Emile Gaboriau
Der Strick um den Hals
Emile Gaboriau

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26

Am Abend zuvor hatte der Wärter des Gefängnisses von Sauveterre beim Imbiß zu seiner Frau gesagt:

»Ich habe nun genug von dem Dasein hier. Mir drückt die Furcht das Herz ab. Man hat mich für den Verlust meiner Stelle bezahlt, und ich werde sie aufgeben.«

»Dann bist du ein Narr!« hatte ihm seine Frau entgegnet. »Solange Herr von Boiscoran hier ist, können wir immer noch Vorteile erwarten. Weißt du denn nicht, daß die Chandorés reich sind? Es versteht sich doch von selbst, daß wir bleiben müssen . . .«

Blangin bildete sich wie alle Männer ein, daß er Herr in seinen vier Wänden sei. Er schrie und fluchte, er vergaß sich so weit, daß er den Arm gegen seine Frau erhob, um zu zeigen, daß er der Stärkere sei. Allein . . . Frau Blangin hatte beschlossen, daß man bleibe, und so blieb man natürlich, denn die Frauen wissen stets ihren Willen durchzusetzen.

Blangin saß, von den dunkelsten Ahnungen gefoltert, vor der Tür im Schatten und rauchte seine Pfeife, als die Herren Magloire und Folgat sich, mit einem Passierschein des Untersuchungsrichters versehen, bei ihm einstellten. Als sie eintraten, erhob er sich, und weil er glaubte, Fräulein Denise habe sie in das Geheimnis der Durchstecherei eingeweiht, fürchtete er sie. Dennoch zog er sehr höflich seine wollene Mütze ab und nahm die Pfeife aus dem Munde.

»Ah, die Herren wollen den Herrn von Boiscoran besuchen«, sagte er mit Leichenbitterlächeln. »Ich werde Sie hinführen. Erlauben Sie mir nur so viel Zeit, die Gefängnisschlüssel zu holen.«

Herr Magloire hielt ihn zurück.

»Vor allem sagen Sie uns, wie sich Herr von Boiscoran befindet?«

»Na, so so!«

»Wie zeigt er sich?«

»Oh, wie . . . alle Angeklagten, wenn sie sehen, daß ihre Sache eine schlechte Wendung nimmt.«

Die Verteidiger wechselten einen betrübten Blick. Es war offenbar, daß der Wärter an Jacques' Schuld glaubte . . . Ein übles Vorzeichen. Leute, welche Gefangene bewachen, haben gewöhnlich ein scharfe Witterung und sind oft imstande, den Anwälten Rat zu geben, fast so wie die Leute vom Theater dem Dichter nützen können, dessen Stück gegeben werden soll.

»Hat er Ihnen etwas gesagt?« fragte Herr Folgat.

»Mir persönlich so gut wie nichts«, erwiderte der Wärter. »Aber man hat doch seine Erfahrungen, wissen Sie . . . Wenn ein Angeklagter den Besuch seines Anwalts empfangen hat, suche ich immer einen Vorwand, ihn zu sehen und ihm irgend etwas anzubieten. Gestern also, nachdem Herr Magloire fortgegangen war, rannte ich treppauf vier Stufen auf einmal . . .«

»Und Sie fanden Herrn von Boiscoran nicht wohl?«

»Ich fand ihn im elendesten Zustande, meine Herren. Er hatte sich über sein Bett geworfen, das Gesicht ins Kopfkissen vergraben, und rührte sich sowenig wie ein Klotz . . . Ich war schon über eine Minute in seiner Zelle, ohne daß er mich bemerkte . . . Ich rasselte mit meinen Schlüsseln, ich bedauerte ihn, ich hustete . . . nichts! Mich packte die Unruhe, ich näherte mich ihm und berührte seine Schulter. ›He, mein Herr!‹ rief ich . . . Jesus! wie er da plötzlich sich aufrichtete und auf dem Bett sitzend mit sonderbarer Stimme rief: ›Was wollen Sie? . . .‹ Natürlich suchte ich ihn zu trösten, ihm zu erklären, daß es nötig sei, sich zu fassen, daß es freilich unangenehm sei, vor die Geschworenen zu kommen, daß man aber daran doch nicht sterbe und daß man mit Hilfe eines guten Verteidigers noch weiß wie Schnee aus der Geschichte herauskommen könne. Aber je mehr ich ihm zusprach, desto mehr flammten seine Augen, und ohne mich nur zu Ende kommen zu lassen, schrie er: ›Hinaus! – Hinaus!‹«

