Emile Gaboriau
Der Strick um den Hals
Emile Gaboriau

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41

Herr Galpin-Daveline hatte es also durchgesetzt, und Herr Du Lopt de la Gransière hatte Ursache, auf seine Beredsamkeit stolz zu sein. Jacques von Boiscoran war schuldig erklärt worden. Aber er vernahm mit stolz erhobenem Haupte und festem Blicke die von dem Präsidenten Domini ausgesprochene schreckliche Formel, obschon dazu weit mehr Mut gehörte, als wenn der zum Tode Verurteilte angesichts des Erschießungskommandos es ablehnt, sich die Augen verbinden zu lassen, und selbst mit fester Stimme »Feuer!« kommandiert.

Er hatte an demselben Morgen, einige Augenblicke vor Eröffnung der Verhandlung, zu Fräulein von Chandoré gesagt:

»Ich weiß, was meiner wartet, aber ich bin schuldlos, und man soll nicht sehen, daß ich erbleiche oder um Gnade bitte.«

Und indem er wirklich mit einer übermenschlichen Anstrengung alles, was eine Menschenseele an Kraft aufzubieten vermag, zusammenraffte, hatte er Wort gehalten. Doch in dem Augenblick, da die letzten Worte des Präsidenten in dem ausbrechenden Beifallstoben des Publikums verhallten, beugte er sich zu seinen Verteidigern hinüber und raunte ihnen zu:

»Habe ich Ihnen nicht gesagt, daß ein Tag kommen würde, wo Sie die ersten wären, die mir eine Waffe in die Hand geben?«

Herr Folgat erhob sich lebhaft. Er zeigte weder den Zorn noch die Entmutigung des Anwalts, der eine Sache verliert, die er für gerecht hält.

»Dieser Tag», erwiderte er, »ist noch nicht gekommen. Sie kennen Ihr Gelübde. Solange uns noch ein Schatten von Hoffnung bleibt, kämpfen wir. In dieser Stunde haben wir jedoch noch etwas Besseres als Hoffnung. Vor Ablauf eines Monats, einer Woche vielleicht, kommt unsere Genugtuung.«

Der Unglückliche schüttelte den Kopf.

»Ich bin deswegen nicht weniger der Schmach einer Verurteilung ausgesetzt«, flüsterte er. Er nahm das Band der Ehrenlegion aus seinem Knopfloch und reichte es Folgat.

»Bewahren Sie dies als eine Erinnerung an mich, wenn ich das Recht, es zu tragen, nicht zurückgewinnen sollte.«

Schon hatten sich indessen die zu seiner Bewachung bestimmten Gendarmen genähert.

»Wir müssen gehen, mein Herr«, sagte der Wachtmeister zu ihm. »Wohlan, gehen wir! Aber man darf nicht verzweifeln, zum Teufel! Man darf den Mut nicht sinken lassen. Es ist noch nicht alles verloren. Sie haben noch die Möglichkeit der Wiederaufnahme des Verfahrens und des Gnadengesuchs, ohne das zu rechnen, was kommen kann und was sich noch nicht voraussehen läßt.«

Folgat wollte seinen Klienten begleiten und zeigte sich dazu bereit. Jacques wehrte ihn aber mit schmerzlicher Gebärde ab.

»Lassen Sie mich allein gehen, mein Freund«, sagte er. »Es gibt andere, die Ihrer Ermutigung bedürfen . . . Denise, meine arme Mutter, mein Vater . . . Gehen Sie zu diesen und sagen Sie ihnen, daß ihr teures Andenken mir meine Verurteilung schrecklich erscheinen lasse und daß sie mir den Kummer verzeihen möchten, dessen Ursache ich geworden bin, und die Schande, mich zum Sohne, zum Verlobten zu haben.

Und Sie, meine Freunde«, fuhr er fort, die Hände seiner Verteidiger drückend, »Sie bitte ich, meiner unauslöschlichen Dankbarkeit versichert zu sein . . . Hätte zu meiner Rettung unvergleichliches Talent und bewundernswürdige Hingebung ausgereicht, dann wäre ich jetzt frei . . . Statt dessen . . .«

Er deutete auf die kleine Tür, durch welche er sich zu entfernen hatte, und sagte mit erschütterndem Ausdruck:

»Dies ist die Pforte zum Zuchthaus! Sie führt zu meiner Zukunft . . .«

Ein unterdrücktes Schluchzen schnitt ihm das Wort ab. Seine Kräfte waren erschöpft, denn wenn es auch gewissermaßen keine Grenzen gibt für die Qualen, welche die Seele zu ertragen vermag, so reicht doch die physische Kraft an solche Unendlichkeit nicht heran.

Er lehnte den Arm ab, den der Gendarmeriewachtmeister ihm anbot, und schritt hinaus.

