Emile Gaboriau
Der Strick um den Hals
Emile Gaboriau

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7

Gegen sieben Uhr lenkte der Wagen mit den Gerichtspersonen in den Hof von Boiscoran.

Es war dies ein großer mit Linden bepflanzter und von Wirtschaftsgebäuden umgebener Hof.

Im Schloß war schon alles auf den Beinen. Vor der Tür ihrer Wohnung reinigte die Meierin den Kessel, in dem sie ihre Morgensuppe gekocht; die Mägde der Meierei gingen und kamen, und vor dem Stall stand ein kräftiger Bursche und bürstete aus allen Kräften ein stattliches Rassepferd.

Auf der Freitreppe stand der Kammerdiener des Herrn von Boiscoran, Herr Antoine, überwachte alles und rauchte dabei seine Zigarre.

Antoine war ein Mann in den Fünfzigern und dem Herrn von Boiscoran zugleich mit dem Vermögen als Vermächtnis seines Onkels zugefallen.

Er war verheiratet gewesen und hatte seine Frau verloren; aber seine Tochter stand im Dienst der Marquise von Boiscoran.

Auf der Besitzung seines Herrn geboren und von Jugend auf im Dienste von dessen Familie, sah er sich fast als deren Mitglied an und kannte keinen Unterschied zwischen seinem Interesse und dem der Herrschaft.

In der Tat behandelte man ihn mehr wie einen Freund als wie einen Untergebenen; auch war er überzeugt, in alle Angelegenheiten des Herrn von Boiscoran eingeweiht zu sein.

Als er den Untersuchungsrichter und den Staatsanwalt vom Wagen herabsteigen sah, warf er seine Zigarre fort und sagte, indem er ihnen eilig entgegentrat, mit seinem liebenswürdigsten Lächeln:

»Ah! meine Herren, welch eine angenehme Überraschung! Der Herr wird sehr erfreut sein.«

Mit Fremden hätte sich Antoine diese Vertraulichkeit nicht erlaubt, denn er war sehr förmlicher Natur; aber er hatte Herrn Daubigeon schon öfters auf dem Schloß gesehen und wußte von den Plänen, die zwischen seinem Gebieter und Herrn Galpin-Daveline verhandelt worden waren.

Auch war er nicht wenig erstaunt über die befangene steife Art der beiden Herren und über den Ton, in welchem der Untersuchungsrichter ihn fragte, ob Herr von Boiscoran schon auf sei.

»Noch nicht«, antwortete er, »der Herr hat mir sogar befohlen, ihn nicht zu wecken . . . da er erst spät nach Hause gekommen, wünschte er heute morgen um so länger zu schlafen.«

Unwillkürlich wandten der Richter und der Staatsanwalt die Köpfe ab, weil jeder dem Blick des andern zu begegnen fürchtete.

»So! Herr von Boiscoran ist spät nach Hause gekommen?« wiederholte Herr Galpin-Daveline mit Nachdruck.

»Gegen Mitternacht; eher später als früher.«

»Und wann war er ausgegangen?«

»Gegen acht Uhr.«

»Wie war er gekleidet?«

»Wie gewöhnlich. Er trug hellgraue Beinkleider aus geripptem Samt, ein Jackett aus kastanienbraunem Samt und einen großen Strohhut.«

»Hatte er sein Jagdgewehr bei sich?«

»Ja, mein Herr!«

»Wissen Sie, wohin er ging?«

Nur der Respekt, den er dem Freunde seines Herrn schuldete, hatte Antoine veranlaßt, auf dieses Verhör zu antworten, das ihm überdies höchst unwichtig schien.

Aber diese letzte Frage schien ihm das Maß zu überschreiten. Im Tone gekränkter Zurückhaltung antwortete er deshalb: »Es ist nicht meine Gewohnheit, den Herrn, wenn er ausgeht, zu fragen, wohin er sich begibt, oder, wenn er zurückkehrt, woher er kommt.«

Das Anstandsgefühl, dem der brave Diener folgte, hatte Herr Daubigeon sehr wohl verstanden.

»Glauben Sie nicht, mein Freund«, ergriff er nun das Wort mit einer Achtung ausdrückenden Miene, »daß wir diese Fragen aus eitler Neugier an Sie richten. Antworten Sie. Ihre Aufrichtigkeit kann Ihrem Herrn mehr nützen, als Sie sich vorstellen mögen.«

Mit einem völlig verblüfften Gesicht beobachtete Antoine der Reihe nach den Untersuchungsrichter, den Staatsanwalt, den Gerichtsschreiber und endlich Ribot, der von seinem Sitz herabgestiegen war, Carabys Leine gelöst hatte und um einen Baum schlang.

»Ich schwöre Ihnen, meine Herren«, antwortete er, »daß ich nicht weiß, wo Herr von Boiscoran den Abend zugebracht hat.«

»Sie haben auch keine Vermutung?«

»Nein.«

»Vielleicht war er in Bréchy bei einem seiner Freunde?«

»Ich wüßte nicht, daß er Freunde in Bréchy hätte.«

»Was machte er, nachdem er zurückgekehrt war?«

Jetzt geriet der würdige Diener in sichtliche Unruhe.

