Emile Gaboriau
Der Strick um den Hals
Emile Gaboriau

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34

Nach dem Brande in Valpinson hatte die gräfliche Familie Claudieuse vorläufig in der Rue Mautrec zu Sauveterre Wohnung genommen. Das für sie durch den Bürgermeister Sénéchal gemietete Haus, welches länger als ein Jahrhundert im Besitz der Familie von Juliac gewesen war, galt als eins der ältesten und großartigsten der Stadt.

In weniger als zehn Minuten hatten Doktor Seignebos und Folgat es erreicht. Von der Straße aus sieht man nichts als eine hohe Mauer, die ganz mit Schmarotzerpflanzen, Levkojen und Löwenmaul überwuchert ist. In dieser Mauer befindet sich eine schwere Türe mit zwei Flügeln. Den Tag über wird einer dieser Flügel zurückgeschlagen und durch eine Glastür ersetzt, bei deren Öffnung eine Glocke ertönt.

Beim Eintreten hat man zunächst einen großen Garten zu durchschreiten, in welchem sich im Schatten alter Linden etwa ein Dutzend moosbewachsene Statuen auf ihren Piedestalen erheben.

Das Haus hat nur zwei Stockwerke. Ein breiter Flur durchschneidet das Parterre, im Hintergrunde bemerkt man eine Steintreppe mit durchbrochenem Eisengeländer.

Als beide in diesem Flur angelangt waren, öffnete Doktor Seignebos rechter Hand eine Tür.

»Treten Sie hier ein und warten Sie«, sagte er zu Folgat. »Ich gehe zum Grafen hinauf, dessen Gemach sich im ersten Stock befindet, und werde Ihnen die Gräfin heruntersenden.«

Der junge Anwalt tat wie ihm geheißen und befand sich in einem weiten, durch zwei Glastüren stark erhellten Saal, aus welchem man unmittelbar in den Garten treten konnte. Dieser Saal war in früheren Zeiten prachtvoll gewesen. Die Wände waren mit weißgestrichenem Holzgetäfel bedeckt, auf welchem Bildwerk und Arabesken in erhabener Arbeit und vergoldet einen besonderen Schmuck bildeten. An der Decke stellte eine riesige allegorische Komposition pausbäckige Liebesgötter dar, die in einem besternten Himmel schäkerten.

Aber die Zeit hatte die Malerei halb verwischt, die goldenen Arabesken getrübt, den blauen Himmel des Plafonds verdunkelt und die Liebesgötter zerbröckelt. An den Fenstertüren waren keine Vorhänge, auf dem Kaminsims befanden sich eine Uhr und Armleuchter, die halb zerbrochen waren, und ringsumher standen, bunt durcheinander, Möbel, die man dem Brande zu Valpinson entrissen, Lehnsessel, Kanapees, Fauteuils und ein großer runder Tisch, alles beschädigt und geschwärzt durch die zerstörenden Flammen.

Aber was kümmerten den Wartenden diese Einzelheiten! Er dachte nur an den Schritt, den er wagte und dessen Kühnheit und Seltsamkeit ihm nun erst vollständig vor Augen traten. Er bedurfte all seiner Willenskraft, um seine innere Unruhe zu bemeistern.

Endlich vernahm er einen leichten und raschen Schritt im Flur, und gleich darauf trat die Gräfin ein, ganz wie Jacques sie ihm geschildert hatte, ruhig, ernst und heiter, als wenn ihre Seele vollkommen über alle menschlichen Leidenschaften erhaben sei. Ihre außerordentliche Schönheit war nicht verändert, die furchtbaren Ereignisse des letzten Monats hatten ihrem Antlitz einen gewissen Heiligenschein verliehen. Sie war indes etwas magerer geworden, und die dunklen Ringe um ihre Augen, sowie die Unordnung ihres bewundernswerten Haares verrieten die Anstrengungen und Ängste der langen Nächte, die sie am Bett ihres Gatten zugebracht hatte.

Folgat verbeugte sich.

