Emile Gaboriau
Der Strick um den Hals
Emile Gaboriau

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

15

Der Doktor war mit einem Sprung auf den Beinen und rief, schon mit dem Stock in der Hand und dem Hut auf dem Kopf:

»Wo ist er?«

»Im Hospital, wo ich ihn selbst in einem abgelegenen Zimmer untergebracht habe.«

»Ich eile hin.«

»Wie, zu dieser Stunde?«

»Bin ich nicht Hospitalarzt, und muß es mir nicht zu jeder Stunde bei Tag und bei Nacht geöffnet sein?«

»Die Barmherzigen Schwestern werden schlafen.«

Der Doktor zuckte wenigstens zum zehnten Male die Achseln.

»Das ist freilich wahr«, rief er, »und es wäre ein Majestätsverbrechen, den Schlaf dieser guten, lieben, frommen Schwestern zu stören . . . O Herr Bürgermeister, wann werden wir endlich Laien-Medizin treiben, und wann werden wir Ihre heiligen Jungfern gegen wackere und handfeste Krankenpfleger austauschen?«

Herr Sénéchal hatte über diesen Gegenstand schon zu viel Streitigkeiten mit dem Doktor gehabt, als daß er sich in einen neuen Disput eingelassen hätte. Er schwieg und tat wohl daran, denn Herr Seignebos setzte sich wieder hin und sagte: »Gut denn – ich will bis morgen warten.«

Das Hospital von Sauveterre gilt, trotz seines beschränkten Umfangs, als eine der besten Wohltätigkeitsanstalten der beiden Charente-Bezirke.

Die Kapelle und die neuen Gebäude verdankt man der Mildtätigkeit der Gräfin von Maupaisan, Witwe des Ministers Louis Philippes.

Aber weniger bekannt ist, daß man der Frau Sénéchal die Stiftung dreier Betten für Mütter verdankt. Ebenso sind durch ihre Beihilfe die beiden Pavillons an den Seiten der Eingangstür errichtet worden.

Einen dieser Pavillons, den zur Rechten, bewohnt der Portier Vaudevin, ein stattlicher Greis, ehemals Schweizer an der Kathedrale, der sich noch jetzt mit Vorliebe der Zeit erinnert, da er durch seine prächtige Erscheinung, durch seine rote Uniform, durch sein goldenes Wehrgehänge, durch seine Hellebarde und durch seinen Stock mit silbernem Knopf zum Pomp des Gottesdienstes beitrug.

Dieser Portier stand an einem Sonntagmorgen, etwa gegen acht Uhr, seine Pfeife rauchend, im Hof, als er den Doktor Seignebos anlangen sah.

Der Doktor schritt noch mehr stoßweise als gewöhnlich, den Hut bis auf die Augen herabgedrückt – ein Zeichen von Unwetter – und die Hände bis an die Ellbogen in die Taschen vergraben.

Anstatt, wie an anderen Tagen, zuvor in das kleine Kabinett der Schwester Apothekerin einzutreten, stieg er diesmal geradewegs in das Zimmer der Oberin hinauf. Hier angelangt, sagte er mit flüchtigem Gruß:

»Gestern, meine Schwester, hat man Ihnen einen Kranken, einen Schwachsinnigen namens Cocoleu, hergebracht.«

»So ist es, Doktor!«

»Wo haben Sie ihn untergebracht?«

»Der Bürgermeister selbst hat ihn in einer kleinen Kammer, dem Wäschezimmer gegenüber, untergebracht.«

»Und wie hat er sich aufgeführt?«

»Sehr gut; die wachhaltende Schwester hat ihn nicht einmal sich bewegen sehen.«

»Ich danke Ihnen, meine Schwester«, sagte der Doktor Seignebos.

Und schon hatte er die Tür wieder erreicht, als die Oberin ihn zurückhielt.

»Beabsichtigen Sie etwa, diesen Unglücklichen zu besuchen, Herr Doktor?« fragte sie.

»Ja, meine Schwester, weshalb nicht?«

»Weil Sie ihn nicht sehen können.«

»Ich kann nicht?«

»Nein. Wir haben vom Herrn Staatsanwalt den Befehl bekommen, niemanden, wer es auch sei, außer der Schwester, die ihn pflegt, bei Cocoleu zuzulassen. Hören Sie? Niemanden, Doktor, selbst den Arzt nicht ausgenommen, es wäre denn im Falle dringender Notwendigkeit –«

Herr Seignebos hörte sie mit ironischer Miene an.

