boiscoran sicherlich freigesprochen.

Aber die Verhandlung wird auf eine Viertelstunde unterbrochen, und man benutzt diese Zeit, um die Lampen anzuzünden, da die Dunkelheit einbricht.

Nachdem der Präsident wieder in seinem Lehnsessel Platz genommen, erteilt er der Staatsanwaltschaft das Wort.

Der Oberstaatsanwalt: »Ich verzichte auf eine Entgegnung, welche ich mir vorher vorgenommen hatte. Der Herr Graf von Claudieuse ist im Begriff, mit seinem Leben die Anstrengung zu bezahlen, die er gemacht hat, um vor Ihnen Zeugnis abzulegen. Man hat ihn nicht in seine Wohnung zurücktragen können. Vielleicht haucht er schon in diesem Augenblicke in dem benachbarten Saale seinen letzten Seufzer aus.«

Die Verteidiger verlangen das Wort nicht weiter, der Angeklagte erklärt, daß er nichts hinzuzufügen habe. Der Herr Präsident faßt die Verhandlung zusammen, und die Geschworenen ziehen sich in den Beratungssaal zurück.

Die Hitze ist erstickend, die Spannung unerträglich, und dennoch denkt niemand daran, sich zu entfernen. Tausend einander widersprechende Gerüchte machen die Runde. Die einen sagen, der Herr von Claudieuse sei tot, andere, im Gegenteil, er befinde sich besser und habe soeben den Pfarrer von Bréchy rufen lassen . . .

Endlich, einige Minuten nach neun Uhr, kehrten die Herren Geschworenen in den Sitzungssaal zurück.

Jacques von Boiscoran ist schuldig befunden, unter Annahme mildernder Umstände.

Der Gerichtshof verurteilt ihn zu zwanzig Jahren Zwangsarbeit.


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