Emile Gaboriau
Der Strick um den Hals
Emile Gaboriau

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23

Augenscheinlich beeilte Jacques von Boiscoran sich, zu Ende und bis zur Feuersbrunst von Valpinson zu kommen, um endlich von dem berühmten Anwalt von Sauveterre zu erfahren, was er zu fürchten oder zu hoffen hatte.

Nach einem Augenblick des Stillschweigens – denn der Atem schien ihm auszugehen – und mit ungewissen Schritten in der Zelle auf und abschreitend, sprach er in bitterem Ton:

»Aber wozu alle diese Umstände, Magloire? Werden Sie den Glauben, den Sie mir versagen, gewinnen, wenn ich Ihnen alle Zusammenkünfte mit der Gräfin von Claudieuse einzeln aufzähle, wenn ich Ihnen alles bis auf ihr letztes Wort berichte?

Wir waren bald dahin gelangt, so genau und so vorsichtig unsere Schritte zu berechnen, daß wir uns häufig und ohne Gefahr treffen konnten. Wir sagten uns, wenn wir uns trennten, oder sie schrieb mir: ›An diesem und diesem Tage, zu dieser Stunde, an diesem und diesem Ort.‹ Und so entfernt der Tag, so unbequem die Stunde, so groß die Entfernung sein mochte – wir trafen ein.

Ich war dahin gelangt, die Gegend besser zu kennen als der älteste Wilderer, und nichts war uns so dienlich wie diese genaue Kenntnis all der abgelegensten Schlupfwinkel.

Die Gräfin ließ ihrerseits nie drei Monate vergehen, ohne einen dringenden Grund zu finden, sich nach Angoulême oder La Rochelle zu begeben, und in Paris traf ich mit ihr zusammen. Und sie ließ sich durch nichts zurückhalten. Sogar ihr hoffnungsvoller Zustand – denn im Jahre 1867 wurde ihre zweite Tochter geboren – verhinderte ihre Reisen nicht.

Ich verbrachte mein Leben sozusagen auf Reisen, und jeden Augenblick, wenn man es am wenigsten erwartete, verschwand ich ganze Wochen. Darin liegt die Erklärung der Vagabundierlust, über die mein Vater sich aufhielt und die Sie selbst, Magloire, mir sonst wohl vorgeworfen haben.«

»Das ist wahr«, bestätigte der Anwalt, »ich entsinne mich.«

Jacques von Boiscoran beachtete ihn nicht.

»Ich würde lügen«, fuhr er fort, »wenn ich behauptete, daß dieses Leben mir mißfiel. Nein. Das Geheimnis und die Gefahr erhöhten nur den Zauber unserer Liebe. Die Hindernisse steigerten meine Leidenschaft. Ich fand etwas Erhabenes in dieser Handlungsweise zweier verständiger Wesen, die ausschließlich alle ihre Geisteskraft daran setzten, eine gefährliche Intrige zu verfolgen und zu verbergen. Je mehr ich selbst die Verehrung bezeigen konnte, deren Gegenstand Frau von Claudieuse überall war, desto mehr gewann ich die Beweise ihrer Gewandtheit, ihrer Verstellungsgabe, der Tiefe ihrer Verderbtheit – und desto stolzer war ich auf sie.

Vor Dünkel schoß mir das Blut in heißer Wallung zum Gehirn, wenn ich sie in Bréchy, wohin ich mich nur um ihretwillen begab, ruhig und heiter vorbeigehen sah, in der imponierenden Sicherheit ihres fleckenlosen Rufes. Ich lachte über die Harmlosigkeit der guten Narren, die sich bis zur Erde vor ihr verbeugten, um sie wie eine Heilige zu grüßen, und mit verblendetem Entzücken schätzte ich mich glücklich in dem Gedanken, daß ich der einzige war, der die wirkliche Gräfin von Claudieuse kannte, die Gräfin von Claudieuse, die in unserem Hause in der Rue de la Vigne so lustige Rache an ihrem Schicksal nahm.

Aber ein solcher Liebeswahnsinn konnte nicht dauern.

Ich brauchte nicht lange Zeit, um zu begreifen, daß ich mir einen Gebieter gegeben, und zwar den herrischsten, anspruchsvollsten, der sich denken ließ.

Ich hatte in gewissem Sinne darauf verzichtet, mir selbst zu gehören. Ich war ihre Kreatur geworden, ich durfte nur für sie leben, atmen, denken und handeln. Was kümmerten sie meine Liebhabereien, meine Abneigungen! Sie wollte, das war genug. Schrieb sie mir? ›Komm!‹, so mußte ich im Augenblick erscheinen. Sagte sie mir: ›Geh!‹, so hatte ich mich alsbald zu entfernen. Anfangs ließ ich mir den Despotismus ihrer Liebe gern gefallen, aber nach und nach ermüdete mich dieses beständige Aufgeben meines eigenen Willens.

Es mißfiel mir, nicht über mich selbst zu verfügen, nicht auf vierundzwanzig Stunden einen Plan vorher bestimmen zu können. Ich fing an, den Druck des Strickes zu fühlen, den ich mir um den Hals gewunden hatte.

Mir kam der Gedanke, zu fliehen. Einer meiner Freunde war im Begriff, eine Reise um die Welt zu unternehmen, die achtzehn Monate oder zwei Jahre dauern sollte. Ich hatte Lust, ihn zu begleiten.

Wer hielt mich zurück? Ich war durch meine Stellung und mein Vermögen vollkommen unabhängig. Warum dieser Eingebung nicht folgen?

Ja! Warum? . . . Weil der Zauber noch nicht gebrochen war. Weil ich die Tyrannei der Frau von Claudieuse verwünschte und doch noch erbebte, wenn ich ihren Namen nennen hörte.

Weil ein einziger ihrer Blicke all mein Blut in Wallung setzte, wenn ich daran gedacht hatte, ihr zu entfliehen. Weil ich mit tausend Fäden der Gewohnheit und der Mitschuld an sie gebunden war durch jene Fäden, die schwerer zu zerreißen sind als das Tau eines Schiffes.

Dennoch war dieser Gedanke die Ursache, daß ich zum erstenmal vor ihr das Wort ›Trennung‹ aussprach, indem ich sie fragte, was sie tun würde, wenn ich sie verließe?