»Ah! Sie haben diesen Befehl!« rief er höhnisch lachend; »wohlan, ich erkläre Ihnen aber, daß ich ihn für null und nichtig ansehe. Mir die Besichtigung meines Patienten zu untersagen! . . . Seht an! Mag der Herr Staatsanwalt in seinem Gerichtshof befehlen, maßregeln so viel ihm beliebt, aber hier . . . in meinem Hospital –! Verehrte Schwester, ich gehe zu Cocoleu!«

»Sie werden nicht eintreten, Doktor, es ist ein Gendarm zu seiner Bewachung vor der Tür!«

»Ein Gendarm!«

»Der heute morgen mit dem strengsten Verhaltungsbefehl angelangt ist.«

Einen Augenblick stand der Doktor wie betäubt da. Dann aber rief er mit erschreckender Heftigkeit und mit einer Stimme, die die Fensterscheiben erzittern ließ:

»Das ist ein unerhörtes Verfahren! Das ist ein unerträglicher Mißbrauch der Gewalt! Und bei hunderttausend Blitz- und Donnerwettern, ich werde recht behalten, werde mir Genugtuung schaffen, und wenn ich bis zu Herrn Thiers gehen sollte.«

Und diesmal, ohne zu grüßen, stürzte er hinaus, durcheilte den Hof und war wie ein Blitz in der Richtung verschwunden, wo die Wohnung des Staatsanwalts lag.

Zu derselben Zeit war Herr Daubigeon nach einer schlechten Nacht in mißvergnügter Stimmung aufgestanden, denn »dieser Prozeß von Boiscoran«, wie man sich schon ausdrückte, nahm auf eine beunruhigende Weise alle seine Gedanken in Anspruch.

Im Grunde war er nahe daran, Herrn Galpin-Davelines Meinung zu teilen. Vergeblich rief er sich Jacques' noblen Charakter ins Gedächtnis, seine tadellose Rechtlichkeit, sein lebhaftes Ehrgefühl . . . die Beweise waren da, gleichsam auf frischer Tat ertappt, unwiderleglich.

Er wollte zweifeln, aber die unerbittliche Erfahrung rief ihm zu, daß die Vergangenheit eines Menschen seine Zukunft nicht verbürgt. Und überdies dachte er wie so viele Kriminalbeamte, wenn er es auch nicht auszusprechen wagte, daß viele große Verbrecher im Augenblick des Handelns gleichsam der Gewalt eines Rauschzustandes verfallen scheinen und daß sich aus diesem Umstand die Einfalt, ja die Naivität erklärt, mit welcher gewisse Verbrechen durch Leute von durchaus überlegener Geisteskraft verübt werden.

Mochte dem sein, wie ihm wollte. Seit seiner Rückkehr aus Boiscoran hatte er sich eigensinnig eingeschlossen, und er gelobte sich, den ganzen Tag nicht einen Schritt hinaus zu tun, als an seiner Tür die Glocke zum Zerspringen geläutet wurde.

Gleich darauf fiel der Doktor Seignebos wie eine Bombe herein.

»Ich weiß, was Sie herführt«, rief ihm Herr Daubigeon entgegen. »Es ist der Befehl, den ich in betreff Cocoleus ausgestellt habe.«

»So ist es, mein Herr; dieser Befehl ist eine Herausforderung!«

»Er ist in aller Form von Herrn Galpin-Daveline verlangt worden.«

»Und Sie haben ihn nicht ausgeschlagen. Sie allein mache ich daher verantwortlich. Sie sind Staatsanwalt, mithin Chef der Staatsanwaltschaft, und der Vorgesetzte des Herrn Galpin.«

Herr Daubigeon schüttelte den Kopf.

»Da sind Sie im Irrtum, Doktor«, sagte er. »Der Untersuchungsrichter hängt weder von mir noch vom Tribunal ab. Er ist gewissermaßen sogar unabhängig vom Oberstaatsanwalt, der ihm wohl Zufertigungen machen, aber keine Verhaltungsmaßregeln erteilen kann. Herr Galpin-Daveline übt als Untersuchungsrichter eine besondere Gerichtsbarkeit aus und ist mit fast unbeschränkter Vollmacht versehen . . . Mehr als sonst jemand kann er mit dem Poeten sagen:

Hoc volo, sic jubeo, sit pro ratione voluntas.