»Sie sind der Verteidiger des Herrn von Boiscoran, mein Herr?« fragte sie.

»Ja, Madame«, erwiderte der junge Anwalt.

»Und Sie wünschen mich zu sprechen, wie mir der Doktor sagt . . .«

»Ja, Madame.«

Mit der Bewegung einer Königin deutete sie auf einen Sessel, und indem sie sich selbst niederließ, sagte sie:

»Ich bin bereit zu hören, mein Herr.«

Nicht ohne ein stärkeres Herzklopfen, begann der Anwalt:

»Ich möchte Ihnen, Madame, vor allem eine Darstellung der Lage meines Klienten geben.«

»Dies ist unnötig, mein Herr; ich kenne sie bereits . . .«

»So wissen Sie also auch, Madame, daß er vor die Geschworenen gestellt und vielleicht verurteilt wird?«

Sie schüttelte mit einer schmerzlichen Bewegung den Kopf und erwiderte sanft:

»Ich weiß, mein Herr, daß der Graf von Claudieuse das Opfer eines der feigsten Angriffe geworden ist, daß sein Leben in Gefahr ist und daß binnen kurzem, wenn sich nicht ein Wunder Gottes ereignet, ich keinen Gatten mehr habe und meine Kinder keinen Vater mehr.«

»Aber Herr von Boiscoran ist schuldlos, Madame!«

Eine tiefe Überraschung malte sich in den Zügen der Gräfin, und den Anwalt scharf ansehend, fragte sie:

»Wer ist denn dann der Mörder?«

Nicht ohne Mühe vermochte der Anwalt das eine Wörtchen »Sie!«, welches sich aus dem Grunde seiner empörten Seele erhob, auf den Lippen festzuhalten. Er dachte jedoch an den Erfolg seines Auftrages und beherrschte sich.

»Madame«, fuhr er fort, »einem Angeklagten und so tief Unglücklichen gegenüber, der am Vorabend seines Urteils steht, ist der Verteidiger ein Beichtvater, dem er nichts verbirgt . . . Ich füge hinzu, daß der Verteidiger auch die Verschwiegenheit eines Priesters besitzt und daß er Geheimnisse, die ihm anvertraut werden, zu bewahren weiß.«

Die Gräfin machte eine Bewegung der Ungeduld.

»Meine Zeit ist knapp, mein Herr«, versetzte sie. »Wollen Sie sich gefälligst deutlicher erklären.«

Der Anwalt war so weit als möglich gegangen.

»Ich bin«, sagte er, »von Herrn von Boiscoran beauftragt, Ihnen einen Brief zu übergeben.«

Die Überraschung der Frau von Claudieuse schien sich in Bestürzung zu verwandeln.

»Mir?« erwiderte sie. »Unter welchem Vorwande, mit welchem Anspruch?«

Ohne ein Wort zu sagen, zog der Anwalt aus seiner Brieftasche Jacques' Brief hervor und überreichte ihn der Gräfin.

»Hier ist er, Madame!«

Sie nahm ihn, ihre Hand zitterte nicht. Sie öffnete langsam das Billett, aber kaum hatte sie gelesen, so erhob sie sich, errötete, und ihre Augen schossen Blitze.

»Wissen Sie, was dieser Brief enthält, mein Herr?« rief sie.

»Ja.«

»Sie wissen, daß Herr von Boiscoran mich bei meinem Mädchennamen Geneviève zu nennen wagt, wie mein Mann, wie mein Vater!«

Im entscheidenden Momente hatte Folgat seine Kaltblütigkeit vollständig wiedergewonnen.

»Herr von Boiscoran, Madame, behauptet, daß er Sie früher so genannt hat . . . in der Rue de la Vigne . . . zur Zeit, als Sie ihn ›Jacques‹ nannten . . .«

Die Gräfin schien zu Boden sinken zu wollen.

