Emile Gaboriau
Der Strick um den Hals
Emile Gaboriau

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Viertes Buch

35

Gleich den meisten überaus klugen Leuten hatte Doktor Seignebos die Schwäche, auch bei andern einen Teil seiner Scharfsichtigkeit vorauszusetzen.

Herr Galpin-Daveline wachte zwar sicher, aber nicht mit jener durchdringenden Aufmerksamkeit, welche man von einem so Ehrgeizigen hätte erwarten sollen. Nachdem er, und zwar vor allen andern zuerst, von der Entscheidung der Anklagekammer in Kenntnis gesetzt war, fühlte er sich von allen quälenden Sorgen befreit. Er atmete auf . . . Von Selbstvorwürfen war bei ihm keine Spur. Er hatte nicht einmal ein Bedauern.

Er dachte kaum daran, daß dieser Untersuchungsgefangene, welchen die Anklagekammer vor die Geschworenen verwiesen hatte, früher sein Freund gewesen war, und zwar ein Freund, auf den er stolz gewesen, dessen Gastfreiheit ihn entzückte und den er um die Gunst einer engeren Verbindung gebeten hatte . . . Nein! Er sagte sich nur, daß, nachdem er eine sehr kühne Partie gewagt, wobei seine ganze Zukunft auf dem Spiele stand, er nahe daran war, den Gewinn einzustreichen.

Seine Verantwortlichkeit war offenbar noch nicht gelöst, aber seine Rolle als Untersuchungsbeamter war beendet. Er hatte bei den Schwurgerichtsverhandlungen nicht zu erscheinen. Was sich bei diesen ereignete, ging ihn nichts an, er selbst war, dachte er, dem Vorwurfe nicht ausgesetzt, der ihn getroffen haben würde, wenn seine Beweisaufnahme mit einer Untersuchungseinstellung geendet hätte.

Er verhehlte sich nicht, daß er in Sauveterre niemals in gutem Ansehen gestanden hatte, daß seine Beziehungen oberflächlich geblieben waren und nie eine andere Hand aus freiem Antrieb die seinige gedrückt hatte. Doch das verschlug ihm wenig . . . Sauveterre war eine elende Unterpräfektur von fünftausend Seelen! Er hoffte, nicht lange mehr dort bleiben zu müssen, sondern daß eine glänzende Beförderung seine Schlauheit und seine Kühnheit belohnen und ihn den widerwärtigen Beschuldigungen entziehen werde.

Er setzte voraus, daß er durch eine neue Ernennung in eine große Stadt geführt werde, die Entfernung schwächte dann auch den Eindruck dessen ab, was sein Betragen widerwärtig gemacht hatte, wenn sie es nicht vollkommen verwischte. Es blieb ihm von der Vergangenheit nichts als der Ruf eines Beamten von außerordentlicher Begabung, welcher der heiligen Sache der Justiz alle seine Interessen opferte . . . Er sah sich bereits hoch oben auf der gefahrvollen Leiter der hohen Stellungen . . . er sah sich in Bordeaux, in Lyon, in Paris . . .

Von diesen rosigen Wolken des ersten Erfolgs umhüllt, entschlummerte er an diesem Abend . . . Am folgenden Morgen, als er steifer und hochmütiger als sonst, mit zusammengekniffenen Lippen, mit kaltem, hartem Blick die Straßen durchschritt, merkten die ihn beobachtenden Bürger es ihm wohl an, daß etwas Neues geschehen sein müsse.

»Die Sache des Herrn von Boiscoran muß wohl schlecht stehen«, sagten sie, »daß der Herr Galpin-Daveline so stolz einhergeht.«

Er begab sich zum Staatsanwalt. Der Vorwand seines Besuchs war, einige Unterschriften zu erhalten, die er indessen leicht durch seinen Schreiber hätte einholen können. In Wahrheit hatte er noch die strengen Vorwürfe des Herrn Daubigeon auf dem Herzen, an dem er jetzt nun süße Rache zu nehmen gedachte.

Er fand den alten Sammler inmitten seiner kostbaren Scharteken, wie immer und mehr als je in niederschmetternder Laune.