Also verlang' und befehl' ich, und mein Wille genügt.«

Augenscheinlich fühlte sich Herr Seignebos durch die Haltung Herrn Daubigeons entwaffnet.

»Also«, sagte er, »hat Galpin sogar das Recht, einen Kranken der Sorge seines Arztes zu berauben?«

»Auf seine Verantwortung hin, ja. Aber dies ist nicht seine Absicht. Er nahm sich sogar vor, Sie heute offiziell einzuberufen, obgleich es Sonntag ist, um an diesem Morgen einem neuen Verhör Cocoleus beizuwohnen . . . Es wundert mich, daß Sie nicht schon eine Notiz erhalten haben oder daß Sie Galpin nicht zur Stunde Ihres Besuchs im Hospital begegnet sind.«

»Wenn es so ist, eil' ich hin!« rief der Doktor. Damit zog er hastig ab, und seine Hast war nicht vergeblich; auf der Schwelle des Hospitals sah er sich Herrn Galpin-Daveline gegenüber, der, von seinem unvermeidlichen Schreiber Méchinet gefolgt, feierlichen Schritts daherkam.

»Sie kommen sehr zur rechten Zeit, Herr Doktor«, begann der Richter.

Aber so eilig der Lauf des Doktors gewesen, so hatte er ihm doch Zeit gegeben, sich zu besinnen und zu beruhigen. Anstatt also in Vorwürfe auszubrechen, sagte er im Ton höhnischer Artigkeit:

»Ja, das weiß ich. Es ist in betreff des armen Teufels, dem Sie einen Gendarmen zum Krankenpfleger gesetzt haben. Wir können gehen, ich bin ganz zu Ihren Diensten.«

Das Zimmer, in dem man Cocoleu untergebracht, war groß, mit Kalk geweißt, und hatte keine anderen Möbel als ein Bett, einen Tisch und zwei Stühle. Das Bett war gewiß gut, aber der Schwachsinnige hatte Matratze und Decken herausgeworfen und sich in seinen Kleidern auf den Strohsack geworfen.

So wurde er von dem Doktor und dem Richter vorgefunden.

Bei ihrem Anblick richtete er sich auf, stieß aber, sobald er den Gendarmen erblickte, einen Schrei aus und machte eine Bewegung, als versuchte er sich unter dem Bett zu verstecken.

Dies war so verständlich, daß Herr Galpin-Daveline dem Gendarmen befahl, hinauszugehen.

»Fürchte nichts, mein Bursche«, sagte er dann, »wir werden dir nichts Böses tun. Du sollst uns nur antworten. Erinnerst du dich dessen, was in der verflossenen Nacht in Valpinson geschehen ist?«

Cocoleu brach in ein Lachen aus, in jenes markerschütternde Lachen, wie es den Schwachsinnigen eigen ist, aber er antwortete nicht.

Vergebens änderte der Richter während einer Stunde seine Fragen, indem er bald bat, bald drohte, bald Versprechungen machte; er entriß ihm nicht eine Silbe.

Endlich war seine Geduld erschöpft.

»Gehen wir«, sagte er, »dieser Elende steht offenbar noch unter dem Vieh.«

»Stand er denn darunter, mein Herr«, fragte der Doktor, »als er Ihnen Herrn von Boiscoran angab?«

Aber der Richter schien ihn nicht zu hören und sagte, indem er Cocoleu verließ, sich zu dem Arzte wendend:

»Sie wissen, daß ich Ihren Rapport erwarte, Doktor!«

»In achtundvierzig Stunden werde ich die Ehre haben, Ihnen diesen zuzustellen, mein Herr«, antwortete Seignebos, und indem er sich entfernte, fügte er in den Bart brummend hinzu:

»Und dieser Rapport könnte Sie sogar nicht wenig genieren, Herr Richter!«

Herr Galpin-Daveline würde in einen schönen Zorn geraten sein, wenn er die Wahrheit geahnt hätte.

Denn der Rapport des Doktors Seignebos war schon fertig, und wenn er ihn nicht gleich dem Untersuchungsrichter einhändigte, so geschah das, weil er berechnet hatte, daß, je länger er ihn zurückhielt, die Wahrscheinlichkeit sich vergrößerte, den Plan der Untersuchung zu stören.