Magloire war vor Schmerz wie wahnsinnig.

»Ihn nicht retten zu können!« sagte er zu seinem jüngeren Kollegen. »Man komme mir noch damit, von der Macht der Überzeugung zu sprechen! Aber bleiben wir hier nicht länger, gehen wir!«

Sie begaben sich in die Menge, die langsam hinausdrängte, noch erregt von den Erschütterungen des Tages. Aber schon jetzt zeigte sich in dieser Menge eine seltsame, nicht folgerichtige und dennoch erklärliche, bei ähnlichen Vorkommnissen stets beobachtete Wendung. Solange Jacques von Boiscoran noch Angeklagter war, wurde er von allen verwünscht; als Verurteilter hatte er die Teilnahme aller wiedererlangt. Es war, als ob das verhängnisvolle Urteil das Schrecknis des Verbrechens ausgelöscht hätte. Man beklagte ihn, man war betrübt über sein Los, und indem man an seine Familie, seine Mutter, seine Braut dachte, verurteilte man die Strenge der Richter.

Die wenigen Klarsehenden unter den Zuhörern waren von dem seltsamen Gang der Verhandlung betroffen, und kaum einen gab es, der nicht geahnt hätte, daß in dieser Prozeßsache eine ganz geheimnisvolle und unerforschte Seite weder durch die Anklage noch durch die Verteidigung berührt worden war. Warum hatte man den so bedeutungsvollen Vorfall mit Cocoleu nicht vorgebracht? Er war ein Schwachsinniger, das wußte jedermann, aber nichtsdestoweniger war er es allein, der das Gericht auf die Spur des Herrn von Boiscoran gelenkt hatte. Warum hatte weder die Staatsanwaltschaft noch die Verteidigung ihn vorladen lassen?

Die Aussage des Herrn von Claudieuse, die für den ersten Augenblick so entscheidend erschienen war, wurde nun sehr scharf beurteilt.

»Was er getan, ist schlecht«, sagten die Nachsichtigsten. »Es ist ein Meisterstreich. Warum tat er den Mund nicht früher auf? Man erwartet nicht, daß ein sterbender Mann noch die Hand zum Schlage erhebt.«

»Und haben Sie gesehen«, erwiderten andere, »mit welchen Blicken sich der Graf und Herr von Boiscoran maßen? Haben Sie auf die Worte geachtet, die sie wechselten? Sollte man nicht darauf schwören, daß zwischen ihnen noch etwas ganz anderes besteht als die Prozeßsache?«

»Gleichviel«, hieß es von allen Seiten. »Herr Folgat hatte recht, diese Geschichte ist noch weit entfernt von der Entscheidung . . . Die Geschworenen zögerten. Vielleicht wäre Herr von Boiscoran freigesprochen worden, wenn im letzten Augenblick Herr Du Lopt de la Gransière nicht die Äußerung getan hätte, daß der Graf von Claudieuse im benachbarten Zimmer im Todeskampf liege.«

Mit lebhafter Freude hörten die Anwälte Magloire und Folgat diese Reaktionen der Menge. Denn die Staatsanwaltschaft hatte gut versichern, daß kein äußerliches Gelärm in das Heiligtum der Justiz eindringe und daß es immer die öffentliche Meinung sei, welche den Spruch der Geschworenen diktiere.

»Und von nun an«, flüsterte Magloire seinem Kollegen ins Ohr, »seien Sie ohne Besorgnis. Ich kenne mein Sauveterre von Grund aus – die öffentliche Meinung ist für uns.«

Mit Hilfe der Ellenbogen erreichten sie endlich die Haupttür des Sitzungssaales, als ein Gerichtsdiener sie aufhielt.

»Man verlangt nach Ihnen, meine Herren!« sagte er ihnen.

»Wer?«

»Die Verwandten des Verurteilten . . . o die Bedauernswerten! . . . Sie sind alle im Zimmer des Herrn Méchinet, welches wir auf Befehl des Herrn Daubigeon ihnen eingeräumt haben. Dahin hat man auch die Frau Marquise von Boiscoran getragen, als sie im Sitzungssaal ohnmächtig wurde.«

Indem er dies sagte, führte er die Verteidiger bis ans äußerste Ende des Saals. Hier öffnete er ihnen eine Tür und ließ sie mit einer höflichen Verbeugung eintreten.

Und hier lag mit geschlossenen Lidern und halbgeöffnetem Munde die Mutter Jacques' in einem Lehnsessel. Nach ihrer Leichenblässe und der Starrheit ihrer Haltung hätte man sie für tot halten können, aber die Krämpfe, die alle Augenblicke ihren ganzen Körper schüttelten, bekundeten das noch in ihr gefesselte Leben. Zu beiden Seiten des Sessels standen regungslos, mit düsterem Blick ohne Ausdruck und Wärme, der Herr von Chandoré und der Marquis von Boiscoran. Sie waren wie vom Blitz getroffen und hatten, seit der verhängnisvolle Urteilsspruch in ihren Ohren widerhallte, kein Wort gewechselt.