Gleichviel! Er unterbreitete ihm die betreffenden Schriftstücke zur Unterzeichnung, und nachdem diese Angelegenheit erledigt war, ergriff er, die Papiere in seine Mappe zurückschiebend, die Gelegenheit, sein Herz zu erleichtern.

»Nun, mein lieber Daubigeon«, fragte er mit einem gleichmütigen Tone, »Sie kennen den Beschluß der Anklagekammer? Welcher von uns beiden hat nun recht?«

Herr Daubigeon zuckte die Achseln.

»Es ist ausgemacht«, knurrte er, »ich bin nur noch ein alter Narr, ein Sonderling, ich gestehe das zu, ich füge mich der Tatsache und spreche mit dem Mann des Horaz:

›Stultum me fateor, liceat concedere veris,
Atqe etiam insanum . . .‹«

»Sie scherzen . . . Wohin wäre es aber gekommen, wenn ich auf Sie gehört hätte?«

»Ich bin nicht so anmaßend, das wissen zu wollen.«

»Herr von Boiscoran wäre nichtsdestoweniger vor die Geschworenen verwiesen worden.«

»Vielleicht.«

»Andere hätten ebenso gut wie ich die Beweise gesammelt, die seine Schuld unumstößlich feststellen.«

»Das ist die Frage.«

»Und ich hätte meine Beamtenlaufbahn durchkreuzt, indem ich mich in den Ruf eines jener Beamten gebracht, dessen Furchtsamkeit sich durch ein Nichts aufhalten läßt.«

»Vielleicht ist dies nicht der schlechteste Ruf«, warf der Staatsanwalt hin.

Er hatte sich vorgenommen, nur einsilbige Erwiderungen zu machen, aber der Zorn stieß seinen Entschluß über den Haufen.

»Ein anderer als Sie«, fuhr er in bitterem Tone fort, »würde sich nicht lediglich darauf beschränkt haben, zu beweisen, daß Herr von Boiscoran schuldig ist.«

»Das habe ich allerdings bewiesen, es ist wahr.«

»Ein anderer als Sie hätte die ganze Lösung des Rätsels gesucht.«

»Nun, mir scheint, ich hätte dies getan!»

»Ich mache Ihnen mein Kompliment!« versetzte Daubigeon mit einer spöttischen Verbeugung. »Felix qui potuit rerum cognoscere causas. Aber Sie sind vielleicht doch im Irrtum. Sie sind zwar ein großer Untersuchungsrichter, aber ich bin in diesem Beruf älter als Sie. Je mehr ich nun über diese Geschichte nachdenke, desto weniger scheint sie mir bis jetzt aufgeklärt zu sein. Wenn Sie alles so genau wissen, so erklären Sie mir doch gefälligst den Beweggrund des Verbrechens, denn man riskiert doch nicht das Schafott oder Zuchthaus, ohne ein sehr bedeutendes Interesse zu haben, ein bestimmtes, offenbares Interesse! Worin besteht nun aber das Interesse Jacques'? Sie werden mir entgegnen, daß er Herrn von Claudieuse hasse. Ist dies aber ein Erklärungsgrund? Kommen Sie, blättern Sie ein wenig in Ihrem Gewissen . . . aber still! es liebt niemand, bei sich selbst einzukehren . . .

Nemo in sese tentat descendere . . .‹«

Herr Daveline war nahe daran, sein Erscheinen zu bereuen.

»Die Anklagekammer hat demnach Ihre Zweifel nicht beseitigt«, sagte er trocken.

»Nein, aber die Geschworenen dürften es tun. Man findet immer einige verständige Leute darunter.«

»Die Geschworenen werden Herrn von Boiscoran ohne alle Bedenken verurteilen.«

»Darauf möchte ich doch nicht gerade Gift nehmen.«

»Sie würden es, wenn Sie wüßten, wer die Anklage vertritt.«

»Oh!«

»Es ist Herr Du Lopt de la Gransière selbst.«

»Pestilenz!«

»Sie werden dessen Talent nicht bestreiten wollen.«

Der Untersuchungsrichter erschien sichtlich gereizt, seine Ohren wurden rot, wogegen Daubigeon all seine frohe Laune wiederzugewinnen schien.