»Weil ich ihn noch zwei Tage bei mir behalte«, dachte er, während er nach Hause zurückkehrte, »warum sollte ich ihn nicht dem Anwalt mitteilen, der mit Frau von Boiscoran aus Paris gekommen ist? Nichts hindert mich, soviel ich wüßte, denn in seiner Aufregung hat dieser arme Galpin vollständig vergessen, mir meinen Eid abzufordern . . .«

»Aber . . .« unterbrach er sich.

Ja oder nein? Hatte er nach dem Gesetz, welches die gerichtliche Medizin regelt, das Recht, einen Gegenstand der Untersuchung dem Anwalt des Angeklagten mitzuteilen?

Diese Frage beunruhigte ihn.

Denn wenn er sich rühmte, nicht an Gott zu glauben, so glaubte er doch felsenfest an seine Berufspflicht und hätte sich eher in Stücke hauen lassen, als eine ärztliche Verpflichtung zu versäumen.

»Mein Recht liegt klar am Tage«, brummte er, »es ist unwiderleglich. Ich habe für mich die Entscheidung des Kassationshofes vom 27. November und vom 27. Dezember 1828, und diejenige vom 13. Juni 1835, vom 9. Mai 1844 und vom 26. Juni 1863.«

Das Resultat dieser Erwägung war, daß der Doktor, sobald er gefrühstückt hatte, seinen Rapport zu sich steckte, auf den abgelegensten Seitenwegen in die Rue de la Montagne ging und bei Herrn von Chandoré klingelte.

Die Tanten Lavarande und Frau von Boiscoran waren noch in der großen Messe, wo sie aus Klugheit geglaubt hatten sich zeigen zu müssen, und nur Fräulein Denise, Großvater Chandoré und Herr Folgat waren in dem Salon.

Nicht gering war das Staunen des alten Edelmanns, als er den Doktor erscheinen sah.

Herr Seignebos war zwar sein Arzt, aber es herrschten zwischen ihnen solche Meinungsverschiedenheiten, daß er außer in Krankheitsfällen nie das Haus betrat.

»Wenn Sie mich hier sehen«, rief der Doktor schon von der Schwelle aus, »so geschieht das, weil ich im Grund meines Herzens und Gewissens glaube, daß Jacques unschuldig ist.«

Diese Worte allein hätten hingereicht, daß Denise ihm an den Hals geflogen wäre; mit dankbarer Zuvorkommenheit rückte sie ihm einen Lehnstuhl hin und sagte mit ihrer sanftesten Stimme:

»Bitte, nehmen Sie Platz, lieber Doktor.«

»Danke«, antwortete er barsch, »sehr verbunden!«

Und indem er sich insbesondere zu Herrn Folgat wandte, fügte er, auf seinen Zweck zurückkommend hinzu:

»Meine Überzeugung ist, daß Herr von Boiscoran Opfer des Mutes ist, mit dem er seine republikanischen Ansichten offenkundig bekannt hat, Herr Baron!«

Großvater Chandoré stand da, ohne auch nur mit den Wimpern zu zucken.

Man hätte ihm hinterbringen können, er sei Mitglied der Kommune gewesen, es hätte ihn wahrscheinlich nicht mehr beunruhigt. Denise liebte ihn. Das war genug.

»Aber ich«, fuhr der Doktor fort, »bin radikal – ich, Herr . . .«

»Folgat«, antwortete der Anwalt, an den er die letzten Worte richtete.

»Ja, Herr Folgat, und es ist meine Pflicht, einen Mann zu verteidigen, dessen politische Überzeugung der meinigen nahesteht. Darum bin ich gekommen, Ihnen meinen medizinischen Rapport zu bringen, damit Sie daraus Ihren Vorteil zu Herrn von Boiscorans Verteidigung ziehen und mir Ihre Gedanken mitteilen können.«

»Oh! das ist ein höchst bedeutender Dienst, mein Herr!« rief der junge Anwalt.