»Aber das ist ja schändlich, mein Herr«, stammelte sie, »was Sie mir da sagen. Wie! Herr von Boiscoran hat Ihnen mitzuteilen sich erdreistet, daß ich, die Gräfin Claudieuse, seine . . . Geliebte gewesen sei?«

»Das hat er mir gesagt, ja, Madame, und er hat mir versichert, daß er wenige Minuten vor dem Brande bei Ihnen war und daß seine geschwärzten Hände davon herrührten, daß er Ihre gegenseitige Korrespondenz verbrennen mußte.«

Sie hatte sich indessen wieder gefaßt, nur ihre Stimme bebte noch.

»Und Sie haben so etwas glauben können?« rief sie. »Oh, das erste Verbrechen des Herrn von Boiscoran ist nichts im Vergleich mit diesem! Es genügte ihm nicht, unser Haus in Brand gesetzt und uns ruiniert zu haben, er will uns auch entehren. Es ist ihm nicht genug, das Leben des Mannes genommen zu haben, er will auch die Ehre der Frau vernichten!«

Die Gräfin sprach so laut daß man den Schall ihrer Stimme bis in den Hausflur hören konnte.

»Leiser, Madame, leiser, um der Barmherzigkeit willen!« sagte Folgat.

Sie warf einen Blick souveräner Verachtung auf ihn und sprach noch lauter.

»Ja«, fuhr sie fort, »ich begreife, daß Sie Furcht davor haben, gehört zu werden. Aber ich, was habe ich zu fürchten? Ich wollte, das ganze Weltall könnte uns hören und richten. ›Leiser‹, sagen Sie . . . weshalb leiser? Glauben Sie denn, daß, wenn Herr von Claudieuse nicht ein sterbender Mann wäre, dieser Brief nicht in diesem Augenblicke schon in seinen Händen sich befände? Oh, er würde mir für diesen schändlichen Brief Gerechtigkeit verschaffen! Besser als ich, eine Frau, es vermag; und nie habe ich es so entsetzlich empfunden, daß jedermann meinen Gatten für verloren hält und daß ich allein in der Welt stehen werde, ohne Beschützer, ohne Freund . . .«

»Aber, Madame, Herr von Boiscoran schwört Ihnen, das Geheimnis unbedingt bewahren zu wollen.«

»Das Geheimnis von was? Von Ihren feigen Beleidigungen, von der abscheulichen Intrige, deren Vorspiel vermutlich ich soeben vernommen habe . . .«

Folgat erbleichte vor dieser Beschimpfung.

»Nehmen Sie sich in acht, Madame«, sagte er mit gedämpfter Stimme, »wir haben überzeugende, unumstößliche Beweise . . .»

Die Gräfin unterbrach ihn mit einer gebieterischen Bewegung und zeigte in ihrem Ausdruck Schmerz, Zorn und Verachtung zugleich.

»Nun denn«, rief sie, »bringen Sie diese Beweise! Gehen Sie hin, handeln Sie, sprechen Sie! Wir werden ja sehen, ob die boshafte Verleumdung eines Verbrechers den tadellosen Ruf einer ehrbaren Frau zu beflecken vermag! Wir werden sehen, ob von diesem Schmutze, dessen Sie sich entledigen, ein einziges Stäubchen bis zu mir spritzt!«

Sie warf dem Anwalt Jacques' Brief zu Füßen und ging nach der Tür.

»Madame!« rief Folgat, »Madame!«

Sie würdigte ihn nicht einmal einer Wendung ihres Kopfes, sondern verschwand und ließ ihn allein im Saal, so niedergeschlagen vor Bestürzung, daß er die Fähigkeit des Nachdenkens verloren zu haben schien.

Glücklicherweise kehrte Doktor Seignebos wieder.

»Bei meiner Seele!« sagte er, »ich hätte nicht geglaubt, daß Frau von Claudieuse meinen Verrat so wohl aufnehmen würde . . . Sie war ganz wie gewöhnlich, als sie von Ihnen zurückkam und mich fragte, wie ich heute morgen ihren Gatten gefunden habe und was nun zu tun sei . . . Ich habe ihr geantwortet . . .«

Der Rest des Satzes blieb ihm in der Kehle stecken; jetzt erst bemerkte er das verdutzte Aussehen des Anwalts.

