Emile Gaboriau
Der Strick um den Hals
Emile Gaboriau

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30

»Wissen Sie schon das Neueste?«

»Das Neueste? Nein!«

»Fräulein von Chandoré hat Herrn von Boiscoran im Gefängnis besucht.«

»Ist's möglich?«

»Sie können darauf schwören. Zwanzig Personen haben sie am Arme des älteren Fräuleins Lavarande die Rue du Château hinaufgehen sehen. Um zwei Uhr zehn Minuten hat sie das Gefängnis betreten, und erst Viertel nach drei ist sie wieder herausgekommen.«

»Ah! Das junge Ding ist närrisch.«

»Und die Tante! Was sagen Sie zu der Tante?«

»Die ist noch verrückter als ihre Nichte.«

»Das sage ich auch. Aber der Herr von Chandoré, der Großvater!«

»Er muß den Kopf verloren haben!«

In dieser Weise wurde die Neuigkeit besprochen, daß Fräulein Denise den Herrn von Boiscoran besucht habe. Die »Damen der Gesellschaft« konnten gar nicht darüber hinwegkommen. Man ist nämlich in Sauveterre außerordentlich tugendsam und glaubt deshalb das Recht zu haben, strenger zu sein als sonst gewöhnlich die Leute; namentlich versteht man in bezug auf das Kapitel des Schicklichen keinen Spaß.

Der öffentlichen Meinung Trotz zu bieten ist ein unverzeihliches Verbrechen. Und diese Meinung erklärte sich von Tag zu Tag entschiedener gegen Herrn von Boiscoran. Er lag am Boden, und man stritt sich um den Ruhm, ihm einen Schlag zu versetzen.

Aber niemand legte sich die Frage vor: »Ist er schuldlos?«

Die Beredsamkeit des Doktor Seignebos, der Einfluß des Herrn Sénéchal, die geschickten Bemühungen Méchinets blieben völlig fruchtlos.

»Ah, wir werden eine sehr interessante Schwurgerichtssitzung haben«, sagten die Leute.

Von Tag zu Tag interessierte man sich leidenschaftlicher für den Prozeß und für diejenigen, welche mittelbar oder unmittelbar daran beteiligt waren. Man wunderte sich über das lange Dableiben des Herrn Folgat, der wegen seiner großen Zurückhaltung allgemein mißfiel und von dem man sagte, er habe einen maßlosen, ganz falsch angebrachten Stolz.

»Er muß doch in Paris nichts zu tun haben«, hieß es, »daß er sich schon über einen Monat in Sauveterre aufhält.«

Natürlicherweise beutete der Redakteur der »Indépendance de Sauveterre« diese Mine unverhofften Interesses mit einer Zähigkeit ohnegleichen aus. Er vergaß darüber sogar seinen großen Streit mit dem Redakteur des »Impartial de la Seudre«, den er des Bonapartismus beschuldigt hatte und der ihm dafür den Schimpfnamen eines »Kommunarden« zurückgegeben hatte. Jeden Tag brachte die »Indépendance« an der Spitze ihrer Lokalchronik einen Artikel über die »Affäre Boiscoran«. Sie schrieb zum Beispiel, indem er viel Mißbrauch mit den Anfangsbuchstaben der Namen trieb:

»Die Gesundheit des Grafen von C., weit entfernt, sich zu bessern, nimmt sichtlich ab. Er vermochte bei seiner Übersiedelung nach Sauveterre noch aufzustehen und verläßt nun das Bett nicht mehr. Gestern schien uns Herr Doktor S. sehr beunruhigt.

Und weil ein Unglück nie allein kommt, ist auch die jüngere Tochter des Herrn Grafen jetzt sehr leidend. Sie hatte während des Brandes in Valpinson die Masern, und der Schrecken, die Kälte und der Umzug haben einen Rückfall herbeigeführt, welcher möglicherweise gefahrbringend werden könnte.

Inmitten dieser furchtbaren Prüfungen zeigt die Frau Gräfin von C. Mut und Hingebung in bewundernswürdiger Weise. Sobald sie auf einige Augenblicke ihre teuren Leidenden verläßt, um in der Kirche für sie zu beten, erhält sie auf ihrem Wege seitens des Publikums die deutlichsten Beweise der achtungsvollsten Teilnahme und aufrichtigsten Bewunderung.«

»O dieser elende Boiscoran!« riefen die Leute von Sauveterre, wenn sie einen solchen Artikel gelesen hatten.