»Aber – verstehen wir uns wohl«, fügte der Arzt in strengem Ton hinzu; »wenn ich sage, daß ich die Ansichten, die Sie hegen, annehmen könnte, so heißt das: nur in dem Fall, daß sie die Wahrheit auf keine Weise beeinträchtigen. Um meinen Sohn, wenn ich einen hätte, dem Schafott zu entreißen, würde ich meine Lippen nicht mit einer Lüge besudeln, die ein Angriff auf die Würde meines Berufs wäre.«

Damit zog er aus der Tasche seines langen Rocks den Rapport, legte ihn auf den Tisch und sagte:

»Ich werde morgen früh kommen, um ihn zurückzunehmen. Bis dahin haben Sie Zeit, ihn durchzugehen. Nur möchte ich Ihnen die Hauptpartie, sozusagen den Kernpunkt, angeben.«

Er schien sich über dies alles mit einer gewissen Zurückhaltung auszudrücken, während er Fräulein Denise unverwandt ansah, als wollte er ihr zu verstehen geben, daß er nicht unzufrieden wäre, wenn sie sich zurückzöge.

Endlich sagte er, als er sah, daß sie keine Anstalten machte:

»Eine Unterhaltung über Gerichtsmedizin wird das Fräulein schwerlich interessieren!«

»Herr Doktor«, fiel das junge Mädchen ihm ins Wort, »wie sollte ich nicht leidenschaftlich interessiert sein, wenn es sich um den Mann handelt, dessen Frau ich werden soll?«

»Es ist nur, weil die Damen gewöhnlich sehr eindrucksfähig sind«, antwortete der Doktor nicht besonders höflich, »und höchst empfindlich.«

»Seien Sie versichert, Herr Doktor, wenn es sich um Jacques' Wohl handelt, werde ich Ihnen die Energie eines Mannes beweisen.«

Der Doktor kannte Denise gut genug, um zu begreifen, daß sie sich nicht entfernen würde.

»Wie es Ihnen gefällt!« brummte er. Und sich zu Herrn Folgat zurückwendend, begann er von neuem: »Sie wissen, daß zwei Flintenschüsse auf Herrn von Claudieuse abgegeben worden sind. Der erste hat die Seite, wie man zu sagen pflegt, nur leicht gestreift. Der zweite, der Schulter und Hals traf, hat ein gehöriges Loch gemacht.«

»Ich weiß das«, sagte der Anwalt.

»Der Unterschied der Wirkung beweist, daß die beiden Schüsse aus ungleicher Entfernung gefallen sind; der zweite viel näher als der erste.«

»Ich weiß, ich weiß.«

»Erlauben Sie. Ich rufe Ihnen diese Umstände ins Gedächtnis, weil sie nicht ohne Belang sind. Mitten in der Nacht zu Herrn von Claudieuse gerufen, machte ich mich alsbald an das Herausziehen der Schrotkörner. Während ich mit meiner Operation beschäftigt war, kam Herr Galpin-Daveline an. Ich erwartete, daß er das schon herausgezogene Schrot zu sehen verlangen würde; es ist ihm nicht einmal in den Sinn gekommen, dermaßen hatte er den Kopf verloren. Ich habe ihm nicht das A-B-C seines Berufes ins Gedächtnis gebracht; das ist nicht meine Sache. Der Arzt muß den Befehlen des Gerichts nachkommen, aber ihnen nicht vorausgehen.«

»Und dann?«

»Dann empfahl sich Herr Galpin, um nach Boiscoran zu gehen, während ich meine Arbeit fortsetzte. Ich zog siebenundfünfzig Schrotkörner aus der Seite und fand hundertundneun Löcher an Schulter und Hals. Und während ich dies tat, wissen Sie, was ich dabei feststellte?«

Er hielt inne, um die Wirkung, die er hervorbrachte, zu beobachten; die Spannung, mit der man aufmerkte, schien ihn zu befriedigen.

»Ich habe gefunden«, fuhr er fort, »daß das Schrot in den beiden Wunden nicht von gleichem Kaliber ist.«

»Ha!« riefen zu gleicher Zeit Herr von Chandoré und Herr Folgat.

»Das Schrot des ersten Schusses«, fuhr Doktor Seignebos fort, »der ihn in die Seite getroffen, ist der feinste Vogeldunst. Das Schrot der Schulterwunde dagegen ist von einer ziemlich starken Nummer, die man, glaube ich, für die Hasen braucht. Ich habe übrigens Proben da.«

Mit diesen Worten faltete er ein Stück weißes Papier auseinander, in dem sich zehn bis zwölf mit geronnenem Blut befleckte Schrotkörner befanden; die verschiedene Größe derselben war in die Augen fallend. Herr Folgat schien betroffen.