Fräulein Denise allein schien sich die Fähigkeit, zu urteilen und sich zu bewegen, bewahrt zu haben; aber ihr Antlitz war purpurrot, ihre Augen leuchteten in dem trockenen Feuer des Fiebers, und ihr ganzer Körper bebte.

»Das heißt also menschliche Gerechtigkeit!« rief sie den eintretenden Verteidigern entgegen. Und als diese schweigsam blieben, fuhr sie fort:

»So ist nun Jacques zum Zuchthaus verurteilt, das heißt, durch die Justiz entehrt, gebrandmarkt, vernichtet, ausgestrichen aus der Gesellschaft der ehrlichen Leute . . . Es tut nichts, daß er unschuldig ist, seine einflußreichen Freunde haben ihn verleugnet, sich von ihm abgewendet, keine Hand sucht mehr die seinige; selbst diejenigen, welche am stolzesten auf seine Zuneigung waren, stellten sich, als ob sie seinen Namen vergessen hätten.«

»Ich begreife Ihren Schmerz nur zu wohl, mein Fräulein«, entgegnete Magloire.

»Mein Schmerz ist nicht so groß wie mein Zorn«, unterbrach sie ihn. »Jacques muß gerächt werden, und er wird es. Ich zähle erst zwanzig Jahre und er noch nicht dreißig, es bleibt uns noch ein langes Leben, um es dem Werke der Wiederaufrichtung seiner Ehre zu widmen. Denn ich, ich werde ihn nicht verlassen! Sein Unglück macht ihn mir tausendmal teurer, und wie geheiligt ist meine Treue für ihn . . . Heute früh war ich noch seine Braut, heute abend bin ich sein Weib . . . Die Verurteilung war unser Hochzeitssegen; und wenn es wahr ist, was mir mein Großvater sagt, daß das Gesetz dem Sträfling verbietet, die Frau, die er liebt, zu heiraten, so bin ich seine unangetraute Gattin!«

Denise sprach mit lauter Stimme, gleichsam als solle alle Welt es hören, daß sie stolz auf ihren Willen und auf den Gegenstand ihres Entschlusses war.

»Gestatten Sie mir, Sie nur mit einem Worte zu beruhigen, mein Fräulein!« sagte Folgat. »Wir sind noch nicht da, wo Sie uns zu sehen glauben. Die Verurteilung ist nicht unwiderruflich.«

Der Marquis von Boiscoran und Großvater Chandoré richteten sich rasch empor.

»Was wollen Sie damit sagen?«

»Eine Nachlässigkeit des Herrn Galpin-Daveline macht den ganzen Prozeß unwirksam. Wie konnte ein so zuverlässiger, methodischer, formalistischer Mensch einen solchen Fehler begehen? Aller Wahrscheinlichkeit nach hat ihn die Leidenschaft geblendet. Und auch sonst hat niemand das Versehen bemerkt. Es ist, als hätte die Vorsehung uns diese Genugtuung aufgespart. Der Fall ist völlig klar. Es handelt sich um formale Verstöße, und am Wortlaut der Vorschrift ist in diesem Punkte nicht zu deuteln. Das Urteil wird aufgehoben, und wir werden vor andere Richter gestellt . . .«

»Und Sie haben uns dies nicht gesagt!« rief Denise verwundert.

»Wir haben es kaum zu denken gewagt«, versetzte Magloire. »Es handelte sich da um eines jener Geheimnisse, die man seinen eigenen Ohren nicht anvertrauen mag . . . Stellen Sie sich vor, daß der Fehler noch im Laufe der Verhandlung hätte gutgemacht werden können . . . Jetzt ist es dazu zu spät. Wir haben Zeit vor uns, und die Handlungsweise des Herrn von Claudieuse enthebt uns aller zarten Rücksichten . . . Alle Schleier werden nun zerrissen werden . . .«

Das plötzliche Aufreißen der Tür schnitt dem Sprecher das Wort ab. Doktor Seignebos trat ein, er war rot vor Zorn, und seine Augen funkelten hinter der goldenen Brille.

»Herr von Claudieuse?« fragte Folgat lebhaft.