»Was ist? Was haben Sie?« fragte er.

Der junge Anwalt blickte ihn an wie ein vom Schwindel Ergriffener.

»Ich habe«, erwiderte er, »daß ich mich frage, ob ich wache oder träume! Ich habe, daß diese Frau schuldig ist und daß ihre Dreistigkeit allen Glauben übersteigt.«

»Warum? Wieso? Haben Sie denn vorher an ihrer Schuld gezweifelt?«

Der Anwalt zeigte in seinem ganzen Wesen die schrecklichste Niedergeschlagenheit.

»Ach, weiß ich es denn selbst!« erwiderte er. »Sehen Sie denn nicht, daß ich meinen Kopf nicht mehr beisammen habe, daß ich nicht weiß, was ich denken und glauben soll. Es ist aber wirklich so! Und doch, Doktor, bin ich kein Neuling, sondern bin in den fünf Jahren, seit ich beim Strafgericht verteidige, in die tiefsten Abgründe der gesellschaftlichen Schichten hinabgestiegen, habe seltsame Dinge entdeckt, die unerwartetsten Charaktere getroffen und die schauerlichsten Geheimnisse vernommen.«

Der Doktor war nun seinerseits so betroffen, daß er sogar seine Brille zu putzen vergaß.

»Nun, was hat Ihnen denn die Frau von Claudieuse gesagt?« fragte er.

»Wenn ich es Ihnen wiederholte, würden Sie nicht viel weiter sein als jetzt. Sie hätten da sein sollen, sie sehen und hören müssen . . . Was für eine Frau! . . . Nicht ein Muskel ihres Gesichts zuckte, ihr Auge blieb hell und klar, und nicht die geringste Bewegung trübte den Klang ihrer Stimme! . . . Und mit welcher Stirn sie mir trotzte! . . . Aber kommen Sie, Doktor, ich bitte Sie, wir wollen gehen.«

Sie entfernten sich und waren bereits weit in der langen Allee des Gartens vorgeschritten, als sie die ältere Tochter der Gräfin mit ihrer Gouvernante von einem Spaziergang zurückkehren sahen. Doktor Seignebos blieb stehen, und den Anwalt am Arm fassend, flüsterte er ihm ins Ohr:

»Passen Sie auf! Die Wahrheit spricht aus dem Munde der Kinder, nicht wahr?«

»Was hoffen Sie?« flüsterte der Anwalt.

»Einen zweifelhaften Punkt aufzuklären . . . Still! Lassen Sie mich gewähren.«

In wenigen Augenblicken war das kleine Mädchen bis zu ihnen gelangt. Es war ein zierliches Kind von acht bis neun Jahren, blond, mit schönen blauen Augen, groß für sein Alter, und fast mit dem Verstand eines jungen Mädchens begabt, doch ohne dessen Schüchternheit.

»Guten Tag, meine kleine Marthe!« sagte der Doktor zu ihr in seinem sanftesten Tone, der ihm keineswegs schwerfiel.

»Guten Tag, meine Herren!« erwiderte das Kind in heiterer, anziehender Weise.

Doktor Seignebos beugte sich zu ihr nieder und küßte sie auf die rote Wange, wobei er sie teilnehmend betrachtete.

»Aber du siehst ja betrübt aus, Kind!« fuhr er fort.

»Ja, weil Papa und meine kleine Schwester sehr krank sind«, erwiderte sie mit einem tiefen Seufzer.

»Und vielleicht auch, weil es dir um Valpinson leid tut.«

»O ja!«

»Es ist aber doch hier auch hübsch, du hast einen großen Garten zum Spielen . . .«

Sie schüttelte den Kopf und sagte leise:

»Ja, es ist hier wohl hübsch, aber ich fürchte mich so.«

»Vor was denn, mein gutes Kind?«

Sie deutete nach den Statuen und erwiderte schaudernd:

»Abends, in der Dämmerung, kommt es mir immer vor, als ob sie sich bewegten, und dann glaube ich Leute zu sehen, die sich hinter den Bäumen verbergen, gerade wie der Mann, der unsern Papa töten wollte.«

»Man muß diese schlimmen Gedanken verscheuchen, mein Fräulein«, sagte Folgat.