»Also sind es zwei Mörder gewesen?« murmelte er.

»Ich denke vielmehr«, sagte Herr von Chandoré, »daß der Mörder wie viele Jäger einen Lauf für kleine Vögel, den andern für Hasen oder Kaninchen geladen hatte.«

»In jedem Fall«, versetzte Herr Folgat, »hebt diese Tatsache jeden Gedanken an Vorbedacht auf. Wenn man die Absicht hat, einen Menschen zu töten, so wird man sein Gewehr nicht mit Schrot laden.«

Da er, seiner Meinung nach, genug gesagt hatte, erhob sich der Doktor Seignebos, um sich zurückzuziehen, als Herr von Chandoré ihn nach dem Befinden des Grafen von Claudieuse fragte.

»Es geht nicht gut«, antwortete der Doktor. »Der Umzug hat ihn trotz aller Vorsichtsmaßregeln gewaltig angegriffen. Er ist nämlich seit gestern einstweilen in Sauveterre einquartiert, in einem Hause, welches ihm Herr Sénéchal in der Rue Mautrec gemietet hat. Die ganze Nacht hat er im Delirium gelegen, und als ich heute früh zu ihm kam, schien er mich nicht zu erkennen.«

»Und die Gräfin?« fragte Denise.

»Frau von Claudieuse, mein Fräulein, ist nicht weniger krank als ihr Gemahl, und wenn sie meinen Worten gefolgt wäre, hätte sie sich ebenfalls niedergelegt. Aber sie ist ein Weib von außerordentlicher Energie und schöpft überdies aus ihrer Liebe zu dem Grafen eine beispiellose Widerstandskraft.«

Während er dies sagte, hatte er bereits die Tür erreicht und fuhr von hier aus fort:

»Was Cocoleu betrifft, so könnte die Untersuchung seiner geistigen Beschaffenheit wohl Besonderheiten aufdecken, auf die man durchaus nicht gefaßt ist . . . Aber wir werden darauf später zurückkommen . . . Und somit, mein Fräulein und meine Herren, habe ich die Ehre, Sie zu grüßen.«

»Nun?« fragten Denise und Herr von Chandoré gespannt, sobald sie hörten, daß die Tür sich hinter dem Doktor Seignebos geschlossen hatte. Aber schon war Herrn Folgats Enthusiasmus erkaltet.

»Ehe ich mich ausspreche«, antwortete er vorsichtig, »muß ich den Bericht dieses würdigen Arztes studieren.«

Unglücklicherweise enthielt dieser Bericht nichts, was Herr Seignebos nicht schon gesagt hatte. Vergeblich benutzte der junge Anwalt seinen Nachmittag, um zu suchen, wie er aus demselben einigen Vorteil ziehen könnte. Er entdeckte ohne Zweifel Argumente, die für die Verteidigung von der größten Wichtigkeit wären, wenn Herr von Boiscoran dem Schwurgericht übergeben würde, aber er fand kein Mittel darin, den Untersuchungsbeschluß selbst anzufechten. Somit blieb das ganze Haus unter dem Einfluß einer furchtbaren Enttäuschung, als gegen fünf Uhr der alte Antoine aus Boiscoran anlangte. Er schien sehr niedergeschlagen.

»Ich bin meines Wachtpostens enthoben«, sagte er; »heute um zwei Uhr kam Herr Galpin und nahm die Siegel ab. Er war von seinem Aktuar Mechinet begleitet und brachte Herrn Jacques mit, der von zwei Gendarmen in Zivilkleidern bewacht war. Nachdem das Zimmer geöffnet war, forderte dieser Unglücks-Galpin Herrn Jacques auf, die Kleider, die er am Abend der Feuersbrunst getragen hatte, seine Stiefel, sein Gewehr und das im Waschbecken befindliche Wasser wiederzuerkennen. Nachdem diese Wiedererkennung erfolgt war, wurde das Wasser in eine große Flasche gegossen, die man versiegelte und einem der Gendarmen übergab. Darauf wurden die Kleidungsstücke des Herrn, seine Flinte, mehrere Pakete Patronen, und endlich verschiedene Dinge, die der Richter Beweisgegenstände nannte, in einen Koffer getan. Der Koffer wurde gleich der Flasche versiegelt und in den Wagen getragen. Dann zog dieser Galpin ab, nachdem er mir gesagt hatte, daß ich frei sei.«

»Und Jacques?« fragte Denise, »wie war sein Verhalten?«

»Der Herr, mein gnädiges Fräulein, lächelte nur verächtlich.«

»Haben Sie mit ihm gesprochen?« fragte Herr Folgat.