Sie sah mich mit einem sonderbaren Blick an und fragte nach einer Weile: ›Ist das dein Ernst? Ist es eine Einleitung?‹ Ich durfte nicht weitergehen und sprach, indem ich mich zu einem Lächeln zwang: ›Es ist nur ein Scherz.‹

›Dann‹, sagte sie, ›sprechen wir nicht mehr davon. Wenn es jemals dahin käme, so würdest du sehen, was ich täte.‹

Ich beharrte nicht länger, aber ihr Blick blieb mir im Gedächtnis und ließ mich begreifen, daß ich noch viel enger gefesselt war, als ich vorausgesetzt hatte. Aus diesem Grunde wurde der Entschluß, mit ihr zu brechen, in mir zur fixen Idee.«

»Nun, so mußten Sie brechen!« rief der Anwalt.

Jacques von Boiscoran schüttelte den Kopf.

»Das ist leicht geraten«, sagte er. »Ich habe es versucht. Aber ich konnte es nicht. Zehnmal bin ich auf Frau von Claudieuse zugetreten, entschlossen, ihr zu sagen: ›Wir sehen uns nicht wieder‹, und jedesmal ging im letzten Augenblick der Mut mir aus.

Sie reizte meinen Zorn; ich haßte sie fast. Aber konnte ich vergessen, wie ich sie geliebt und was sie für mich gewagt hatte? Und – warum soll ich es nicht gestehen? – Sie flößte mir Furcht ein.

Mir graute vor diesem unbeugsamen Charakter, den ich anfangs bewundert hatte, und ich erzitterte, von ungewissen und düsteren Ahnungen ergriffen, wenn ich an alles das dachte, dessen ich sie schuldig wußte.

So war ich der schrecklichsten Unschlüssigkeit verfallen, als meine Mutter anfing, mit mir von einer Heirat zu sprechen, von der sie seit langem schon träumte. Das konnte den Vorwand bieten, den ich nicht zu finden gewußt. Auf alle Fälle verlangte ich Bedenkzeit. Als ich darauf das nächste Mal mit Frau von Claudieuse zusammentraf, nahm ich all meine Kraft zusammen und sagte ihr: ›Weißt du, was sich neuerdings ereignet hat? Meine Mutter will mich verheiraten.‹

Sie wurde bleich wie der Tod und sah mir in die Augen, als ob sie auf dem Grund meiner Seele lesen wollte.

›Und du‹, fragte sie, ›was willst du tun?‹

›Ich will‹, antwortete ich mit einem gezwungenen Lachen, ›für den Augenblick nichts. Aber ich werde wohl früher oder später darangehen müssen. Der Mann bedarf einer Häuslichkeit und solcher Bande der Liebe, die die Welt anerkennt . . .‹

›Und ich?‹ unterbrach sie mich, ›was bin ich dir denn?‹

›Du‹, rief ich, ›du, Geneviève! Ich liebe dich mit aller Kraft meiner Seele, aber uns trennt ein Abgrund. Du bist verheiratet.‹

›Mit andern Worten‹, fuhr sie fort, ›du hast mich geliebt zum Zeitvertreib. Ich bin die Ergötzung deiner Jugend, die Poesie deiner zwanzig Jahre, jener Liebesroman gewesen, den jedermann haben will. Aber du wirst reifer; es verlangt dich nach wahrer Liebe, und du willst mich verlassen. Es sei. Was aber soll aus mir werden, wenn du dich verheiratest?‹

Ich litt unsäglich.

›Du hast deinen Gatten‹, stotterte ich, ›deine Kinder.‹

Sie fiel mir in die Rede.

›Das ist es!‹ rief sie; ›ich werde nach Valpinson zurückkehren, auf den Boden, wo alles mich an dich erinnert; wo jeder Fußbreit Erde mir unsere Begegnungen ins Gedächtnis ruft, zu meinem Gatten, den ich verraten habe, zu meinen Töchtern, von denen die eine dein . . . Nein, nein! Es ist nicht möglich, Jacques!‹

Aber ich hatte einen Anlauf zur Tapferkeit genommen.

›Wenn es dennoch möglich wäre, daß ich mich verheirate‹, sagte ich, ›was würdest du tun?‹

›Oh, nichts Besonderes‹, antwortete sie, ›ich würde alle deine Briefe dem Grafen von Claudieuse übergeben.‹«

Während der dreißig Jahre seiner Tätigkeit beim Schwurgericht hatte Herr Magloire die seltsamsten Geständnisse angehört. Nie aber hatte ihm etwas die Gedanken dermaßen verwirrt, wie es in diesem Augenblick der Fall war.

»Das ist, um den Verstand zu verlieren«, murmelte er.

Aber schon fuhr Jacques fort:

»War die Drohung der Gräfin von Claudieuse ernst gemeint? Ich zweifle nicht daran. Dennoch eine große Gelassenheit heuchelnd, sagte ich ihr: ›Das würdest du nicht tun!‹

›Bei allem, was mir in der Welt teuer und heilig ist‹, entgegnete sie mir, ›ich würde es tun!‹

Eine geraume Zeit ist seit jener Szene hingegangen, Magloire, eine Menge von Ereignissen sind seitdem gefolgt. Dennoch ist es mir, als hätte sie gestern stattgefunden.

Ich sehe sie noch vor mir, die Gräfin, weiß wie ein Gespenst, ich höre sie noch – ihre bebende Stimme. Und fast Wort für Wort kann ich Ihnen ihre Entgegnung wiederholen.

›Ah! mein Entschluß setzt dich in Erstaunen, Jacques?‹ fuhr sie in glühender Rede fort, ›Ich begreife das. Die Frauen, die ihre Pflicht verraten, halten ihre Liebhaber nicht dazu an, mit ihnen zu rechnen. Wenn sie verlassen sind, schweigen sie still; wenn sie verraten sind, verzichten sie. Wenn sie sich geopfert sehen, verbergen sie ihre Tränen, denn ihren Jammer sehen lassen, hieße ihren Fehltritt eingestehen. Ja! Feiglinge, die wir sind! Wenn wir mehr Mut hätten, so würde ein jeder sich zweimal bedenken, ehe er sich der Frau eines andern bemächtigt. Ich aber werde wagen, was die anderen sich nicht getrauen. Du bist mein; du gehörst mir an, und gegen alles in der Welt werde ich dich verteidigen mit den einzigen Waffen, die ich in meiner Macht habe . . . Verheirate dich! An deinem Hochzeitsabend wird mein Gemahl alles wissen. Ich werde den Verlust meiner Ehre nicht überleben, aber ich werde gerächt sein. Wenn du dem Haß des Grafen Claudieuse entgehst, so wird dein Name an eine so unglückliche Begebenheit geschmiedet bleiben, daß deine ganze Zukunft daran zugrunde gehen soll.‹

So sprach sie, Magloire, und mit einem Ungestüm, von dem ich Ihnen keine Vorstellung zu geben wüßte.