Aber Seignebos ließ ihn nicht fortfahren.

»Wie ist's nur möglich, liebe Marthe«, fragte er gegen das Kind gewendet, »daß du dich davor so sehr fürchten kannst? Ich kenne dich doch im Gegenteil als sehr mutig . . . Dein Papa hat mir versichert, daß du dich in der Nacht des Brandes zu Valpinson gar nicht gefürchtet hast.«

»Das ist auch wahr.«

»Und doch muß es entsetzlich gewesen sein, als du von den Flammen geweckt wurdest.«

»Ach, ich bin ja nicht durch die Flammen geweckt worden, Doktor.«

»So war es der Knall des abgefeuerten Schusses.«

»Da schlief ich ja nicht mehr, Doktor, weil ich schon vorher durch einen großen Lärm an der Tür geweckt wurde, die von der Mama, als sie wieder hereinkam, fest verschlossen worden war.«

Eine schreckliche Ahnung ließ zu gleicher Zeit den Arzt und den Anwalt erbeben.

»Du wirst dich darüber wohl täuschen, Marthe«, entgegnete Seignebos. »Deine Mama ist im Augenblick des Brandes nicht wiedergekommen.«

»Bitte um Entschuldigung, doch!«

»Nein, du täuschst dich.«

Das Mädchen trat mit jener ernsten Miene zurück, welche Kinder anzunehmen pflegen, wenn sie sehen, daß man ihre Worte bezweifelt.

»Ich weiß das ganz gewiß«, sagte sie mit festem und empfindlichem Tone, »und ich kann mich noch an alles genau erinnern . . . Man hatte mich zur gewöhnlichen Stunde zu Bett gebracht, ich war müde und schlief sogleich ein. Während ich schlief, ist Mama fortgegangen, und als sie wiederkam, hat sie mich geweckt. Sobald sie zurück war, beugte sie sich über das Bett meiner kleinen Schwester, blickte sie lange traurig an, und ich habe sie weinen sehen. Nachher setzte sie sich ans Fenster, und von meinem Bette aus konnte ich sehen, wie ihr die hellen Tränen herabrollten, als plötzlich ein Schuß fiel . . .«

Folgat und Seignebos wechselten einen heimlichen Blick.

»Also, mein Liebling«, fuhr der Arzt fort, »bist du dessen gewiß, daß deine Mama im Zimmer war, als der erste Schuß ertönte?«

»Ganz gewiß, Doktor. Mama sprang gleich vor Schrecken auf und horchte. Und als dann der zweite Schuß krachte, da hob Mama ihre Hände gen Himmel und rief: ›O mein Gott!‹ Dann ist sie sogleich hinausgegangen.«

Der Doktor zwang in diesem schrecklichen Augenblick ein Lächeln auf seine Lippen.

»Du hast das geträumt, Marthe«, sagte er.

Jetzt antwortete statt des Kindes die bis dahin schweigsame Gouvernante.

»Mademoiselle träumte nicht«, sagte sie. »Ich selbst habe die Schüsse gehört und die Tür meiner Kammer geöffnet, um zu sehen, was es gäbe. Da sah ich die gnädige Frau mit großen Schritten durch die Diele eilen und die Treppe hinabstürzen.«

»Oh, ich streite nicht mehr«, versetzte der Doktor mit einem so gleichgültigen Tone, als er ihm in einem solchen Augenblicke möglich war.