Blangin schwieg hier einen Moment und paffte an seiner Pfeife; sie war aber ausgegangen; er steckte sie in die Tasche seiner Jacke und fuhr fort:

»Ich hätte ihm erwidern können, daß ich das Recht habe, jederzeit in die Zellen einzutreten und zu bleiben, so lange es mir beliebe; aber die Gefangenen sind Kinder, es ist unnütz, ihnen zu widersprechen. Ich ging also, aber ich öffnete verstohlen die Klappe des Guckloches und blieb auf der Lauer . . . Ah, meine Herren, ich habe in den zwanzig Jahren, die ich hier Gefängniswärter bin, viel Verzweiflung gesehen, aber niemals so schrecklich wie bei diesem jungen Manne. Kaum daß ich hinaus war, hatte er sich von seinem Bett erhoben und rannte nun ohne Aufhören in seiner Zelle umher und stöhnte laut und war weiß wie sein Hemd und weinte so große Tränen, daß ich sie nur so herabfließen sehen konnte . . .«

Jede dieser Einzelheiten erweckte in Magloires Herzen stechenden Reueschmerz. Seine Ansicht hatte sich allerdings seit dem Tage vorher nicht wesentlich geändert, aber er hatte Zeit zu ruhigem überlegen gehabt und sich bereits heftige Vorwürfe wegen seiner Härte gegen Jacques gemacht.

»Ich habe ihn wenigstens eine Stunde lang beobachtet«, fuhr der Wärter fort, »und plötzlich sprang Herr von Boiscoran gegen die Tür und rüttelte daran und trat mit dem Fuße dagegen und rief aus Leibeskräften. Ich wartete zum Schein noch ein Weilchen, damit er nicht merkte, wie nahe ich ihm gewesen, dann öffnete ich und tat so, als sei ich eben erst die Treppe heraufgekommen.

›Nicht wahr‹, rief er mir gleich beim Eintreten entgegen, ›ich habe das Recht, jetzt Besuche zu empfangen?‹

›Jawohl, mein Herr‹, entgegnete ich, ›im Sprechzimmer.‹

›Und es ist bis jetzt niemand gekommen?‹

›Niemand.‹

›Sind Sie dessen ganz sicher?‹

›Ganz sicher!‹

Es war, als hätte ich ihm mit dieser Antwort den Todesstreich versetzt. Er preßte beide Hände vor die Stirn . . . sehen Sie: so! und sagte: ›Niemand! . . . Und ich habe doch eine Mutter, eine Braut, Freunde! . . . Wohlan, es ist alles aus! . . . Ich existiere nicht mehr, ich bin verlassen, verstoßen, verleugnet! . . .‹

Er sagte dies mit einer Stimme, die Steine hätte rühren können, und ich, betroffen und erschüttert wie ich war, riet ihm, einen Brief zu schreiben, den ich zu Herrn von Chandoré befördern wolle. Er aber rief wütend:

›Niemals! Niemals! Lassen Sie mich allein, ich will nichts mehr als sterben!‹«

Herr Folgat hatte bis jetzt kein Wort gesprochen, aber seine Blässe verriet nur zu deutlich seine große innere Bewegung.

»Sie können sich denken, meine Herren«, fuhr Blangin fort, »daß ich mich nach dieser Äußerung und nach dieser verzweifelten Gebärde nicht sehr beruhigt fühlte. Die Zelle, welche Herr von Boiscoran innehat, bietet allerdings keine Gelegenheit . . . aber ich habe doch, seitdem ich hier bin, einen Selbstmord und einen Versuch dazu gehabt. Ich rief daher Frumence Cheminot, einen armen Teufel, der auch hier eingesperrt ist und mir in meinem Dienste Hilfe leistet, und wir kamen überein, daß wir abwechselnd Wache stehen wollen, um den Angeklagten keine Sekunde aus den Augen zu verlieren. Aber die Vorsicht war unnötig. Am Abend, als man Herrn von Boiscoran seine Mahlzeit brachte, war er wieder ganz ruhig, und er sagte mir selbst, er wolle zu essen versuchen, um seine Kräfte zu erhalten.