Was sie sagte, war absurd und unsinnig! Aber ist die Leidenschaft nicht absurd und unsinnig?

Und diese Rache, die sie mir androhte, war ohne Zweifel nicht nur die plötzliche Eingebung ihres gekränkten Stolzes. Es war unmöglich, an der Kürze ihrer Sätze, an der Sicherheit, mit der sie ihre Schläge führte, nicht einen lange vorher bedachten Plan zu erkennen, dessen erschreckende Tragweite sie berechnet und den sie unwiderruflich festgestellt hatte.

Ich war niedergeschmettert. Da ich in dumpfem Schweigen verharrte, fragte sie mit kaltem Ton: ›Und nun?‹

Es galt vor allem, Zeit zu gewinnen.

›Nun‹, antwortete ich, ›ich begreife deinen Zorn nicht. Die Heirat, von der ich dir gesprochen, existiert nur in der Einbildung meiner Mutter.‹

›Ist das wahr?‹

›Ich versichere es dir.‹

Sie beobachtete mich mit mißtrauischem Blick.

›Wohlan! ich will dir glauben‹, sagte sie endlich mit einem tiefen Seufzer. ›Aber du bist gewarnt. Und nun vertreiben wir uns diese häßlichen Gedanken.‹

Sie konnte sie vielleicht vertreiben; ich konnte es nicht. Mit Wut im Herzen verließ ich sie.

So hatte sie also über mich verfügt. Ich hatte für mein Leben den Strick am Halse, dessen Druck mir mit jedem Tage schmerzhafter ward.

Und bei dem geringsten Versuch, ihn zu zerreißen, mußte ich auf einen abscheulichen Skandal, auf eines jener unheilvollen Abenteuer gefaßt sein, die einen Menschen vernichten.

Konnte ich wenigstens hoffen, sie zur Vernunft zu bringen? Nein. Ich war dessen nur zu sicher.

Ich wußte nur zu wohl, daß es verlorene Mühe wäre, sie daran zu mahnen, daß ich nicht so schuldig war, wie sie mich haben wollte – daß es umsonst wäre, ihr zu beweisen, daß ihre Rache sich vielmehr gegen ihren Gemahl und ihre Kinder als gegen mich wenden würde, und daß ihre Kinder wenigstens unschuldig waren, wenn sie auch ihrem Gatten die Bedingungen ihrer Heirat vorzuwerfen hatte.

Aber vergeblich suchte ich einen Ausweg aus dieser entsetzlichen Lage.

Auf meine Ehre, Magloire, es gab Augenblicke, wo ich versucht war, selbst vorzugreifen, eine Scheinheirat anzugeben, um die Gräfin zum Handeln zu bewegen, um endlich die immer über meinem Haupt schwebenden Drohungen sich erfüllen zu sehen.

Der Gedanke, daß Frau von Claudieuse sich des Grafen bediente, um mich zurückzuhalten, empörte mich. Es erschien mir lächerlich und niedrig zugleich, daß sie aus ihrem Gatten den Gendarmen ihres Liebhabers machte. Bildete sie sich ein, daß ich ihn fürchtete? Ach, wie hätte ich ihm alles geschrieben, wenn diese Denunziation mir nicht so verabscheuenswert vorgekommen wäre!

Unterdessen fragte meine Mutter mich nach meinem Entschluß in betreff jener Heirat, von der sie mir gesprochen hatte, und mit feuerrotem Gesicht antwortete ich ihr, daß ich entschlossen sei, mich noch nicht zu verheiraten, daß ich mich für zu jung halte, um die Verantwortung einer Familie auf mich zu nehmen.

Dies war wirklich der Fall. Aber auch wenn es nicht so gewesen wäre, hätte ich nichts anderes antworten können.

So stand es mit mir, und zwischen verschiedenen Plänen schwankend, wiederholte ich mir, daß ich zu einem Entschluß kommen mußte, als der Krieg ausbrach.

Ich reiste nach Boiscoran. Man organisierte eben die Mobilgarde des Bezirks, sie wählten mich zu ihrem Hauptmann, und an ihrer Spitze stieß ich zur Loire-Armee. In meiner damaligen Stimmung hatte der Krieg für mich nichts Erschreckendes. Jede Aufregung, die mich den Erinnerungen entriß, schien mir gut. Und wenn ich einige Tapferkeit gezeigt habe, so ist mein Verdienst dabei nicht groß.

Als aber nun Wochen, dann Monate vergingen, stieg die geheime Hoffnung in mir auf, daß die Gräfin mich vergessen könnte, daß, wenn Zeit und Abwesenheit ihr Werk täten, sie verzichten lernen würde.

Nach Unterzeichnung des Friedens kehrte ich nach Boiscoran zurück, und ebensowenig wie in den vorhergehenden Monaten gab die Gräfin mir ein Lebenszeichen.

Ich fing an, mich zu beruhigen, wieder Herr meiner selbst zu werden. Da begegnete ich zufällig eines Tages Herrn von Chandoré. Er lud mich zum Mittagessen ein; ich ging hin. Ich sah Fräulein Denise.

Ich kannte sie schon länger, und die Erinnerung an sie hatte vielleicht dazu beigetragen, mich Frau von Claudieuse zu entfremden.

Dennoch war ich verständig genug gewesen, sie zu meiden, zitternd vor dem Gedanken, ihr irgendeine finstere Rache zuzuziehen.

Als aber jetzt ihr eigener Großvater mich ihr zuführte, hatte ich nicht mehr die Kraft, mich fernzuhalten. Und da ich eines Tags in ihren schönen Augen zu lesen glaubte, daß sie mich liebte, war mein Entschluß gefaßt, allem Trotz zu bieten.

Aber wie soll ich Ihnen alle meine Pein ausdrücken, Magloire, wie die Seelenangst, mit welcher ich jeden Abend nach Boiscoran zurückkehrend fragte, ob kein Brief gekommen sei. Und immer war keiner gekommen. Trotzdem war es unmöglich, daß Frau von Claudieuse nichts von meiner beabsichtigten Verheiratung gehört haben sollte. Mein Vater war selbst nach Sauveterre gekommen, um Fräulein Denises Hand zu werben. Man hatte sie mir zugesprochen. Es war mir in aller Form gestattet, als Verlobter aufzutreten; nur der Tag unserer Vermählung blieb noch zu bestimmen. Diese schwüle Ruhe folterte mich.«

Erschöpft, atemlos hielt Jacques von Boiscoran inne, indem er seine beiden Hände gegen die Brust stemmte, als suchte er so die unbändigen Schläge seines Herzens zu dämpfen.