»Unmöglich! Herr Galpin-Daveline erlaubte es nicht.«

»Und – hatten Sie nicht Zeit, die Flinte zu untersuchen?«

»Ich konnte nur einen Blick auf die Laufmündungen werfen.«

»Und haben Sie etwas gesehen?«

»Ich habe gesehen«, antwortete er mit dumpfer Stimme, »daß ich wohl daran tat, als ich schwieg. Die Laufmündungen sind schwarz von Pulver – ein Beweis, daß der Herr noch geschossen hat, nachdem ich diese verfluchte Waffe gereinigt.«

Großvater Chandoré und Herr Folgat wechselten einen trostlosen Blick. Das war noch eine Hoffnung, die dahinschwand!

»Jetzt«, hub der junge Anwalt von neuem an, »sagen Sie mir, wie Herr von Boiscoran sein Gewehr zu laden pflegte.«

»Er lud es mit Patronen, mein Herr. Er hatte deren mit der Flinte ich glaube an zweitausend erhalten, teils mit Kugeln, teils mit Schrot von allen Nummern. Während der Wildschonzeit konnte der Herr nur Kaninchen und die kleinen Zugvögel schießen, die man, wie Sie wissen, in den Sumpfgegenden findet. Darum pflegte er den einen Lauf mit ziemlich grobem Blei, den andern mit dem feinsten Vogelschrot zu laden.«

»Es ist schrecklich«, rief Denise, »alles ist gegen uns!«

Herr Folgat aber ließ ihr nicht Zeit, sich weiter zu erklären.

»Mein lieber Antoine«, fuhr er mit seinem Verhör fort, »hat Herr Galpin-Daveline alle Patronen Ihres Gebieters mit fortgenommen?«

»Nein, gewiß nicht, mein Herr!«

»Gut. Sie kehren jetzt sogleich nach Boiscoran zurück und bringen uns drei oder vier Patronen von jeder Schrot-Nummer.«

»Seien Sie versichert«, erwiderte der alte Diener, »daß ich schnellstens zurück bin!«

Mit diesem Versprechen ging er fort und beeilte sich in der Tat so sehr, daß er um sieben Uhr, als die Familie sich eben vom Mittagstisch erhoben hatte und sich im Salon vereinigte, bereits wieder erschien und ein schweres Paket mit Patronen auf den Tisch legte.

Sofort hatten Herr von Chandoré und Herr Folgat einige geöffnet und von der sechsten oder achten an hatten sie zwei Schrot-Nummern gefunden, die genau den Proben glichen, die der Doktor ihnen dagelassen hatte.

»Eine unbegreifliche Geschichte«, murmelte der alte Edelmann.

Der Anwalt selbst schien nahe daran, den Mut zu verlieren.

»Es ist Torheit«, sprach er, »Herrn von Boiscorans Unschuld beweisen zu wollen, ohne sich mit ihm selbst verständigt zu haben.«

»Und wenn man es morgen könnte?« fragte Denise.

»Dann, mein Fräulein, wurde er uns den Schlüssel des Rätsels geben, das wir vergebens zu lösen suchen, jedenfalls aber würde er uns sagen können, in welchem Sinne wir unsere Bemühungen weiter zu führen haben . . . Aber daran ist nicht zu denken. Herr von Boiscoran ist in Untersuchungshaft, und Sie können sich denken, daß Herr Galpin-Daveline gewiß alle Vorsichtsmaßregeln getroffen hat, damit das während der Untersuchungshaft geltende Verbot, mit den Angeklagten zu verkehren, aufrechterhalten wird.«

»Wer weiß!« unterbrach ihn das junge Mädchen. Und alsbald Herrn von Chandoré in eins der kleinen Zimmer, die an den Salon stießen, mit sich fortziehend, fragte sie: »Liebster Großvater – bin ich reich?« In ihrem Leben hatte sie sich darum nicht gekümmert, ja sie wußte in gewissem Sinne den Wert des Geldes kaum zu schätzen.