Am folgenden Morgen lasen sie dann:

»Wir haben uns in das Hospital begeben, und die Frau Oberin hat die Güte gehabt, uns Neues über C. mitzuteilen, jenen armen Schwachsinnigen, welcher in dem blutigen Drama von Valpinson eine so entscheidende Rolle spielt. Der geistige Zustand C.s hat sich nicht geändert, seitdem er von den Gerichtsärzten wissenschaftlich untersucht worden ist. Der Funken von Verstand, welchen der Schrecken des Verbrechens in seinem Gehirn entzündet, scheint für immer und gänzlich erloschen zu sein. Vergeblich sucht man ihm ein Wort zu entreißen. Nur mit Mühe erkennt er diejenigen wieder, welche für ihn Sorge getragen haben. Er ist indessen nicht mehr eingeschlossen. Harmlos und sanft, gleich einem armen Tier, welches seinen Herrn verloren hat, irrt er betrübt in den Höfen und Gärten des Hospitals umher.

Herr Doktor S., welcher sich so viel mit ihm beschäftigte, hat es fast ganz aufgegeben, ihn noch zu sehen.

Einige Personen glauben, C. werde als Zeuge aufgerufen werden. Sichere Nachrichten, die wir an maßgebendster Stelle eingezogen haben, ermächtigen uns, das Gegenteil anzunehmen und zu glauben, daß C. nicht vor den Geschworenen erscheint, die Debatten demnach dieses Element von so hohem dramatischem Interesse einbüßen werden.«

Und wenn dann die Leute, welche überall Wunder zu sehen glaubten, dies lasen, so schüttelten sie den Kopf und sagten weise: »Die Aussage Cocoleus war ganz gewiß ein Fingerzeig und Eingriff der Vorsehung!«

Einen Tag später beschäftigte sich dann die »Indépendance« mit Herrn Galpin-Daveline:

»Herr G.-D.«, schrieb sie, »der Untersuchungsrichter, ist in diesem Augenblicke sehr leidend, was man nach einer so mühevollen Untersuchung, wie die Affäre Boiscoran sie erforderte, sehr begreiflich finden muß. Man versichert uns, daß er nur den Verweisungsbeschluß der Anklagekammer erwartet, um einen Urlaub zu nehmen, den er in einem Pyrenäenbade zu verbringen gedenkt.«

Und in dieser Weise erschienen von Tag zu Tag kleine Neuigkeiten:

»Das Geheimnis des Herrn J. von B. beginnt sich zu lichten.«

Oder:

»Herr von B. hatte heute morgen eine Unterredung mit seinen Verteidigern, Herrn M., dem bedeutendsten Manne unserer hiesigen Anwaltschaft, und Herrn F., einem jungen und bereits berühmten Anwalt aus Paris. Diese Unterredung dauerte mehrere Stunden.«

Ferner:

»Herr von B. empfing heute den Besuch seiner Mutter.«

Und endlich:

»Wir hören in diesem Augenblicke von der Abreise der Frau Marquise von B. und des Herrn F. Unser Korrespondent in Poitiers schreibt uns, daß die Entscheidung der Anklagekammer nicht mehr lange auf sich warten lassen wird.«

Niemals hatte die »Indépendance« von Sauveterre so viele eifrige Leser wie zu dieser Zeit. Die Mehrzahl ihrer Enthüllungen lieferten diejenigen, welche die Freunde Jacques' ausspionierten und ihre Zeit damit zubrachten, daß sie zu erfahren suchten, was bei Herrn von Chandoré vorging.

So kam es, daß am Abend des Tages, an welchem Denise ihrem Bräutigam einen Besuch im Gefängnis gemacht hatte, verschiedene Leute in der Rue de la Montagne auf- und niederschlenderten. Gegen halb elf Uhr sahen sie den Wagen des Herrn von Chandoré vor der Tür des Hauses halten. Um elf Uhr nahmen Herr von Chandoré und Doktor Seignebos darin Platz, und der Kutscher setzte das Pferd in scharfen Trab.

»Wohin mögen sie wohl fahren?« fragten sich die Neugierigen.

Und sie liefen dem Wagen nach. Dieser schlug den Weg zum Bahnhof ein.

Herr von Chandoré war durch eine Depesche benachrichtigt worden, daß in dieser Nacht der Marquis und die Marquise von Boiscoran sowie Herr Folgat von Paris eintreffen würden. Die beiden Herren kamen viel zu früh auf den Bahnhof. Das Lokalinteresse der Eisenbahn zeichnet sich in bezug auf Sauveterre nicht durch besondere Pünktlichkeit aus und hat in seinem Dienste noch gewisse altväterische Gewohnheiten jener Landkutschen bewahrt, deren Führer im Augenblick der Abfahrt immer noch irgend etwas vergessen haben.