Armer Unglücklicher! Seine Kräfte waren leider sehr gering. Kaum daß er mit Mühe einige Bissen genommen hatte, bekam er einen solchen Erstickungsanfall, daß ich und Cheminot glaubten, er sterbe uns unter den Händen, und ich dachte sogar, dies sei für ihn ein Glück . . . Endlich gegen neun Uhr abends kam er ein wenig wieder zu sich, und er blieb die ganze Nacht stehend am Fenster . . .«

Herr Magloire konnte dies nicht weiter anhören.

»Gehen wir hinauf!« sagte er zu seinem Kollegen.

Sie stiegen die Treppe hinauf. Als sie in den Zellengang gelangten, bemerkten sie Cheminot, welcher ihnen ein Zeichen machte, leise aufzutreten.

»Was ist geschehen?« fragten sie ihn mit leiser Stimme.

»Ich glaube, er schläft«, erwiderte der Sträfling. »Der arme Mann! Er träumt vielleicht, daß er frei in seinem schönen Schlosse ist.«

Herr Folgat näherte sich dem Guckloch auf den Fußspitzen. Aber Jacques war erwacht. Er hatte die Schritte und Stimmen gehört und war von seinem Lager aufgesprungen.

Blangin schloß die Zellentür auf und trat zur Seite.

»Ich bringe Ihnen Verstärkung, mein Freund«, sagte Magloire zu dem Gefangenen. »Herrn Folgat, meinen Kollegen, der mit Ihrer Mutter von Paris gekommen ist.«

Kalt und stumm verbeugte sich Jacques.

»Ich bitte Sie, mir nicht böse zu sein«, fuhr Magloire fort. »Ich war gestern zu heftig, viel zu heftig . . .»

Jacques schüttelte den Kopf und versetzte kalt:

»Ich bin Ihnen nicht böse, sondern ich habe ruhig darüber nachgedacht, und heute danke ich Ihnen für Ihren Freimut . . . Ich kenne nun wenigstens mein Schicksal. Wenn ich als Unschuldiger vor das Geschworenengericht gestellt werde, verurteilt man mich als Mörder und Brandstifter . . . Ich werde also nicht vor den Geschworenen erscheinen . . .«

»Unglücklicher! Es ist noch nicht alle Hoffnung verloren!«

»Doch! Von dem Augenblick an, da Sie, der Sie mein Freund waren, mir nicht geglaubt haben, wer sollte mir da noch glauben?«

»Ich!« rief Herr Folgat. »Ich, der, ohne Sie zu kennen, an Ihre Unschuld glaubte und dies Ihnen nun erklärt, nachdem er Sie gesehen.«

Rascher als ein Gedanke ergriff Jacques von Boiscoran die Hand des jungen Anwalts und preßte sie mit krampfhafter Gewalt.

»Für dieses einzige Wort, welches Sie auszusprechen gekommen sind, meinen innigsten Dank!« rief er. »Seien Sie für das Vertrauen, das Sie in mich setzen, gesegnet!«

Es war das erste Mal seit seiner Verhaftung, daß der Angeklagte in freudiger Hoffnung erbebte. Aber nur für einen Augenblick. Sein Antlitz verfinsterte sieb alsbald wieder, und er sprach mit dumpfer Stimme:

»Unglücklicherweise ist alles gegen mich. Herr Magloire wird Ihnen meine traurige Geschichte in allen ihren Einzelheiten mitgeteilt haben . . . Ich habe keine Beweise, oder ich müßte wenigstens, um solche zu liefern, mich in Einzelheiten der Art versteigen, daß das Gericht sie nicht annehmen würde, oder wenn es sie auch wirklich annähme, so würde ich mich doch selbst ewig verachten müssen. Es gibt Vertraulichkeiten, aus denen man niemals Vorteile ziehen darf; Geheimnisse, die man nie ausliefert; Schleier, die man selbst um den Preis des Lebens nicht lüften darf . . . Lieber unschuldig verdammt sein, als ehrlos und erniedrigt freigesprochen werden! Meine Herren, ich verzichte auf meine Verteidigung.«

Bis zu welchem Grade der Verzweiflung mußte Jacques schon gelangt sein, um sich in dieser Weise auszudrücken! Seine Verteidiger waren davon erschüttert.