Das Kind beendete seine Erzählung:

»Als Mama fort war, quälte mich die größte Unruhe, ich setzte mich in meinem Bett auf und horchte. Ich hörte Lärm, Krachen und Knistern und aus der Ferne Geschrei. Die Furcht ergriff mich, ich sprang aus dem Bett und lief nach der Tür. Da drangen mir Rauch und Funken entgegen. Ich blieb aber doch bei Besinnung, weckte meine kleine Schwester, nahm sie in meine Arme und versuchte zur Treppe zu kommen, als Cocoleu wie ein Verrückter herbeistürzte, uns beide ergriff und hinabtrug.«

»Marthe!« rief eine Stimme vom Hause her . . . »Marthe!«

Das Kind brach seine Erzählung kurz ab.

»Mama ruft mich«, sagte sie, »Adieu, meine Herren!«

Sie machte eine zierliche Verbeugung und ging. Der Doktor und Folgat standen wie versteinert und blickten einander mit dem Ausdrucke der Angst an.

»Wir haben hier nichts mehr zu tun, Doktor«, sagte endlich der Anwalt.

»Ja, wahrhaftig, wir wollen gehen . . . eilen sogar, denn man erwartet uns vielleicht . . . Sie frühstücken bei mir.«

Beide zogen sich zurück, aber mit gebeugtem Haupte und so tief in ihre Gedanken verloren, daß sie die Grüße der ihnen auf der Straße Begegnenden zu erwidern vergaßen, was von mehreren Bürgern übel vermerkt ward. Sie begaben sich beide in des Doktors Wohnung.

»Zwei Gedecke«, sagte der Doktor zu seinem Diener, »und bring dazu eine Flasche Médoc.«

Dann führte er den Anwalt in sein Arbeitszimmer.

»Nun, was halten Sie von diesem Abenteuer?« fragte er.

Folgat machte eine Gebärde tiefer Niedergeschlagenheit.

»Ich kenne mich selbst nicht wieder!« entgegnete er.

»Kann man annehmen, daß Frau von Claudieuse ihre Tochter abgerichtet hat?«

»Nein.«

»Oder daß sie es mit der Gouvernante getan?«

»Noch weniger. Eine Frau von dieser Standhaftigkeit und Schlauheit vertraut sich niemandem an; sie kämpft, siegt oder fällt allein.«

»Folglich haben Kind und Gouvernante die Wahrheit gesagt.«

»Das glaube ich entschieden.«

»Es ist auch meine Überzeugung . . . Sie hat also nichts mit dem Mordversuch auf ihren Gatten zu tun.«

»Leider!«

Folgat bemerkte das triumphierende Lächeln nicht, welches über Seignebos' Antlitz flog.

Der Doktor hatte seine Brille abgenommen und putzte sie mit ungewöhnlicher Kraftanstrengung.

»Wenn die Gräfin unschuldig ist«, fuhr er fort, »so muß Jacques schuldig sein. Er müßte uns demnach an der Nase herumgeführt haben.«

Folgat schüttelte den Kopf.

»Barmherzigkeit, Doktor«, erwiderte er mit Anstrengung. »Drängen Sie mich nicht in dieser Weise; lassen Sie mir Zeit, mich zu sammeln, meine Gedanken wieder zu ordnen. Ich fühle mich entsetzt vor meinen eigenen Vermutungen . . . Nein, Herr von Boiscoran hat uns nicht belogen, und Frau von Claudieuse ist ganz gewiß seine Geliebte gewesen. Nein, er hat uns nicht getäuscht und hat sicher am Abend des Verbrechens mit der Gräfin eine Zusammenkunft gehabt. Sagte Marthe uns nicht, ihre Mutter sei fort gewesen? Wo hätte sie anders gewesen sein können als beim Rendezvous? Allein . . .«

Er zögerte.