Aber vergebens erwartete er von dem Anwalt von Sauveterre ein Wort, ein Zeichen der Ermutigung. Herr Magloire blieb undurchdringlich und seine Züge so regungslos wie eine bleierne Maske.

»Ah!« fuhr endlich Jacques mit heftiger Anstrengung fort. »Diese Ruhe schien mir den Sturm zu verkünden. Von Denise geliebt zu sein – dies Glück war zu groß!

Ich erwartete einen Schlag, eine Katastrophe, irgendein Unheil. Ich erwartete es mit solcher Gewißheit, daß ich endlich zu dem Schluß gekommen war, es sei meine Pflicht, Herrn von Chandoré alles zu gestehen. Sie kennen ihn, Magloire. Dieser greise Edelmann ist die reinste, achtungsgebietendste Verkörperung der Ehre. Ich konnte ihm mein Geheimnis ebenso ungestraft anvertrauen, wie ich ehemals in den Stunden meines Rausches Genevièves Namen dem Nachtwinde anvertraute.

Ach, warum habe ich so lange gezögert, gekämpft, zurückgehalten! Ein ausgesprochenes Wort hätte mich gerettet, ich wäre jetzt nicht hier, unschuldig eines entsetzlichen Verbrechens angeklagt und gezwungen zu sehen, daß Sie an meinen Worten zweifeln.

Aber das Verhängnis waltete über mir. Nachdem ich während einer ganzen Woche meine Geständnisse hinausgeschoben hatte, sagte ich mir eines Abends nach einem Ausspruch, den Denise über das Vorahnungsvermögen tat: ›Morgen muß es sein.‹ Und ich war fest entschlossen, mein Wort zu halten. In der Tat brach ich am folgenden Morgen viel früher, als es meine Gewohnheit war, und zwar zu Fuß von Boiscoran auf, da ich einer Anzahl Leute, die in meinen Weinbergen arbeiteten, Anweisungen zu geben hatte. Ich nahm den kürzesten Weg durch die Felder. Leider ist auch nicht der geringste Umstand meinem Gedächtnis entfallen. Nachdem ich meine Anordnungen getroffen, kehrte ich auf der Landstraße zurück und begegnete hier dem alten Pfarrer von Bréchy, der ein guter Freund von mir ist.

›Sie können mich ein Stück Weges begleiten‹, sagte er mir. ›Da Sie nach Sauveterre gehen, so machen Sie keinen Umweg, wenn Sie über Valpinson und durch den Wald von Rochepommier gehen.‹

Ach, an welch einer Nichtigkeit hängt oft das Schicksal! Ich begleitete den Pfarrer und verließ ihn erst an der Stelle, wo die Landstraße und der Seitenweg sich kreuzen und die man im Lande den »Carrefour des Maréchaux« nennt. Sobald ich allein war, verdoppelte ich meine Schritte und hatte fast den Ausgang des Waldes erreicht, als ich kaum zwanzig Schritte vor mir Frau von Claudieuse von der entgegengesetzten Seite daherkommen sah.

Trotz meiner Aufregung setzte ich meinen Weg fort, fest entschlossen, ihr, ohne sie anzureden, nur meinen Gruß zu bieten.

So tat ich denn auch, und schon war ich vorüber, als ich hörte, daß sie mich anrief: ›Jacques!‹

Ich hielt inne, oder ich blieb, durch diese Stimme, die so lange eine schrankenlose Herrschaft über meine Seele geübt, wie festgewurzelt stehen.

Alsbald trat sie heran. Sie war noch erregter als ich; ihr Blick flimmerte, ihre Lippen bebten.

›Wohlan!‹ sagte sie zu mir, ›diesmal ist es keine Täuschung; du heiratest das Fräulein von Chandoré?‹

Die Zeit schonender Rücksicht war vorüber.

›Ja!‹ antwortete ich.

›So ist es wahr‹, entgegnete sie, ›und alles ist vorüber! Es wäre vergebens, wenn ich dich an die Gelübde ewiger Liebe erinnern wollte, die du mir einst geschworen, dort, sieh dort unter jener Eichengruppe angesichts dieses selben herrlichen Horizontes . . . Es sind dieselben Bäume, es ist dasselbe Land, ich bin unverändert dieselbe, nur dein Herz ist verändert.‹

Ich erwiderte ihr nichts.

›Liebst du sie sehr?‹ fuhr Frau von Claudieuse fort. Ich schwieg noch immer hartnäckig.

›Ich verstehe dich‹, sagte sie dann. ›Ich verstehe dich nur zu wohl. Und diese Denise? Sie liebt dich dermaßen, daß sie es niemandem verbergen kann. Sie hält die Freundinnen, die ihr begegnen, auf, um ihnen ihre Verlobung mitzuteilen und um ihnen zu sagen, wie glücklich sie ist . . . O ja – sehr glücklich in der Tat! Diese Liebe, die meine Schande war, ist ihr ein Triumph, ja ihr! Ich war gezwungen, sie zu verbergen wie ein Verbrechen; sie brüstet sich mit ihr wie mit einer Tugend. Die gesellschaftlichen Konventionen sind lächerlich und ungerecht, aber ein Narr ist derjenige, der sich ihnen zu entziehen sucht.‹

Tränen, die ersten, die ich sie vergießen sah, glänzten unter ihren langen Wimpern.

›So bin ich dir nichts mehr‹, begann sie wieder. ›Nichts. Oh, ich habe zu sehr gerechnet. Erinnerst du dich noch, daß du am Tage nach dem Tode deines Onkels, weil du von da an reich warst, mir den Vorschlag machtest, mit dir zu fliehen? Ich schlug es aus . . . Ich hielt auf meinen Ruf. Ich hatte den Ehrgeiz nach öffentlicher Achtung. Ich glaubte, man könnte zwei Teile aus seinem Leben machen: den einen seinem Vergnügen opfern, den andern der Erheuchelung seiner Pflicht. Arme Närrin! Und dennoch hatte ich schon längst deine Erkaltung erraten. Ich kannte dich so gut. Dein Herz war für mich wie ein offenes Buch, in dem ich deine geheimsten Gedanken las. Damals konnte ich dich noch zurückhalten. Ich hätte demütig, zuvorkommend, untergeben sein sollen. Statt dessen bestand ich darauf, dir zu gebieten.‹

Ein innerer Kampf schnitt ihr das Wort ab. Dann fuhr sie noch heftiger fort: ›Und du – sage mir wenigstens, ob du glücklich bist.‹

›Ich kann nicht vollkommen glücklich sein, wenn ich Sie unglücklich weiß‹, antwortete ich. ›Aber es gibt keinen Schmerz, der nicht mit der Zeit vernarbt. Sie werden vergessen.‹

›Nie!‹ schrie sie auf.