Der Zug, welcher um elf Uhr fünfundfünfzig Minuten da sein sollte, war ein Viertel nach zwölf Uhr noch immer nicht signalisiert. Wenn man durch die Fenster des Dienstzimmers blickte, konnte man den Stationsvorsteher in seinem großen Ledersessel schlafen sehen, und die anderen Angestellten schliefen, auf den Bänken des Wartesaals ausgestreckt, ebenfalls. Die Umgebung des Bahnhofs war still und verödet.

Man hatte sich jedoch in Sauveterre an diesen Zustand bereits gewöhnt; Herr von Chandoré und Doktor Seignebos waren also weder überrascht noch ungeduldig, sondern spazierten auf dem Bahnhofe ruhig hin und her. Sie würden, da sie ihre Stadt kannten, auch kaum verwundert gewesen sein, wenn ihnen in diesem Augenblicke jemand gesagt hätte, daß sie beobachtet würden, was in der Tat der Fall war. Zwei Neugierige, beharrlicher als die übrigen, hatten in der Kutsche Platz genommen, die alle Züge erwartet, und lagen, in die Ecke gedrückt, auf der Lauer.

»Wen mögen sie nur erwarten?« sagte der eine zum andern.

Endlich gegen dreiviertel eins läutete eine Glocke, und auf dem Bahnhof wurde es lebendig. Der Vorsteher öffnete sein Zimmer, die Schaffner und Gepäckträger erhoben sich und rieben sich die Augen, die Türen gingen geräuschvoll auf, und der Sand knirschte unter den Rädern der Schubkarren. In einiger Entfernung wurde das dumpfe Rollen des Zugs hörbar, und fast gleichzeitig sah man, wie einen Feuerball, das rote Licht der Lokomotive durch die Nacht leuchten. Herr von Chandoré und Doktor Seignebos begaben sich in den Wartesaal. Der Zug hielt. Eine Wagentür öffnete sich, und Frau von Boiscoran stieg aus, unterstützt von Herrn Folgat. Der Marquis von Boiscoran folgte, mit einer Reisetasche in der Hand.

»Nun wissen wir's!« sagte einer der beiden Aufpasser. Da der Zug keine andern Fremden brachte, so veranlaßten sie den Kutscher, sogleich abzufahren, völlig besessen von der Gier, die Ankunft des Vaters Jacques' von Boiscoran ihren Bekannten so schnell als möglich anzukündigen. Die Zeit hierzu war allerdings wenig geeignet, denn die Stadt lag im tiefen Schlafe, aber die freiwilligen Spione verzweifelten dennoch nicht, weil sie noch einige Kneipbrüder im Literarischen Zirkel anzutreffen hofften. Seit Einführung des Glücksspiels gab es nämlich in diesem Zirkel in der Regel Leben bis tief in die Nacht, ja bis zum grauenden Morgen.

So fanden die unermüdlichen Neugierigen noch Gelegenheit, ihre Neuigkeit anzubringen. Wären sie weniger darauf erpicht gewesen, diese noch zu verbreiten, so würden sie noch Zeugen der ersten Begegnung des Marquis von Boiscoran und des Herrn von Chandoré gewesen und vielleicht nicht ohne Rührung geblieben sein.

Der Marquis und Herr von Chandoré waren, als sie einander erblickten, wie von einem Gedanken beseelt aufeinander zugeeilt und hatten sich in tiefernster Stimmung die Hände gedrückt. Sie hatten Tränen in den Augen, und obwohl sie beide sprechen wollten, vermochten sie es doch nicht; es war, als ob die Klagen, welche beiden auf die Lippen kamen, wieder in die Tiefe ihres Herzens hinabsanken. Sie hatten übrigens auch beide kein Bedürfnis nach Worten. Das gedrückte Schweigen des Großvaters Denises sagte dem Vater Jacques' mehr, als Worte vermochten.

Sie blieben unbeweglich Auge in Auge, bis der Doktor Seignebos, welcher sich wie immer viel zu schaffen machte, erschien und ankündigte, daß das Gepäck in den Wagen gebracht sei. Sie gingen hinaus.

Die Nacht war klar, aus der dunklen Masse der stillen Stadt erhoben sich die beiden Türme des alten Schlosses, welches in ein Gefängnis umgewandelt war, scharf abgegrenzt gegen den Nachthimmel.

»Dort ist Jacques!« murmelte Herr von Boiscoran. »Dort ist mein Sohn eingekerkert, eines widerwärtigen Verbrechens angeklagt.«

»Wir werden ihn schon herausholen, so gewiß die Wahrheit lebt!« versetzte Seignebos, indem er dem Marquis in den Wagen half.