»Ja, du bist reich, mein Kind«, antwortete der alte Edelmann.

»Wieviel hab' ich?«

»Du besitzest an eigenem Vermögen, das heißt von seiten deines seligen Vaters und deiner Mutter, sechsundzwanzigtausend Livres Renten, das ist ein Kapital von mehr als achtmalhunderttausend Francs –«

»Und das ist viel?«

»Es ist genug, um dich zu einer der reichsten Erbinnen des Saintonge zu machen.«

Denise war von ihrem Gedanken so erfüllt, daß sie auf diese Eröffnung nicht einmal eine Entgegnung gab.

»Was versteht man unter ›Wohlhabenheit‹ in Sauveterre?« fuhr sie fort.

»Das hängt je von den Umständen ab, meine Tochter, und wenn du mir sagen wolltest –«

Sie aber fiel ihm, mit dem Fuße stampfend, ins Wort: »Nichts – ich bitte dich – antworte!«

»Wohlan! Ein Jahreseinkommen von vier- bis achttausend Francs in unserer kleinen Stadt.«

»Setzen wir also sechstausend!«

»Es sei. Mit einem Einkommen von sechstausend Francs erfreut man sich hier einer sehr ehrenwerten Wohlhabenheit!«

»Und wieviel Kapital muß man besitzen, um sechstausend Livres Renten zu haben?«

»Zu fünf Prozent muß man hundertundzwanzigtausend Francs haben.«

»Das heißt etwas über den achten Teil meines Vermögens.«

»Genau so ist's.«

»Gleichviel, ich begreife, daß es eine sehr große Summe ist, und daß es dir liebster Großvater, vielleicht schwerfiele, sie von heute auf morgen zusammenzubringen?«

»Nein, denn ich habe weit mehr als das in Eisenbahnaktien, auf den Inhaber lautend, und Titel solcher Art sind so gut wie bares Geld.«

»Ah! das heißt, wenn ich jemandem hundertzwanzigtausend Francs in diesen Papieren gäbe, so ist das gleich hundertzwanzigtausend Francs in Banknoten?«

»Wie du gesagt hast.«

Denise lächelte, sie näherte sich ihrem Ziele.

»Wenn es so ist«, fuhr sie fort, »so bitte ich dich, liebster Großvater, mir hundertzwanzigtausend Francs in Obligationen zu geben.«

Der alte Edelmann zuckte zusammen.

»Das soll ein Spaß sein!« rief er. »Was willst du tun? Gewiß machst du nur Scherz?«

»Ich habe im Gegenteil niemals ernsthafter gesprochen«, sagte das junge Mädchen in einem Ton, der nicht mißzuverstehen war. »Ich beschwöre dich, liebster Großvater, um deiner Liebe willen zu mir, gib mir hundertzwanzigtausend Francs heute abend, in diesem Augenblick schon . . . du zögerst? Oh, mein Gott! Es ist vielleicht mein Leben, das du mir verweigerst!«

Herr von Chandoré zögerte nicht mehr.

»Weil du es willst«, sagte er, »will ich gehen, das Geld zu holen.«

Sie schlug vor Freude in die Hände.

»So ist es recht«, rief sie, »geh schnell und kleide dich an, denn ich muß ausgehen, und du wirst mich begleiten!«

Und zu den Tanten Lavarande und Frau von Boiscoran zurückkehrend, sagte sie:

»Ihr werdet entschuldigen, daß ich euch verlasse, aber ich muß ausgehen.«

»Um diese Stunde?« fiel Tante Elisabeth ihr ins Wort. »Wo willst du hingehen?«

»Zu meinen Schneiderinnen, den Schwestern Méchinet, ich will mir ein Kleid machen lassen.«

»Herr Jesus!« rief Fräulein Adéläide, »die Kleine verliert ihren Verstand!«

»Ich versichere dir, daß das nicht der Fall ist, Tante!«

»Dann will ich mit dir gehen!«

»Nein, Tante, ich werde allein gehen, wenn es dir gefällt, das heißt allein mit meinem guten Großpapa.«

Als Herr von Chandoré eben erschien, die Taschen voller Wertpapiere, den Hut auf dem Kopf, den Stock in der Hand, zog sie ihn schon mit sich fort und sagte:

»Komm, liebster Großvater, komm, wir haben große Eile.«


 << zurück weiter >>