»Weiter, weiter!« sagte der Arzt. »Sie haben bei mir nichts zu fürchten.«

»Nun, es könnte wohl sein, daß, nachdem Frau von Claudieuse sich von Herrn von Boiscoran entfernt hatte, sich der Zufall einmischte. Herr von Boiscoran sagte uns doch, daß, als er die Briefe verbrannte, eine so helle Flamme entstand, daß er entsetzt gewesen sei . . . Wer kann nun wissen, ob nicht ein Feuerfunke, vom Winde fortgetrieben, Stroh in Brand gesetzt hat? Ziehen Sie die Folgerungen! Im Augenblicke seines Rückzugs bemerkt Herr von Boiscoran den Brand, er versucht ihn zu ersticken, seine Bemühungen sind vergeblich, die Flamme springt weiter, sie wächst und beleuchtet schon die Fassade des Schlosses . . . In diesem Augenblicke erscheint der Graf von Claudieuse, Herr von Boiscoran glaubt sich entdeckt, er sieht seine Liebschaft enthüllt, seine bevorstehende Verheiratung unmöglich gemacht, seine Zukunft vernichtet, sein Glück zerstört . . . Er verliert den Kopf, er legt auf den Grafen an und schießt, um dann zu entfliehen . . . Damit erklärt sich auch die schlechte Richtung der Schüsse und der bis jetzt unenträtselte Umstand, daß der Mord mit Schrot versucht worden ist.«

»Unseliger«, unterbrach ihn der Doktor.

»Weshalb? Was habe ich gesagt?«

»Nehmen Sie sich in acht, dies je zu wiederholen! Es ist eine so schauerliche Wahrscheinlichkeit in Ihrer Vermutung, daß, wenn diese laut würde, Sie keinen Menschen fänden, der Ihnen noch glaubte, wenn der Tag käme, an dem Sie die Wahrheit sagten.«

»Die Wahrheit! Denken Sie denn, daß ich mich noch täusche?«

»Ganz zuversichtlich!« antwortete Seignebos, indem er seine Brille zurechtrückte. »Allerdings«, fuhr er fort, »konnte man nicht annehmen, daß Frau von Claudieuse mit eigener Hand auf ihren Gatten geschossen hat . . . Ich hatte recht . . . Sie hat das Verbrechen materiell nicht verübt, aber sie hat es befohlen.«

»Oh!«

»Wäre sie denn die erste, die so etwas täte? Meine Vermutung ist folgende: Nachdem Frau von Claudieuse Jacques gesprochen hatte, faßte sie ihren Entschluß und ergriff ihre Maßregeln. Der Mörder war auf seinem Posten. Hätte sie Jacques zurückgewonnen, so wäre der Gedungene wieder entwaffnet worden und still in seinen Winkel zurückgekehrt. Da sie aber nicht erreichte, daß Jacques auf seine Verheiratung verzichtete, so entschloß sie sich, frei zu werden, um ihm auf diese Weise in den Weg zu treten, und gab dem Verbrechensgenossen das Zeichen, das Schloß in Brand zu stecken und auf ihren Gemahl zu schießen.«

Der junge Anwalt schien nicht ganz überzeugt.

»In diesem Falle«, versetzte er, würde die Gräfin mit Vorbedacht gehandelt haben; warum aber war denn das Gewehr mit Schrot geladen?«

»Weil dem Mitschuldigen dazu der nötige Verstand fehlte.«

Der Anwalt erhob sich lebhaft.

»Immer wieder Cocoleu!« rief er.

Seignebos tippte mit der Fingerspitze an seine Stirn.

»Wenn eine Idee hier Eingang gefunden«, sagte er, »dann sitzt sie fest . . . Ja, Frau von Claudieuse hat einen Mitschuldigen, und dieser ist Cocoleu . . . Und wenn auch sein Verstand mangelhaft ist, so können Sie doch sehen, wie weit dieser erbärmliche Schwachsinnige seine Unterwürfigkeit und Verschwiegenheit getrieben hat.«

»Wenn Sie recht hätten, Doktor, so würden wir, ohne daß Cocoleu zum Sprechen zu bringen ist, nie den Schlüssel zu dieser Geschichte erlangen.«

»Wir wollen noch abwarten. Man hat mir ein Hilfsmittel vorgeschlagen . . .«

Er wurde durch den Eintritt seines Dieners unterbrochen.