»Warten Sie –«, versetzte er, »nachdem der Herr zurückgekehrt war, ging er hinauf in sein Zimmer und blieb dort vier oder fünf Minuten lang. Dann kam er herunter, aß ein Stück Pastete und trank ein Glas Wein . . . Darauf zündete er sich eine Zigarre an und befahl mir schlafen zu gehen, weil er noch eine Weile aufbleiben und sich auch allein entkleiden wollte.«

»Und Sie sind dann schlafen gegangen?«

»Natürlich.«

»So daß Sie nicht wissen, was Ihr Herr weiter gemacht hat?«

»Entschuldigen Sie, ich hörte ihn die Tür des Gartens öffnen.«

»Kam Ihnen nichts an ihm außergewöhnlich vor?«

»Nein . . . er war wie immer, heiterer vielleicht; er sang . . .«

»Können Sie mir das Gewehr zeigen, das er mit sich führte?«

»Nein . . . der Herr hat es mit sich in sein Zimmer genommen.«

Herr Daubigeon öffnete schon den Mund, um einen Einwand zu machen, aber Herr Galpin-Daveline hielt ihn mit einer Bewegung zurück und fragte hastig, sich wieder zu dem Diener wendend:

»Ist es lange her, daß Herr von Boiscoran und Herr von Claudieuse sich nicht begegnet sind?«

Antoine erbebte, als beschliche ein finsteres Vorgefühl seine Sinne.

»Sehr lange«, antwortete er; »wenigstens glaube ich es.«

»Es ist Ihnen nicht unbekannt, daß sie sehr schlecht miteinander stehen?«

»Oh!«

»Sie haben die heftigsten Auseinandersetzungen gehabt.«

»Kleine Ärgernisse, nicht mehr. Wie sollten sie sich hassen, da sie gar keinen Umgang miteinander pflegten! Zwanzigmal habe ich überdies meinen Herrn aussprechen hören, daß er den Grafen von Claudieuse für den besten und redlichsten Mann halte und daß er die höchste Achtung für ihn hege.«

Während einiger Minuten schwieg Herr Galpin-Daveline, als überlegte er, ob er nichts vergessen habe. Dann fragte er plötzlich: »Wie groß ist die Entfernung von hier bis Valpinson?«

»Sechs Kilometer«, antwortete Antoine.

»Angenommen, Sie wollten sich zu Herrn von Claudieuse begeben, welchen Weg würden Sie nehmen?«

»Die große Straße, die durch Bréchy führt.«

»Sie würden nicht durch das Moor gehen?«

»Gewiß nicht!«

»Und warum nicht?«

»Weil die Seille über die Ufer getreten ist und die Gräben voll Wasser stehen.«

»Verkürzt man nicht den Weg, wenn man durch das Gehölz geht?«

»Man hätte wohl einen kürzeren Weg zu machen, er würde aber mehr Zeit kosten . . . die Pfade sind schlecht und von Ginster überwuchert.«

Dem Staatsanwalt gelang es kaum, seine Bekümmernis zu verhehlen. Mehr und mehr schienen Antoines Antworten ihm bedenklich auszufallen.

»Wenn nun Boiscoran in Brand geriete«, begann der Richter von neuem, »würde man vom Hof zu Valpinson aus die Feuersbrunst wahrnehmen?«

»Das glaube ich nicht, mein Herr, wir sind davon getrennt durch Wald und Hügel . . .«

»Können Sie von hier aus die Glocken von Bréchy vernehmen?«

»Wenn der Wind von Norden weht, ja, mein Herr!«

»Und gestern abend? Und diese Nacht?«

»Es war Westwind, wie immer, wenn es einen Sturm gibt.«

»Also wissen Sie nichts – haben nichts von einem furchtbaren Ereignis gehört?«

»Von einem Ereignis? . . . Ich weiß nicht, was der Herr damit sagen will.«

Dieses Verhör wurde im Hof abgehalten. Während der letzten Worte Antoines erschienen zwei Gendarmen zu Pferde, denen Herr Galpin-Daveline, als er Valpinson verließ, befohlen hatte, ihm zu folgen.

»Mein Gott«, rief der alte Antoine, als er ihrer ansichtig wurde, »was soll das bedeuten? Ich eile, den Herrn zu wecken.« Der Richter aber hielt ihn zurück.

»Nicht von der Stelle«, sagte er streng, »nicht ein Wort!«

Er wandte sich dann zu den Gendarmen, die soeben abgestiegen waren, zeigte auf Ribot und sagte: »Ihr werdet jenen Burschen dort im Auge behalten und verhindern, daß er mit irgend jemand ein Wort wechselt.«

»Und nun«, fuhr er wieder gegen Antoine gewendet fort, »führen Sie uns in das Zimmer des Herrn von Boiscoran.«


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