Aber vergeblich suchte der Arzt während der Fahrt den Mut seiner Begleiter aufzurichten. Seine Hoffnungen fanden keinen Widerhall in ihren trostlosen Seelen.

Herr Folgat fragte nach Fräulein Denise, welche er, wie er meinte, zu seiner Überraschung nicht mit am Bahnhof getroffen habe. Herr von Chandoré erwiderte ihm, daß Denise mit den Tanten Lavarande zu Haus geblieben sei, um Herrn Magloire Gesellschaft zu leisten. Damit war das Gespräch wieder abgebrochen.

Es war eine jener Situationen, in denen Reden eine Qual ist. Der Marquis von Boiscoran brauchte alle seine Willenskraft, um seine Erregung zu meistern. Die Entfernung, sagt man, mildert die Empfindungen. Der Händedruck des Herrn von Chandoré hatte ihn stärker ergriffen als alle Briefe, die er seit Wochen empfangen; und als er in der Ferne Jacques' Gefängnis erblickte, ergriff ihn mit voller Gewalt das Mitgefühl mit dem Unglücklichen, der darum kämpfte, seine Unschuld zu beweisen.

Frau von Boiscoran schien seit der erschütternden Szene des vorigen Morgens wie mit einem Schlage alle Spannkraft ihrer Seele verloren zu haben, und Herr von Chandoré konnte sie in diesem Zustande nicht ohne Grauen ansehen. Wenn Jacques' Eltern verzweifelten, was blieb ihm zu hoffen, der Denises Geschick unauflöslich an das Los Jacques' angeknüpft sah?

Inzwischen hielt der Wagen in der Rue de la Montagne. Die Tür des Hauses wurde geöffnet, und Frau von Boiscoran fand sich von Denise umarmt, welche sie bis zu einem Ruhepolster des Salons geleitete.

Die übrigen waren gefolgt. Es war bereits nach zwei Uhr nachts. Doktor Seignebos machte den Anfang, indem er seine Brille zurechtrückte.

»Ich schlage vor«, sagte er, »daß wir sogleich unsere Informationen austauschen. Ich bin hier freilich noch immer auf demselben Punkte, aber Sie kennen meine Überzeugungen. Ich gebe sie nicht auf. Cocoleu ist ein Heuchler, und ich werde ihn entlarven. Man meint, ich kümmere mich nicht mehr um ihn, aber in Wirklichkeit beobachte ich ihn genauer als jemals.«

Denise unterbrach ihn, indem sie um Gehör bat, und bleich, weil es ihr schrecklich war, das Geheimnis ihres Herzens zu offenbaren, aber im Auge das Feuer des Mutes, erzählte sie dann mit bebender Stimme, was sie schon ihrem Großvater gebeichtet hatte, nämlich, daß sie zu Jacques ins Gefängnis gegangen sei und ihm zur Flucht geraten habe, daß sie aber bei ihm auf eine entschiedene Zurückweisung gestoßen sei.

»Gut gemacht, junges Mädchen!« rief Seignebos enthusiastisch. »Sehr gut! . . . So unglücklich Jacques immer sein mag, ist sein Los doch noch beneidenswert.«

Denise schloß ihre Mitteilung, indem sie auf Herrn Magloire einen triumphierenden Blick warf.

»Nach diesem Vorkommnis«, sagte sie, »wird wohl niemand mehr Jacques für einen feigen Selbstmörder halten.«

Der berühmte Anwalt von Sauveterre gehörte nicht zu denen, welche ihr Ohr der Wahrheit und Gerechtigkeit verschließen.

»Ich muß gestehen«, sagte er, »daß, wenn ich Jacques morgen zum ersten Male sähe, ich anders mit ihm sprechen würde, als ich es getan habe.«

»Und ich«, versetzte der Marquis von Boiscoran, »ich erkläre, daß ich für meinen Sohn einstehe wie für mich selbst, und ich werde ihm dies morgen selbst sagen . . .«

Hierauf beugte er sich zu seiner Gemahlin nieder und fügte leise, daß nur sie ihn hören konnte, hinzu:

»Ich hoffe, du vergibst mir den gegen dich ausgesprochenen Verdacht, der mir nun so viel Reue verursacht.«

Aber die Kräfte der Marquise waren erschöpft; sie sank müde zurück und mußte sich zu Bett begeben. Denise und die Tanten Lavarande begleiteten sie.

Kaum waren sie hinaus, so eilte Seignebos nach der Tür, schloß sie ab, stellte sich dann mit dem Rücken gegen den Kamin und nahm seine Brille ab, um sie zu putzen.

»Nunmehr, Herr Folgat«, sagte er, »können wir uns ungestört aussprechen. Was haben Sie Neues mitgebracht?«


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