»Aber Sie haben nicht das Recht, sich in solcher Art selbst aufzugeben«, sagte Folgat.

»Warum nicht?«

»Weil Sie in dieser Sache nicht allein stehen, mein Herr, weil Sie Verwandte, Freunde haben . . .«

Ein Lächeln bitteren Spottes kräuselte Jacques' Lippen.

»Bin ich«, unterbrach er ihn, »wohl denen noch etwas, die, um mich zu verleugnen, nicht einmal das Urteil erwarten können! Denen, die mit ihrem Verdammungsurteil dem Gerichtshofe vorauseilen! Ein Unbekannter ist es, Sie, mein Herr Folgat, welcher mir das erste Zeugnis der Teilnahme gibt.«

»Ah, das ist nicht wahr«, rief Folgat aus, »und Sie wissen das wohl!«

Jacques schien nicht auf ihn zu hören.

»Freunde!« fuhr er in demselben bitteren Tone fort. »Ja, es ist wahr, ich hatte Freunde in den Tagen des Glückes . . . Herr Galpin-Daveline, Herr Daubigeon waren meine Freunde . . . Der eine wurde mein Verfolger, der furchtbarste und unversöhnlichste Verfolger; der andere, der Staatsanwalt, hat nicht einmal den Versuch gemacht, mir zu Hilfe zu kommen . . . Herr Magloire war ebenfalls mein Freund, und hundertmal hat er mir gesagt, daß ich auf ihn rechnen könne, wie er auf mich rechnen konnte, und ihn unter allen hatte ich gewählt, mir mit seinem Rat und mit seiner Erfahrung beizustehen . . . und als ich es unternahm, ihm meine Unschuld zu eröffnen, hat er mir erwidert, daß ich lüge.«

Der berühmte Anwalt von Sauveterre versuchte abermals zu protestieren, aber vergeblich.

»Verwandte!« fuhr Jacques in einem Tone fort, in dem all sein Zorn vibrierte; »ja, Sie haben recht, ich habe einen Vater und eine Mutter . . . Wo sind sie? Mein Vater ist in Paris geblieben, ganz mit seinen gewohnten Zerstreuungen beschäftigt; meine Mutter ist nach Sauveterre gekommen, wo sie sich in diesem Augenblicke befindet, aber vergeblich hat man sie wissen lassen, daß es nun gestattet ist, mich zu besuchen . . . Ich erwartete sie gestern, aber der Unglückliche, eines Verbrechens Beschuldigte, ist nicht mehr ihr Sohn! Vergeblich habe ich aus der Tiefe des Abgrundes nach ihr gerufen, vergeblich habe ich geharrt und die Sekunden nach den Schlägen meines Herzens gezählt! Sie ist nicht gekommen . . . Niemand ist gekommen. Ich bin künftig allein in der Welt, und Sie sehen also wohl, daß ich das Recht habe, über mich zu verfügen . . .«

Herr Folgat dachte nicht daran, zu streiten – zu welchem Zwecke auch? Läßt sich mit der Verzweiflung rechten? Er sagte einfach:

»Sie vergessen Fräulein von Chandoré, mein Herr.«

Das Blut schoß in Jacques' Wangen, und mit einem tiefen Schauer murmelte er:

»Denise!«

»Ja, Denise«, fuhr der junge Anwalt fort. »Sie vergessen ihren Mut, ihre Ergebenheit und alles das, was sie schon für Sie gewagt hat. Sagen Sie doch, ob diese Sie verlassen, ob diese Sie verachtet und verleugnet, diese, welche all ihre Schüchternheit, all ihre jungfräuliche Zurückhaltung aufgab, um Sie zu sehen und sich eine lange Nacht im Gefängnis einschließen zu lassen! Es war ihre Ehre, die sie riskierte, denn sie konnte verraten und entdeckt werden, das wußte sie. Einerlei! Sie hat nicht gezaudert . . .«

»Oh, Sie sind fürchterlich, mein Herr!« unterbrach ihn Jacques, und gewaltsam den Arm des Anwalts pressend, fuhr er fort:

»Begreifen Sie denn nicht, daß es die Erinnerung an Denise ist, welche mich tötet, und daß mein Unglück um so entsetzlicher erscheint, weil ich weiß, welche Treue ich verliere? Sehen Sie denn nicht, daß ich Denise liebe, wie nie ein Weib geliebt worden ist? Ach, wenn es sich nur um mich allein handelte! Mit mir ist's wenig, ich habe nur einen Schritt zu tun, um zu enden. Aber sie! O mein Gott, warum mußte ich sie auf meinem Wege finden!«

Er schwieg eine Minute, dann fuhr er fort:

»Und dennoch ist sie sowenig erschienen wie meine Mutter! Warum? Ohne Zweifel hat man ihr alles erzählt. Man hat ihr gesagt, zu welchem Zweck ich mich am Abend des Verbrechens in Valpinson befand.«

»Sie täuschen sich, Jacques«, erklärte Magloire. »Fräulein von Chandoré weiß nichts.«

»Ist das möglich!«

»Ja, Herr Magloire hat in ihrer Gegenwart nicht gesprochen«, versetzte Folgat; »und wir haben Herrn von Chandoré das Versprechen abgenommen, daß er das Geheimnis bewahren möge. Ich habe mich dafür erklärt, daß Ihnen allein das Recht zustehe, Fräulein Denise die ganze Wahrheit mitzuteilen.«

»Nun dann, wie erklärt sie sich denn, daß ich mich nicht verteidigt habe?«

»Sie erklärt es sich gar nicht.«

»Großer Gott! So glaubt sie mich schuldig?«

»Und wenn Sie selbst ihr sagen würden, daß Sie schuldig seien, sie würde Ihnen nicht glauben.«

»Und dennoch ist sie gestern nicht gekommen . . .«

»Sie konnte nicht, mein Herr. Wenn man auch ihr die Wahrheit vorenthalten hat, so durfte dies doch mit Ihrer Mutter nicht geschehen. Frau von Boiscoran ist durch diesen letzten Schlag niedergeschmettert worden. Länger als eine Stunde war sie ohne Bewußtsein in den Armen Denises, und als sie wieder zu sich kam, waren Sie ihr erstes Wort, aber es war schon zu spät, um sich noch ins Gefängnis begeben zu können.«

Seitdem Herr Folgat den Namen Denise genannt, hatte er das sicherste und vielleicht einzige Mittel gefunden, Jacques' Willen zu brechen.

»Wie soll ich Ihnen danken!« sagte er leise.

»Dadurch, daß Sie mir schwören, ein für allemal die unselige Absicht aufzugeben, die Sie gefaßt hatten«, erwiderte der junge Anwalt. »Wären Sie schuldig, so würde ich Ihnen sagen: Sei es! und ich wäre der erste, der Ihnen eine Waffe in die Hand drückte. Dann wäre der Selbstmord nur eine Sühne. Unschuldig aber, haben Sie nicht das Recht, sich zu töten, denn Ihr Selbstmord käme einem Eingeständnis gleich.«

»Was soll ich tun?«

»Sich verteidigen! Kämpfen!«

»Ohne Hoffnung?«

»Ja, selbst ohne Hoffnung. Haben Sie jemals im Angesicht des Feindes den Kopf verloren? Nein. Sie wußten vielleicht, daß die Preußen weit in der Übermacht waren und wahrscheinlich Sieger sein würden . . . gleichviel! . . . Wohlan, auch jetzt befinden Sie sich vorm Feind, und hätten Sie auch die Gewißheit, unterliegen zu müssen, das heißt verurteilt zu werden, so würde ich Ihnen doch sagen: ›Es ist nötig, sich zu schlagen!‹ Und wären Sie verurteilt und müßten am andern Morgen das Schafott besteigen, so würde ich Ihnen noch immer zurufen: ›Sie müssen kämpfen bis zum letzten Atemzuge, denn noch da kann der Schuldige entdeckt werden und die Rettung Ihrer harren.‹ Sollte aber ein so glückliches Ereignis nicht eintreten, so würde ich Ihnen trotzdem wiederholen: ›Es ist nötig, den Henker zu erwarten, um von der Höhe des Schafotts herab gegen den Irrtum der Justiz zu protestieren, dessen Opfer Sie wären, und ein letztes Mal Ihre Unschuld zu beteuern.‹«

Während dieser Worte Folgats hatte Jacques sich allmählich mehr gefaßt.