»Herr Doktor«, sagte dieser wackere Bursche, »es ist ein Gendarm unten mit einem Menschen, welcher dringend ins Krankenhaus aufzunehmen wäre.«

»Sie mögen heraufkommen«, erwiderte der Arzt. Und während der Diener eilte, seinen Auftrag auszurichten, fuhr er fort: »Das ist mein Hilfsmittel, Herr Folgat. Geben Sie acht!«

Ein schwerer Schritt wurde auf der Treppe hörbar, und gleich darauf erschien ein Gendarm, der in der einen Hand eine Geige trug, mit der andern einem armen Teufel gehen half.

»Goudar!« hätte Folgat fast laut gerufen.

Es war wirklich Goudar, aber in welchem Zustande! Die Kleider zerrissen und mit Schmutz befleckt, blaß, hohläugig, Bart und Lippen mit weißem Schaum bedeckt.

»Die Sache ist so zugegangen«, erklärte der Gendarm. »Dieser Mensch spielte Geige im Hofe der Kaserne, und mehrere von uns standen an den Fenstern, als wir ihn plötzlich auf die Erde fallen sahen; er wälzte und renkte sich hin und her und heulte und schäumte wie ein wütender Wolf . . . Wir haben ihn aufgehoben und gepflegt, und nun bringe ich ihn, um zu erfahren . . .«

»Lassen Sie uns allein mit ihm«, erwiderte der Mediziner.

Der Gendarm ging hinaus und machte die Türe zu.

»Welch ein Gewerbe!« rief Goudar mit einem Ausdruck unüberwindlichen Widerwillens . . . »Sehen Sie mich ein wenig genauer an! . . . Welche Schmach, wenn mich meine Frau so sehen könnte . . . puh!«

Er zog ein Tuch aus seiner Tasche, wischte sich das Gesicht ab und zog ein Stück Seife aus dem Munde hervor.

»Das Wichtigste ist«, versetzte der Doktor, »daß Sie die Rolle eines Epileptikers vor den Gendarmen vortrefflich gespielt haben . . .«

»Eine schöne List, wahrhaftig, und sehr ehrenvoll für mich«, sagte Goudar.

»Aber die List ist zweckentsprechend, denn Sie werden sich, dank ihrer, binnen einer Stunde im Hospital befinden. Man wird Sie in einen und denselben Raum mit Cocoleu tun, und ich werde Sie jeden Morgen besuchen. An Ihnen ist es nun, zu handeln . . .«

»Sie können ruhig sein«, versetzte der Polizist, »ich habe meinen Plan.« Und indem er sich an Folgat wendete, fuhr er fort: »Ich bin nun, wie Sie sehen, ebenfalls Gefangener, aber meine Vorsichtsmaßregeln sind getroffen. Der Agent, den ich nach England sandte, wird seine Mitteilungen an Sie adressieren. Ich habe Sie außerdem um eine Gefälligkeit zu bitten: Ich schrieb nämlich an meine Frau, sie möge ihre für mich bestimmten Briefe an Sie richten . . . Sie werden mir diese durch den Doktor zukommen lassen . . . Somit bin ich bereit, der Gesellschafter Cocoleus zu werden, und fest entschlossen, das Haus in der Rue de la Vigne zu gewinnen.«

Doktor Seignebos hatte inzwischen den Aufnahmeschein geschrieben. Er rief den Gendarmen, und nachdem er seine Menschlichkeit gelobt, bat er ihn, den armen Teufel ins Krankenhaus zu bringen.

Wieder allein mit Folgat, sagte er:

»Wir wollen uns. verehrter Anwalt, über unsere Handlungsweise verständigen. Dürfen wir von der Erzählung Marthes und den Plänen Goudars reden? Nein, denn Galpin-Daveline wacht, und es genügt, daß der geringste Argwohn bei ihm erregt wird, um uns alles zunichte zu machen. Begnügen wir uns daher, Jacques das Ergebnis Ihrer Unterredung mit Frau von Claudieuse zu berichten, und lassen Sie uns über alles übrige Stillschweigen bewahren!«


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