Und mit gedämpfter Stimme fuhr sie fort: ›Kann ich dich vergessen, wenn ich unaufhörlich deinen Blick in den Augen meiner jüngeren Tochter wiederfinde? Herr von Claudieuse hat mehr Liebe zu ihr als zu der älteren. Begreifst du, was ich leide, wenn er sie auf seinen Knien hält, sie umarmt und küßt? Begreifst du, wie ich mir Gewalt antun muß, um sie ihm nicht zu entreißen, ihm nicht zuzurufen: O siehst du es denn nicht, daß die dort dein Eigentum nicht ist? Oh, das Verbrechen ist fürchterlich, aber, mein Gott, die Strafe . . .‹

Von weitem kamen Leute die Straße herauf.

›Bezwingen Sie sich‹, sagte ich ihr.

Sie richtete sich trotz ihrer Aufregung fest empor. Die Leute gingen höflich grüßend vorüber.

›Nun wohlan!‹ sprach sie nach einer Weile, ›wann ist eure Vermählung?‹

Ich fuhr bei diesen Worten zusammen. So kam sie selbst der Auseinandersetzung entgegen.

›Sie ist noch nicht festgesetzt‹, antwortete ich. ›Mußte ich Sie nicht zuvor sehen? Sie haben früher gewisse Drohungen gegen mich ausgestoßen.‹

›Und du hattest Angst?‹

›Nein. Ich glaubte Sie genug zu kennen, um gewiß zu sein, daß Sie mich nicht für meine Liebe zu Ihnen wie für ein Verbrechen strafen würden. So manche Ereignisse sind seit dem Tage, an dem Sie mir drohten, eingetreten.‹

›Ja, in der Tat, so manche Ereignisse‹, unterbrach sie mich. ›Mein armer Vater ist unverbesserlich. Noch einmal hat er sich unsinnig bloßgestellt, und abermals hat mein Mann bedeutende Summen opfern müssen, um ihn zu retten. Oh, Herr von Claudieuse hat ein edles Herz, und es ist traurig, daß er nur gegen mich der Großmut ermangelt hat! Jede seiner Wohltaten, mit denen er mich überhäuft, mit denen er mich erdrückt, ist für mich ein neuer Schmerz, aber indem ich sie nehme, habe ich mich um das Recht gebracht, ihn mit einem Schlage zu treffen, der ihm fürchterlicher wäre als der Tod . . . Sie können Denise heiraten, Jacques, Sie haben nichts von mir zu fürchten.‹«

Jacques stöhnte. »Oh, so viel hatte ich nicht gehofft, Magloire! Außer mir vor Freude, ergriff ich ihre Hand, um sie an meine Lippen zu ziehen.

›Sie sind die beste Freundin!‹ rief ich aus.

Aber hastig, als hätte sie ihre Hand an meinen Lippen verbrannt, zog sie sie zurück.

›Nein, nicht so!‹ sprach sie erblassend.

Und ihre Aufregung kaum beherrschend, fuhr sie fort:

›Indessen müssen wir uns noch einmal sehen. Sie haben meine Briefe, nicht wahr?‹

›Ich habe sie alle.‹

›Wohl! die müssen Sie mir zurückgeben. Aber wo und wie? Es fällt mir im Augenblick schwer, mich zu entfernen, die jüngere meiner Töchter – unsere Tochter, Jacques – ist sehr krank. Dennoch müssen wir zu Ende kommen.‹

›Sind Sie etwa am Donnerstag frei?‹

›Ja, in diesem Fall seien Sie am Donnerstag abend um neun Uhr in Valpinson. Sie werden mich an der hinteren Seite der Braugebäude finden, dicht am Rande des Waldes, bei einem der Türme des alten Schlosses‹.

›Ist das vorsichtig?‹ fragte ich.

›Habe ich je etwas dem Zufall überlassen‹, antwortete sie, ›und sollte ich in diesem Augenblick der Vorsicht ermangeln? Vertrauen Sie auf mich. Und nun müssen wir uns trennen, Jacques. Auf Donnerstag – und zwar pünktlich.‹

War es möglich? War ich frei? Der Strick zerrissen und ich wieder Herr meiner selbst? Ich glaubte es, und in dem wahnsinnigen Entzücken über meine Freiheit vergab ich Frau von Claudieuse die Besorgnisse eines ganzen Jahres. Was sage ich? Schon klagte ich mich der Ungerechtigkeit, der Grausamkeit an. Ich bewunderte sie in dem Glauben, daß sie sich meinem Glück zum Opfer brachte. Ich hätte ihr in überströmender Dankbarkeit zu Füßen fallen und den Saum ihres Kleides küssen mögen.

Es war nun nicht mehr nötig, mein Geheimnis Herrn von Chandoré anzuvertrauen. Ich konnte nach Boiscoran zurückkehren.

Schon hatte ich mehr als die Hälfte des Weges zurückgelegt, ich setzte ihn fort, und als ich nach Sauveterre kam, spiegelte sich die Umwandlung meiner Seele so deutlich in meinem Gesicht, daß Denise mir sagte:

›Es ist dir etwas Glückliches begegnet, Jacques.‹

›O ja, etwas sehr Glückliches.‹ Zum erstenmal durfte ich an ihrer Seite frei aufatmen. Es war mir vergönnt, sie zu lieben, ohne vor dem Gedanken zu zittern, daß meine Liebe ihr Unheil bringen würde. Diese Sicherheit aber währte nicht lange. Sobald ich mir Zeit nahm, mich zu besinnen, begann das seltsame Rendezvous, das Frau von Claudieuse mir angegeben, mich zu beunruhigen.

Wer weiß, ob es nicht eine Falle ist? Je mehr der Tag herannahte, desto aufdringlicher kam mir dieser Gedanke. Den ganzen Donnerstag über war ich von den traurigsten Vorahnungen bestürmt. Wenn ich gewußt hätte, wie die Gräfin zu benachrichtigen gewesen, so hätte ich mich auf keinen Fall zu ihrem Rendezvous eingestellt. Aber es bot sich mir kein Mittel, ihr zuvorzukommen. Und ich kannte sie gut genug, um zu wissen, daß ich alles in Frage stellte, wenn ich nicht Wort hielt.