»Gott bewahre mich«, rief er, »die Beredsamkeit des Herrn Du Lopt de la Gransière bestreiten zu wollen; er ist ein großer Held, der selten seinen Mann verfehlt . . . Allein, Sie wissen, es ist mit der Anklage wie mit den Büchern, sie haben ihr Schicksal, habent sua fata . . . Jacques wird gut verteidigt werden.«

»Ich fürchte Magloire nicht.«

»Aber den andern, Herrn Folgat . . .«

»Das ist ein junger Mann ohne Einfluß . . . Ich habe schon einem Lachaud getrotzt!«

»Kennen Sie denn ihr Verteidigungssystem?«

Das war die wunde Stelle in Herrn Galpin-Daveline, er ließ sich aber nichts davon anmerken.

»Nicht ein Jota kenne ich«, erwiderte er, »aber was tut das? Die Freunde des Herrn von Boiscoran haben anfänglich aus Cocoleu Vorteil zu ziehen gewähnt, sind aber, wie ich genau weiß, davon abgekommen. Der Polizeikommissar, welchen ich beauftragt habe, in dieser Richtung Beobachtungen zu machen, hat mir versichert, daß Doktor Seignebos selbst sich mit diesem armen Wahnsinnigen gar nicht mehr beschäftigt.«

Daubigeon lächelte spöttisch und sagte, wohl mehr um Herrn Daveline zu hänseln, als weil er wirklich so dachte:

»Nehmen Sie sich in acht, daß Sie dem Schein nicht zu viel trauen! Sie haben mit pfiffigen Leuten zu tun. Ich habe Ihnen stets gesagt, daß Cocoleu vielleicht den Knoten der ganzen Sache abgibt . . . Und gerade weil Herr de la Gransière das Wort führt, dürften Sie zittern . . . Wenn er scheiterte, würde er Ihnen seine Schlappe zuschreiben und es Ihnen in seinem ganzen Leben nicht vergessen. Und er könnte doch scheitern, und ich bin der Meinung meines alten Villon: daß nichts bedenklicher ist als eine unsichere Sache.«

Herr Daveline merkte an dem Ausdrucke des Staatsanwalts nur zu deutlich, daß er bei weiteren Diskussionen nichts gewinne.

»Die Zukunft wird es zeigen«, sagte er. »Mir genügt die Anerkennung meines Gewissens.«

Er beeilte sich, aus Furcht vor einer spitzen Entgegnung, die nötigen Höflichkeitsformeln zu erledigen, und entfernte sich.

Seine stolze Sicherheit war dahin.

Herr Daubigeon hatte ihm eine Gefahr gezeigt, die er nicht vorausgesehen. Und welch eine Gefahr! Der Groll einer der einflußreichsten Persönlichkeiten des Beamtentums, eines gallsüchtigen und herzlosen Mannes, der nie etwas verzieh. Zwar hatte Daveline an die Möglichkeit einer Niederlage gedacht, also an eine Freisprechung, aber er hatte die Folgen einer solchen Niederlage noch nicht erwogen. Wer wurde dadurch verletzt? Vor allem der öffentliche Ankläger, denn in Frankreich macht der Vertreter der Anklage diese zu einer persönlichen Angelegenheit und fühlt sich getroffen und gedemütigt, wenn er seinen Mann verfehlt.

Und was geschah in diesem Fall? Herr Du Lopt de la Gransière hielt sich an den Untersuchungsrichter.

»Es ist Ihre Arbeit«, würde er sagen, »auf welche ich die Bestandteile meiner Anklage stützte. Wenn ich keine Verurteilung erreicht habe, so geschah es, weil Ihre Arbeit unvollständig ist. Man setzt einen Mann wie mich nicht der Demütigung eines Freispruchs aus, besonders in einer Untersuchungssache, die so ungeheuren Widerhall findet. Sie kennen Ihren Beruf nicht.«

Und ein solcher Ausspruch war tatsächliche Ungnade, er war, statt der erträumten Beförderung, Verbannung auf Lebenszeit, nach Algier oder Korsika.