»Mein Herr«, sagte er jetzt, »ich schwöre Ihnen bei meiner Ehre, daß ich Mut haben will bis zum Ende!«

»Gut«, sagte Magloire. »Sehr gut!«

»Aber was haben wir jetzt zu unternehmen?« fragte Jacques.

»Vor allem«, erwiderte Folgat, »werde ich beantragen, daß die von Herrn Galpin-Daveline so unvollständig geleitete Untersuchung zu Ihren Gunsten wiederaufgenommen werde. Noch heute abend reise ich mit Ihrer Mutter nach Paris zurück. Ich bin gekommen, von Ihnen die erforderlichen Informationen zu erbitten, ebenso die Mittel, um Ihr Haus in der Rue de la Vigne zu durchsuchen und den Freund, dessen Namen Sie geführt, sowie die Dienerin, welche Sie in Passy hatten, wieder aufzufinden . . .«

Ein Klirren der Riegel unterbrach ihn. Die Klappe am Guckloch der Zellentür öffnete sich, und am Gitter erschien das gerötete Gesicht Blangins.

»Mein Herr«, sagte er, »Frau von Boiscoran ist im Sprechzimmer und läßt Sie bitten, hinunterzukommen, wenn Ihre Unterredung mit diesen Herren zu Ende ist.«

Jacques wurde sehr bleich.

»Meine Mutter!« flüsterte er.

Aber sofort fügte er hinzu, gegen den Wärter gewendet: »Bleiben Sie hier! Wir sind gleich zu Ende.« Seine Bewegung war so groß, daß er sie nicht zu bemeistern vermochte.

»Meine Herren«, fuhr er fort, »an diesem Punkte müssen wir für heute stehenbleiben. Ich habe meine Gedanken nicht mehr beieinander.«

Aber Herr Folgat hatte, wie er bereits gesagt, den Entschluß gefaßt, noch an demselben Tage nach Paris zurückzureisen.

»Der Erfolg hängt von der Schnelligkeit unserer Bewegungen ab«, erklärte er. »Gestatten Sie mir also, darauf zu bestehen, daß ich sogleich die gewünschten Informationen erhalte.«

Traurig schüttelte Jacques den Kopf.

»Was Sie unternehmen wollen, ist ein vergeblicher Versuch«, sagte er.

»Tun Sie, was mein Kollege verlangt«, versetzte Magloire.

Und ohne weiter zu widerstehen, vielleicht auch von der geheimen Hoffnung getrieben, daß sich eine Entdeckung bewirken lasse, gab Herr von Boiscoran dem Pariser Anwalt die genauesten Umstände seiner Verbindung mit Frau von Claudieuse an. Er teilte ihm mit, zu welchen Stunden sie in die Rue de la Vigne zu kommen pflegte, welchen Weg sie nahm und wie sie meist gekleidet war.

Die Schlüssel des Hauses befanden sich zu Boiscoran in einem Schubfach, welches Jacques näher bezeichnete. Es war deshalb nur nötig, sich an Antoine zu wenden.

Er sagte ferner, wie es vielleicht möglich wäre, jenen Engländer, seinen Freund, dessen Namen er entlehnt hatte, zu finden. Sir Francis Burnett hatte in London einen Bruder. Jacques kannte zwar nicht genau dessen Adresse, aber er wußte, daß er bedeutende Geschäfte mit Indien machte und daß er früher Erster Kassier des berühmten Bankhauses Gilmore und Benson gewesen war.

Was die englische Dienstmagd anlangte, so war sie drei Jahre seine Wirtschafterin in der Rue de la Vigne gewesen, Jacques hatte sie gleichsam mit geschlossenen Augen eingestellt, lediglich auf die Empfehlung eines Gesindevermittlungsbüros in der Rue du Faubourg Saint-Honoré hin, und nie hatte er sich weiter mit ihr beschäftigt, als ihr den Lohn zu zahlen oder von Zeit zu Zeit ein Geschenk zu machen. Alles, was er außerdem zu sagen wußte und was er rein zufällig erfahren hatte, war, daß das Mädchen sich Suky Wood nannte, daß sie in Folkestone geboren war, wo ihre Eltern eine Matrosenherberge unterhielten, und daß sie, bevor sie nach Frankreich gekommen war, in Liverpool gewohnt hatte, wo sie Kammermädchen im Hotel Adelphi gewesen war.