Ich speiste indessen zur gewöhnlichen Stunde; nach beendeter Mahlzeit ging ich in mein Zimmer und schrieb an Denise: sie möge mich an dem heutigen Abend nicht erwarten, da ein Geschäft von der höchsten Wichtigkeit mich hinderte, zu ihr zu kommen.

Ich übergab diesen Brief Michel, dem Sohn meines Pächters, und befahl ihm, ihn fortzutragen, ohne eine Minute zu verlieren. Als dies getan war, band ich alle Briefe der Frau von Claudieuse zu einem Bündel, das ich in meine Tasche steckte, nahm mein Gewehr und ging. Es war etwa acht Uhr und noch heller Tag.«

Ob nun Herr Magloire der Erzählung des Angeklagten glaubte oder nicht, jedenfalls war er im höchsten Grade interessiert. Er hatte seinen Stuhl näher gerückt, und häufig unterbrach er den Bericht mit einem leisen Ausruf.

»Unter anderen Umständen«, fuhr Jacques von Boiscoran fort, »hätte ich einen der beiden gewöhnlichen Wege gewählt, um mich nach Valpinson zu begeben. Aber von Mißtrauen gequält wie ich war, dachte ich nur daran, mich zu verbergen, und schlug den Weg durch das Moor ein. Ich wußte wohl, daß es teils überschwemmt war, aber ich zählte auf meine genaue Kenntnis des Geländes und auf meine Geschicklichkeit und fürchtete daher nicht, durch das Wasser aufgehalten zu werden.

Ich sagte mir, daß ich hier sicher nicht gesehen und auch keinem begegnen würde. Aber ich irrte mich. Als ich beim Damm der Seille ankam und eben im Begriff war, hindurchzuschreiten, sah ich mich dem Burschen Ribot, dem Sohn eines Pächters von Bréchy, gegenüber. Er schien so verwundert, mich an diesem Orte zu sehen, daß ich mich genötigt glaubte, meine Anwesenheit zu erklären, und so einfältig war ich in meiner Aufregung, daß ich ihm sagte, ich hätte ein Geschäft in Bréchy und sei durch den Morast gegangen, um Wasservögel zu jagen.

›Wenn es so ist‹, antwortete er höhnisch lachend, ›so jagen wir nicht dasselbe Wild.‹

Damit entfernte er sich, aber mich verdroß diese Begegnung aufs äußerste; und den Burschen Ribot zu allen Teufeln wünschend, setzte ich meinen Weg fort, der immer schwieriger und gefährlicher wurde.

Es mußte längst neun Uhr sein, als ich endlich in der Umgegend von Valpinson ankam.

Aber die Nacht war sehr hell. Ich verdoppelte meine Vorsicht.

Der Ort, den die Gräfin zum Rendezvous gewählt, war über zweihundert Meter von dem Herrenhause und der Meierei entfernt, von Braugebäuden eingeschlossen und dicht am Walde gelegen.

Und vom Walde her näherte ich mich.

Hinter den Bäumen verborgen, sondierte ich das Terrain, und alsbald sah ich Frau von Claudieuse bei einem der alten Türme stehen. Sie war in einen Morgenrock von hellem Mousseline gekleidet, der schon von weitem zu erkennen war.

Da ich nichts Verdächtiges entdeckte, trat ich vor; sie aber sprach, sobald sie mich erblickte: ›Seit fast einer Stunde erwarte ich Sie.‹

Ich erklärte ihr die Schwierigkeiten des Weges, den ich genommen hatte, und fragte sogleich: ›Wo ist Ihr Mann?‹

›Er leidet an Rheumatismus‹, antwortete sie, ›und hat sich niedergelegt.‹

›Wird Ihre Abwesenheit ihn nicht wundern?‹

›Nein. Er weiß, daß ich bei meiner jüngeren Tochter wachen muß . . . Ich bin durch die kleine Tür des Waschhauses hinausgegangen.‹

Und ohne mir Zeit zu einer Erwiderung zu lassen, fragte sie: ›Wo sind meine Briefe?‹

›Hier‹, antwortete ich und reichte sie ihr hin.

Sie ergriff sie mit einer fieberhaften Bewegung und sagte mit halblauter Stimme: ›Es müssen ihrer vierundachtzig sein.‹

Und ohne einen Gedanken daran, welche Beleidigung sie mir damit antat, begann sie zu zählen.

›Sie sind alle vorhanden‹, sagte sie und fügte dann ein Paket hinzu: ›Und hier sind die Ihrigen.‹

Aber sie gab sie mir nicht.

›Wir werden sie verbrennen‹, erklärte sie.

Ich erbebte vor Überraschung.

›Was denken Sie?‹ rief ich, ›hier . . . zu dieser Stunde . . . Die Flamme könnte jemanden herbeiziehen.‹

›Wen? Was fürchten Sie? Übrigens können wir in das Gebüsch treten. Vorwärts! Geben Sie mir Zündhölzer.‹

Ich suchte in allen meinen Taschen, aber vergebens, und antwortete ihr: ›Ich habe keine.‹

›O gehen Sie doch! Sie, ein leidenschaftlicher Raucher, der selbst an meiner Seite nicht auf seine Zigarre verzichten konnte!‹

›Ich habe gestern mein Feuerzeug bei Herrn von Chandoré liegenlassen.‹

Sie stampfte heftig mit dem Fuß auf den Boden und entgegnete: ›Wenn es so ist, will ich hineingehen, um welche zu holen.‹

Das war ein Aufschub und eine neue Unvorsichtigkeit. Ich begriff überdies, daß ich wohl tun mußte, wie sie wollte.

›Es ist nicht nötig‹ antwortete ich daher, ›warten Sie!‹

Es gibt ein Mittel, die Zündhölzer zu ersetzen, das jeder Jäger kennt. Indem ich aus meiner Flinte eine Patrone hervorzog, entfernte ich die Schrotladung, die ich durch ein Stück Papier ersetzte. Indem ich dann meine Waffe gegen den Boden stemmte, um den Knall zu dämpfen, zündete ich das Pulver an.

Nun hatten wir Feuer, und ich steckte die Briefe damit an.

Einige Augenblicke später war nichts mehr von ihnen übrig als die geschwärzten Reste, die ich in der Hand zerrieb und in den Wind zerstreute.

Regungslos wie eine Statue sah Frau von Claudieuse mir zu.