Herr Galpin-Daveline schauerte zusammen, er sah sich bereits unter den Trümmern seiner Luftschlösser begraben. Unwillkürlich ging er nochmals alle Einzelheiten der Untersuchung durch, zergliederte alle Beweise, die er geliefert hatte, ungefähr wie ein Soldat am Vorabend einer Schlacht den Zustand seiner Waffen untersucht. Und wirklich entdeckte er nur einen einzigen Einwand: den, welchen der Staatsanwalt gemacht hatte.

Worin bestand für Jacques von Boiscoran der Grund, ein so großes Verbrechen zu begehen? In dieser Frage lag offenbar die Blöße der Rüstung, das war die Achillesferse. »Und ich handle weise«, dachte er, »wenn ich Herrn de la Gransière darauf vorbereite . . . Die Verteidiger Jacques' sind imstande, aus dieser Blöße den Stützpunkt ihrer Verteidigung zu machen.« Und, wie sehr er dies auch Herrn Daubigeon gegenüber geleugnet hatte, er fürchtete diese Verteidiger. Er konnte nicht übersehen, daß der große Einfluß Magloires in der fleckenlosen Reinheit und Uneigennützigkeit seines Lebens beruhte. Er wußte nur zu gut, daß eine Sache für gerecht angesehen wurde, wenn Magloire sich ihrer nur annahm. Man pflegte von diesem Manne zu sagen: »Er kann sich täuschen, aber was er verteidigt, glaubt er.«

Welche Einwirkung konnte ein solcher Mann ausüben, nicht etwa auf die Beamten, welche im Verhandlungstermin mit einer unabänderlichen Meinung erschienen, sondern auf die Geschworenen, die von dem Eindruck des Augenblicks abhingen und sich durch eine Rede, durch ein Wortgefecht fortreißen ließen!

Magloire hatte allerdings nicht die dramatische Beredsamkeit, welche die Herzen der Menge erbeben macht, aber Folgat hatte sie.

Hierüber hatte Galpin-Daveline seine Erkundigungen eingezogen, und einer seiner Pariser Freunde hatte ihm geschrieben: »Folgat ist nicht zu trauen. Ein in vieler Beziehung gefährlicherer Logiker als Lachaud, besitzt er in gleichem Grade die Kunst, das Gewissen der Geschworenen zu beunruhigen, sie zu bewegen, ihnen Tränen zu entlocken und ein freisprechendes Verdikt zu entreißen. Vor allem sind bei ihm die Zwischenfälle der Verhandlung zu fürchten, denn er hat immer eine Überraschung in Reserve.«

»Das sind also meine Gegner«, dachte Daveline. »Welche Überraschung können sie in Reserve haben? Haben sie wirklich darauf verzichtet, sich Cocoleus zu bedienen?«

Er hatte keinen Grund, seinem Polizeikommissar zu mißtrauen, und dennoch, wurde seine Unruhe so groß, daß er von seinem Wege abwich, um einen Besuch im Hospital zu machen.

Selbstverständlich empfing ihn die Schwester Oberin mit allen Zeichen der tiefsten Ergebenheit. Er erkundigte sich nach Cocoleu.

»Wollen Sie ihn sehen?« fragte die Oberin.

»Ich muß gestehen, liebe Schwester, daß mir dies angenehm wäre.«

»Dann kommen Sie bitte mit mir.«

Sie führte ihn in den Garten, wo sie sich an den Gärtner wandte. »Wo ist der Schwachsinnige?« fragte sie.

Der Mann stieß seinen Spaten in den Boden, und mit der süßlichen Unterwürfigkeit, welche ein bestimmter Zug bei allen in religiösen Häusern Angestellten ist, erwiderte er:

»Der Schwachsinnige ist in der Allee im hinteren Teil des Gartens, ehrwürdige Mutter.«

Dort bemerkten ihn Herr Daveline und die Oberin denn auch bald. Man hatte ihm die Lumpen abgenommen, die er bei seiner Ankunft trug, und ihm die Kleidung des Spitals angezogen, einen großen grauen Mantelrock und eine baumwollene Mütze. Sein Gesichtsausdruck war nicht intelligenter geworden, aber er war nicht mehr so widerlich. Auf der Erde sitzend, spielte er mit Kieselsteinen.