Herr Folgat notierte sich sorgfältig alle diese Mitteilungen.

»Und mehr bedarf es nicht, um den Feldzug zu beginnen«, sagte er. »Ich habe von Ihnen nun nichts mehr zu erbitten als Namen und Adressen Ihrer Lieferanten in der Rue de la Vigne.«

»Sie finden diese in einem kleinen Notizbuch verzeichnet, welches in demselben Schubfach liegt, wo die Hausschlüssel sich befinden. Dort sind auch alle das Haus betreffenden Dokumente und Papiere. Sie können außerdem vielleicht den alten Antoine befragen, der ein mir sehr ergebener Mensch ist.«

»Gewiß werde ich ihn ausforschen, wenn Sie dies erlauben«, sagte der junge Anwalt.

Hierauf steckte er sorgfältig alle seine Notizen ein.

»Meine Reise«, fügte er hinzu, »dauert nur drei oder vier Tage, und nach meiner Rückkehr stellen wir den Umständen gemäß unsern Verteidigungsplan auf. Bis dahin, mein werter Klient, guten Mut!« Herr Folgat rief nunmehr den Wärter, welcher ihm die Tür öffnete. Beide Anwälte drückten Jacques von Boiscoran die Hand und verabschiedeten sich.

»Nun, steigen wir jetzt hinunter?« fragte der Wärter den Gefangenen.

Jacques antwortete nicht. Aus dem tiefsten Grunde seines Herzens hatte er den Besuch seiner Mutter ersehnt, doch nun, da sie gekommen war, in dem Moment, da er sie sehen sollte, fühlte er sich von allen möglichen unbestimmten Besorgnissen bestürmt. Das letzte Mal, als er sie umarmt hatte, war er in Paris, in dem schönen Salon ihres Palais. Er schied damals, das Herz voll Freude und Hoffnung, um seine geliebte Denise wiederzusehen, und er erinnerte sich, daß seine Mutter damals zu ihm sagte: »Ich sehe dich nun nicht eher wieder als am Tage vor deiner Hochzeit.«

Und nun war es im Sprechzimmer eines Gefängnisses, wo er als Gefangener, eines schweren Verbrechens bezichtigt, sie wiedersehen sollte.

Und vielleicht zweifelte auch sie an seiner Unschuld.

»Mein Herr, die Frau Marquise wartet auf Sie!« beharrte der Gefängniswärter.

Die Stimme dieses Mannes weckte Jacques aus seinem tiefschmerzlichen Sinnen.

»Ich bin bereit«, versetzte er, »gehen wir!«

Und indem er die Treppe hinabschritt, war er nur damit beschäftigt, seinem Gesicht den Ausdruck der Gefaßtheit zu geben und sich mit Mut und Kaltblütigkeit zu waffnen.

»Denn es ist nicht nötig«, sagte er sich, »daß sie das Schreckliche meiner Lage ahnt.«

Am Fuße der Treppe sagte Blangin, eine Tür öffnend:

»Hier ist das Sprechzimmer. Wenn die Frau Marquise sich wieder entfernen will, rufen Sie mich.«

Auf der Schwelle blieb Jacques stehen.

Das Sprechzimmer des Gefängnisses zu Sauveterre ist ein weiter leerer Saal, von zwei kleinen Fenstern erhellt, die mit doppelten Gittern von starken Eisenstäben verwahrt sind. Außer einer langen, an der Wand befestigten Bank kein einziges Möbel. Die Wände sind feucht und schmutzig.

Auf der Bank saß in der vollen Helligkeit des Fensters die Marquise, oder vielmehr sie war darauf hingesunken und schien in Sinnen verloren. Jacques vermochte kaum einen Schrei des Schmerzes zu unterdrücken.

War diese alte abgezehrte Frau mit dem bleifarbenen Gesicht, mit den geröteten Augen und zitternden Händen seine Mutter?

»O mein Gott!« murmelte er.

Sie hörte es, denn sie richtete den Kopf empor, und ihren Sohn erkennend, versuchte sie aufzustehen: aber ihre Kräfte verließen sie, und sie fiel schwer auf die Bank zurück.