›Das ist es also‹, murmelte sie, ›was von fünf Jahren unseres Lebens, unserer Liebe und unserer Schwüre übrigbleibt. Staub und Asche.‹

Ich antwortete nur durch einen unbestimmten Ausruf. Denn ich hatte Eile, mich zurückzuziehen. Sie begriff es nur zu wohl und rief heftig: ›So weit ist es gekommen! Ich flöße Ihnen Grauen ein!‹

›Wir haben‹, antwortete ich, ›soeben eine unerhörte Unvorsichtigkeit begangen.‹

›Was liegt daran!‹ Und mit dumpfer Stimme fuhr sie fort: ›Sie erwartet das Glück und ein neues Leben voll berauschender Versprechungen; es ist natürlich, daß Sie sich fürchten . . . Mein Leben aber ist dahin, ich habe nichts zu erwarten, alles haben Sie in mir getötet – ich fürchte nichts.‹

Ich sah, wie Zorn in ihr aufstieg.

›Gereut Sie schon Ihre Mildherzigkeit, Geneviève?‹ fragte ich in sanftem Tone.

›Vielleicht‹, erwiderte sie mit einem Ausdruck, der mich durchschauerte. ›Ich zeigte mich wohl zu feig und schwach. Sie werden sich über mich lustig machen. O welch elendes Geschöpf ist doch eine verlassene Frau, die mit Tränen verzichtet!‹

Und rauher fuhr sie fort: ›Gestehen Sie, daß Sie mich nie geliebt haben!‹

›Ach, Sie wissen nur zu gut, daß das Gegenteil der Fall war.‹

›Und doch geben Sie mich auf um einer andern – um dieser Denise willen!‹

›Sie sind verheiratet, Geneviève, Sie können nicht die Meine sein.‹

›Aber wenn – wenn ich frei, wenn ich Witwe gewesen wäre . . .‹

›Dann wären Sie jetzt meine Gattin, das wissen Sie wohl!‹

Sie erhob mit einer heftigen Gebärde die Hände gen Himmel und rief mit einer Stimme, die mir bis ins Schloß zu dringen schien: ›Seine Frau! – Wenn ich Witwe gewesen wäre, würde ich seine Gattin sein – o mein Gott! Glücklicherweise ist mir diese schreckliche Idee noch nicht gekommen.‹«

Bei diesen Worten fuhr der berühmte Anwalt von Sauveterre empor, stellte sich kerzengerade und dicht vor Jacques von Boiscoran hin und heftete einen Blick auf ihn, der in die tiefsten Gründe seiner Seele dringen zu wollen schien.

»Und dann?« fragte er ihn.

Jacques hatte nicht mehr Willenskraft genug, kaltblütig zu bleiben.

»Dann«, fuhr er fort, »habe ich vergeblich versucht, Frau von Claudieuse zu beschwichtigen, zu rühren, oder die sanfteren Empfindungen vergangener Zeiten wieder in ihr zu beleben. Ich selbst war erschüttert und verwirrt, es war nichts mehr klar in mir. Obschon ich dieses Weib tödlich haßte, konnte ich mich doch einer weichen Stimmung nicht erwehren . . . Ich bin nur ein Mensch, und ich möchte den Menschen sehen, der nicht empfindlich berührt würde, wenn er Gegenstand eines so tiefen Leids, einer so entsetzlichen Verzweiflung wäre . . . Ich weiß nicht mehr, was ich ihr alles gesagt habe! Es handelte sich um mein Wohl, um das Glück Denises . . . Ich bin kein Romanheld, sondern fühlte mich schwach der erschreckenden Wirklichkeit gegenüber, ich habe mich gedemütigt, ich habe gefleht, gelogen . . . ich hab' ihr geschworen, daß es vor allem meine Familie sei, die meine Verheiratung wünsche . . . Ich hoffte durch die Gewalt meiner zärtlichen und schmeichelnden Worte ihr die Bitterkeit unserer Trennung zu mildern . . . Torheit!

Sie hörte mich an, kalt wie ein Eisblock, und kaum daß ich innehielt, rief sie mit finsterem Lachen: ›Und das sagen Sie alles mir – mir! . . . Ihre Denise? Haha! Wenn ich eine Frau gewöhnlichen Schlags wäre, so zöge ich mich jetzt still zurück, und in einem Jahre sähe ich Sie wieder zu meinen Füßen.‹

Ich wollte weitersprechen, aber sie gestattete es nicht.

›Oh, gehen Sie! Ersparen Sie mir wenigstens die Kränkung Ihres Mitleids! . . . Ich werde sehen . . . Aber ich verspreche Ihnen nichts . . . Adieu!‹

Sie ging raschen Schrittes auf das Schloß zu, und ich stand wie angewurzelt, betäubt, denkunfähig und fragte mich, ob sie nun wohl hinginge, um dem Grafen von Claudieuse alles zu gestehen. In diesem Augenblick geschah es, daß ich mechanisch die ausgebrannte Patrone aus meinem Gewehr zog und sie durch eine neue ersetzte. Dann, als ringsum alles ruhig blieb, entfernte auch ich mich mit großen Schritten.«

»Um welche Zeit war das?« fragte Magloire.

»Das genau zu sagen ist mir unmöglich. In einer solchen Aufregung verliert man jedes Zeitgefühl. Ich bin durch den Wald von Rochepommier heimgekehrt.«

»Haben Sie dabei nichts gesehen?«

»Nein.«

»Und nichts gehört?«

»Nichts.«

»Sie können aber doch nach Ihrer Erzählung nicht weit von Valpinson gewesen sein, als der Brand ausbrach?«

»Das ist richtig, und ich würde auch, wenn ich über freies Feld gegangen wäre, sicher die Flammen gesehen haben; aber ich war im Walde, wo die dichten Bäume mir den Blick begrenzten.«

»Und diese Bäume haben es Ihnen auch unmöglich gemacht, die beiden auf Herrn von Claudieuse abgefeuerten Schüsse zu hören?«

»Allerdings können sie dazu beigetragen haben. Aber das war gar nicht nötig. Der Wind, welcher sich erhoben hatte, war um diese Zeit schon so mächtig, daß es unmöglich gewesen wäre, den Schuß einer Jagdflinte auf fünfzig Schritte zu vernehmen.«

Der Anwalt Magloire verstand es, die Bewegungen seiner Ungeduld zu verbergen. Er war in dieser Beziehung weit ausdauernder als der Untersuchungsrichter.