»Nun, mein Junge«, sagte Galpin-Daveline, »wie geht's dir jetzt?«

Cocoleu erhob den klotzigen Kopf und richtete sein düsteres Auge auf die Oberin, erwiderte jedoch nichts.

»Möchtest du nach Valpinson zurückkehren?« fuhr der Richter fort.

Cocoleu erbebte, aber er brachte die Zähne nicht auseinander.

»Komm, mein Junge«, sagte Daveline, »antworte mir, und ich schenke dir ein Zehnsousstück.«

Cocoleu spielte ruhig weiter.

»So ist er immer, mein Herr«, erklärte die Oberin. »Seit er hier ist, hat ihm kein Mensch ein Wort entlocken können. Weder Versprechungen noch Drohungen haben etwas ausgerichtet. Eines Tags sagte ich ihm, als er eben sein Frühstück erhalten sollte, um ihn auf die Probe zu stellen: ›Du bekommst nichts zu essen, bis du mir gesagt hast: Ich habe Hunger.‹ Und vierundzwanzig Stunden lang habe ich ihm die Nahrung vorenthalten, ohne daß er auch nur eine Silbe geäußert hätte.«

»Was denkt Doktor Seignebos über ihn?«

»Der Doktor hat es ganz aufgegeben, ihn zum Sprechen zu bringen.«

Und indem die Oberin ihre Augen zum Himmel erhob, fuhr sie fort:

»Es ist unumstößlich, daß ohne den Eingriff der Vorsehung dieser Unglückliche niemals das Verbrechen angezeigt hätte, von dem er Zeuge war.«

Dann zu den irdischen Dingen zurückkehrend:

»Aber warum befreit man uns nicht von diesem armen Schwachsinnigen, der eine so schwere Last für unser Hospital ist? Unsere Kranken und Alten sind zahlreich, und wir haben wenig Platz.«

»Es ist nötig, das Ende des Prozesses Boiscoran abzuwarten, liebe Schwester«, erwiderte der Untersuchungsrichter.

Die Oberin beschied sich mit einer Gebärde.

»Dasselbe hat mir bereits der Bürgermeister erklärt«, sagte sie, »aber es ist verdrießlich. Ich kann übrigens sagen, daß man mir gestattet hat, ihn aus dem Raume, in dem er anfangs eingesperrt war, zu entfernen. Ich habe ihn deshalb in die Irren-Abteilung getan: so nennen wir vier kleine, von einer Mauer umgebene Räume, wo wir die bedauernswerten Geistesgestörten unterbringen, die man uns zeitweise überantwortet . . .«

Sie hielt inne, weil der Pförtner des Hospitals, Herr Baudevin, sich grüßend näherte.

»Was gibt es?« fragte sie.

Baudevin überreichte ihr einen Zettel.

»Ein Gendarm bringt Ihnen einen Menschen«, sagte er. »Dringliche Aufnahme.«

Die Oberin überflog diesen von Seignebos unterzeichneten Zettel.

»Epileptisch«, sagte sie, »und ein wenig schwachsinnig – nun, der fehlte uns noch! . . . Dazu fremd obendrein! Wirklich, Herr Seignebos ist rasch bei der Hand mit dergleichen. Warum werden solche Leute nicht in ihren Gemeinden versorgt?«

Und mit für ihr Alter sehr flinken Schritten begab sie sich, gefolgt vom Pförtner und Herrn Daveline, nach dem Sprechzimmer.

In dieses war der neuangelangte Kranke gebracht worden, und hier bot er, auf eine Bank zusammengekauert, ein Bild vollkommener Vertierung. Die Oberin betrachtete ihn eine Minute lang.

»Man schaffe ihn in die Irren-Abteilung«, befahl sie; »dort kann er Cocoleu Gesellschaft leisten. Auch verständige man die Schwester Apothekerin. Doch nein, ich werde selbst zu ihr gehen! Der Herr Richter werden mich entschuldigen . . .«

Sie empfahl sich und ließ Herrn Daveline etwas beruhigter zurück.

»Hier liegt die Gefahr nicht«, dachte er, sich entfernend; »und wenn Folgat auf einen Zwischenfall in der Verhandlung zählt, so gibt Cocoleu dazu keinen Anlaß.«


 << zurück weiter >>