»Jacques, mein Sohn!« rief sie aus.

Sie war ebenfalls betroffen, als sie sah, was zwei Monate der Ängste und Schlaflosigkeit aus Jacques gemacht hatten.

Er kniete zu ihren Füßen nieder auf die schmutzigen Steinplatten und sagte mit kaum hörbarer Stimme, fast stammelnd:

»Verzeihst du mir die furchtbaren Leiden, die ich dir verursache?«

Sie betrachtete ihn einige Momente mit irrem Ausdruck, dann faßte sie seinen Kopf mit beiden Händen und preßte ihn mit leidenschaftlicher Gewalt an sich.

»Ob ich dir verzeihe!« rief sie . . . »Oh, ich habe dir nichts zu verzeihen. Selbst wenn du schuldig wärst, würde ich dich doch immer lieben, und du bist unschuldig! . . .«

Jacques atmete frei auf. Er fand in dem Ausdruck seiner Mutter, daß sie nicht an ihm zweifelte.

»Und mein Vater?« fragte er forschend.

Ein flüchtiges Rot färbte die bleichen Wangen der Marquise.

»Ich sehe ihn morgen«, erwiderte sie ausweichend; »denn ich reise heute abend mit Herrn Folgat nach Paris.«

»Wie, du willst in deinem angegriffenen Zustand reisen?«

»Es muß sein.«

»Kann mein Vater nicht auf acht Tage seine Sammelliebhaberei verlassen? Warum ist er nicht hier? Hält er mich für schuldig?«

»Eben weil er dich bestimmt für unschuldig hält, ist er in Paris geblieben. Er glaubt dich nicht in Gefahr, und er setzt voraus, daß das Gericht sich nicht irren könne.«

»Das hoffe ich auch!« versetzte Jacques mit gezwungenem Lächeln, und rasch den Ton wechselnd, setzte er hinzu:

»Und wie befindet sich Denise? Warum hat sie dich nicht hierherbegleitet?«

»Weil ich es nicht wollte. Sie weiß von nichts. Es ist ausgemacht worden, daß vor ihr der Name der Gräfin von Claudieuse nicht genannt werde, und doch wollte ich mit dir über diese Frau sprechen! . . . Jacques, mein armes Kind, sieh, wohin dich eine schuldhafte Leidenschaft geführt hat!«

Er erwiderte nichts.

»Liebtest du sie?« fragte Frau von Boiscoran.

»Ich habe geglaubt, sie zu lieben.«

»Und sie?«

»Oh! Sie! . . . Gott allein kennt das Geheimnis dieser verstörten Seele.«

»Es scheint von ihr nichts zu erwarten zu sein, kein Mitleid, keine Reue . . .«

»Nichts! Ich habe alle Hoffnung aufgegeben. Sie rächt sich. Sie hat mich überlistet.«

Die Marquise seufzte.

»Das ist's, was ich ebenfalls denke«, sagte sie. »Am letzten Sonntag, als ich noch von nichts wußte, befand ich mich neben ihr in der Kirche, und unwillkürlich bewunderte ich ihre ruhige Sammlung, die Reinheit ihres Blickes, die edle Einfachheit ihrer Haltung. Gestern, als ich die Wahrheit erfuhr, hat's mich durchschauert. Ich habe begriffen, wie schwer eine Frau anzugreifen ist, die eine solche Ruhe erheucheln kann, während ihr Liebhaber wegen eines Verbrechens im Gefängnis ist, das sie selbst begangen hat.«

»Nichts in der Welt vermag diese Frau außer Fassung zu bringen, liebe Mutter.«

»Und doch mag sie im geheimen zittern, mein Sohn, denn sie kann sich wohl vorstellen, daß du uns alles mitgeteilt hast. Welche Maßregeln werden ergriffen werden müssen, um sie endlich zu entlarven?«

Das Erscheinen Blangins unterbrach diese Unterredung. Er kam, um anzuzeigen, daß die Zeit abgelaufen sei und daß die Frau Marquise den Besuch beenden müsse.

Diese zog sich zurück, nachdem sie ein letztes Mal ihren Sohn umarmt hatte.

Und noch an demselben Abend reiste sie, wie verabredet worden war, in Begleitung Folgats und des alten Antoine nach Paris ab.


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