»Glauben Sie nun wohl«, wandte er sich an Jacques, »daß Ihre Erzählung geeignet ist, alles zu widerlegen und jedem zu genügen?«

»Ich glaube, daß meine Erzählung, welche der Ausdruck der allergenauesten Wahrheit ist, vollständig hinreicht, die von Herrn Galpin-Daveline gegen mich erhobenen Anklagen zu widerlegen. Sie erklärt, warum ich meinen Besuch in Valpinson verhehlte, wen ich auf dem Hin- und Rückwege getroffen, wo ich die Zeit vor und während des Brandes verbracht habe, und endlich, wie ich dazu kam, alles zu leugnen. Sie läßt auch darüber keinen Zweifel mehr, auf welche Weise eine meiner Patronenhülsen in die Nähe des Schlosses gekommen ist und warum das Wasser, in dem ich später meine Hände wusch, schwarz aussah.«

Der Anwalt von Sauveterre schien seine Überzeugungen noch immer unerschüttert festzuhalten.

»Und welches war«, fragte er, »am andern Morgen, als man Sie verhaftete, Ihr erster Eindruck?«

»Ich dachte sofort an Valpinson.«

»Und als man Sie unterrichtete, welch Verbrechen dort verübt worden sei?«

»Da sagte ich mir, daß Frau von Claudieuse habe Witwe werden wollen.«

Magloires Antlitz erschien wie mit Blut übergossen.

»Unseliger«, rief er heftig, »Sie wagen es, die Gräfin von Claudieuse einer solchen Untat anzuklagen?«

Der Zorn gab Jacques all seine Kraft zurück.

»Wen beschuldige ich?« erwiderte er. »Es ist ein Verbrechen begangen worden, und zwar unter Umständen, die entweder sie oder mich dem Verdacht aussetzen. Ich bin unschuldig, folglich ist sie schuldig . . .«

»Warum aber haben Sie dies alles nicht gleich am ersten Tage gesagt?«

Jacques zuckte die Achseln.

»Wie und in welcher Form«, versetzte er im Tone bitterer Ironie, »soll ich Ihnen meine Gründe dafür darstellen? Wenn ich anfangs schwieg, so geschah es, weil mir die Einzelheiten und der Hergang des Verbrechens nicht bekannt waren; weil es mir ferner widerstrebte, eine Frau zu beschuldigen, die mit mir ein kriminell strafbares Liebesverhältnis gehabt hatte, und weil endlich ich mich durchaus nicht in Gefahr glaubte. Ja, noch mehr: ich habe geschwiegen, weil ich hoffte, daß es der Justiz gelingen werde, die Wahrheit aufzufinden, oder daß es die Gräfin von Claudieuse nicht würde ertragen können, mich unschuldig angeklagt zu sehen. Dann aber, als ich wirklich die Gefahr erkannte, habe ich mich vor der Wahrheit gefürchtet.«

Das Ehrgefühl des Anwalts Magloires schien auf das stärkste verletzt zu sein.

»Sie sprechen nicht die Wahrheit, Jacques«, unterbrach er ihn; »und ich will Ihnen sagen, warum Sie erst geschwiegen haben: weil es nicht leicht war, einen Roman zu erfinden, der sich für alle Umstände der Untersuchung als vollkommen rechtfertigend erwies. Aber Sie sind ein Mann von vielen Hilfsmitteln . . . Sie haben gesucht und gefunden . . . Ihrer Erzählung fehlt nichts – als die Wahrscheinlichkeit. Sie sagen mir, daß Frau von Claudieuse ihren leuchtenden Ruf befleckt, daß sie fünf Jahre lang mit Ihnen ein Liebesverhältnis gehabt habe – vielleicht halte ich diese Angabe für möglich . . . Aber daß diese Frau selbst sollte Hand angelegt haben, ihr Haus in Brand zu stecken, daß sie sollte ein Gewehr ergriffen haben, um ihren Gatten zu erschießen, das werden Sie mich nie glauben machen.«

»Und dennoch ist es die Wahrheit.«

»Nein; das Zeugnis des Grafen von Claudieuse ist in diesem Punkte genau: er hat seinen Mörder gesehen, es war ein Mann, der auf ihn schoß . . .«

»Aber wer sagt Ihnen, daß Herr von Claudieuse nicht genau unterrichtet ist, daß er nicht, um seine Gattin zu retten, mich schuldig erscheinen läßt . . . Dies wäre eine Rache . . .«

Diese Bemerkung blendete den Anwalt auf eine Sekunde, aber er wies sie sofort wieder ab.

»Schweigen Sie«, rief er, »oder schaffen Sie Beweise!«

»Alle Briefe sind verbrannt – wie könnte ich?«

»Wenn man fünf Jahre lang der Liebhaber einer Frau ist, muß man stets Beweise zu finden wissen.«

»Ich habe Ihnen wohl gezeigt, daß dies nicht der Fall ist.«

»Ich widerspreche Ihnen nicht«, erklärte Magloire. Und mit einer von Bewegung und Mitleid veränderten Stimme fuhr er fort: »Unglücklicher! Bedenken Sie wohl, daß Sie, um der Strafe eines Verbrechens zu entgehen, ein tausendmal ärgeres begehen . . .«

Jacques rang seine Hände.

»Es ist um wahnsinnig zu werden!« rief er.

»Und wenn ich auch trotz meiner innersten Bedenken«, fuhr der Anwalt fort, »als Ihr Freund alle Ihre Angaben glauben wollte, was würde Ihnen das helfen? . . . Glaubten Ihnen deswegen die andern? . . . Ich will Ihnen vollständig sagen, was ich denke: wenn ich auch der Wahrheit Ihrer Mitteilungen völlig sicher wäre, so würde ich doch, ohne genügende Beweise, nie ein Mittel der Verteidigung darin finden. In dieser Richtung gegen die Anklage vorgehen, das wäre – hören Sie wohl! – Ihr sicherer Ruin.«

»Und doch ist es der einzige Weg zur Verteidigung, denn es ist die Wahrheit . . .«

»Dann müssen Sie sich einen anderen Verteidiger wählen«, entgegnete der Anwalt und schritt der Ausgangstüre zu.

»Allmächtiger Gott!« rief Jacques außer sich; »er verläßt mich!«

»Nein«, erwiderte Magloire, »aber Sie befinden sich jetzt in einer so großen Aufregung, daß ich heute mit Ihnen nicht weiterverhandeln kann . . . überlegen Sie . . . ich werde morgen wiederkommen.«

Er entfernte sich, und Jacques sank wie eine leblose Masse auf einen Stuhl zurück. »Es ist aus«, sagte er tonlos; »ich bin verloren!«


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