»Ist abgetan«, erwiderte der Doktor. »Man hat ihn auf eine Matratze gelegt, und seine Frau ist neben ihm . . . Was ist das doch für ein Beruf, der des Arztes! Da ist ein Mensch, ein Elender, den ich mit Vergnügen mit meinen Händen erdrosseln möchte, und nichtsdestoweniger muß ich ihn ins Leben zurückrufen, ihm meine Sorge widmen, ein Mittel suchen, seine Leiden zu mildern . . .«

»Befindet er sich besser?«

»Ohne ein solches Wunder, wie man sie im ›Leben der Heiligen‹ liest, verläßt er das Gerichtsgebäude lebend nicht mehr, er stirbt noch vor Ablauf von vierundzwanzig Stunden. Ich habe dies der Gräfin in keiner Weise verhehlt und ihr gesagt, daß, wenn sie wünsche, ihren Gatten noch seine Rechnung mit dem Himmel machen zu sehen, sie gerade noch Zeit habe, einen Priester rufen zu lassen . . .«

»Und sie hat einen rufen lassen?«

»Keineswegs. Sie erwiderte mir, daß der Anblick eines Priestergewandes das Ende ihres Gatten nur beschleunigen werde. Selbst als der wackere Pfarrer von Bréchy sich ihr vorstellte, wies sie ihn entschieden ab.«

»O die Elende!« rief Denise.

Und nach einer Sekunde Nachdenkens fuhr sie fort:

»Und doch wäre dies die Rettung! – Ja, die Gewißheit der Rettung. Warum also zögern? Erwarten Sie mich . . . ich kehre bald zurück.«

Sie schritt eilends hinaus. Ihr Großvater wollte ihr rasch folgen, doch Herr Folgat hielt ihn zurück.

»Lassen Sie sie gewähren, Herr Baron«, sagte er. »Lassen Sie sie!«

Es schlug zehn Uhr. Das Gerichtsgebäude, so voll Lärm den Tag über, lag nun in düsterer Stille. In dem weiten, durch eine qualmende Spiegellampe nur matt erhellten Saale der Gerichtsverhandlung befanden sich nur zwei Menschen, der Pfarrer von Bréchy, welcher neben einer Tür kniend betete, und der diensttuende Wächter, der mit großen Schritten auf und ab ging und dessen Tritte wie in einer Kirche widerhallten.

Denise ging auf diesen Wächter zu.

»Wo ist der Graf von Claudieuse?« fragte sie.

»Dort«, erwiderte der Mann, nach der Tür deutend, neben welcher der Priester kniete; »dort, im Zimmer des Herrn Staatsanwalts.«

»Wer ist bei ihm?«

»Seine Gemahlin und eine Kammerfrau.«

»Gut. Gehen Sie hinein und sagen Sie der Frau von Claudieuse, ohne daß ihr Gemahl es hört, daß Fräulein von Chandoré sie zu sprechen verlange.«

Der Wächter gehorchte ohne Entgegnung und kehrte sehr schnell zurück.

»Mein Fräulein«, sagte er, »die Gräfin läßt Ihnen erwidern, daß sie ihren Mann, mit dem es zu Ende gehe, nicht verlassen könne . . .«

Sie unterbrach ihn mit einer gebieterischen Handbewegung.

»Genug«, sagte sie. »Gehen Sie nochmals zu Frau von Claudieuse und sagen Sie ihr, daß, wenn sie nicht komme, ich ohne weiteres und nötigenfalls mit Gewalt eindringen würde, ich würde um Hilfe rufen, und nichts würde mich zurückhalten. Ich wolle sie unter allen Umständen sprechen . . .«

»Ja, aber mein Fräulein . . .«

»Genug, genug! Sehen Sie denn nicht, daß es sich um Leben und Tod handelt?«

Ihre Haltung war so entschlossen, daß der Wächter nicht mehr zögerte. Er verschwand aufs neue und ließ, als er wiederkam, Denise eintreten.

Sie trat ein und befand sich nun in dem Vorzimmer des Staatsanwalts. Eine riesige kupferne Lampe beleuchtete es mit grellem Lichte. Die Tür zu dem Zimmer, in welchem der Sterbende lag, war geschlossen.

Mitten im Zimmer stand die Gräfin aufrecht. Alle Schläge, die sie in rascher Aufeinanderfolge getroffen hatten, waren nicht imstande gewesen, ihre unbezähmbare Kraft zu brechen. Sie war entsetzlich blaß, aber ruhig.

»Mein Fräulein«, begann sie, »ich kann nur wiederholen, was ich Ihnen schon sagen ließ, daß ich keinen Augenblick Zeit erübrigen kann. Vergessen Sie denn, daß ich zwischen zwei offenen Gräbern stehe, dem meiner Tochter, die in meiner Wohnung mit dem Tode ringt, und dem meines Gatten, welcher hier sterbend liegt?«

Sie wollte sich zurückziehen, aber Denise hielt sie mit drohender Gebärde auf und sagte mit bebender Stimme:

»Wenn Sie in das Zimmer treten, in dem Ihr Mann liegt, trete ich mit Ihnen ein und werde vor ihm selbst mit Ihnen sprechen. Vor ihm selbst werde ich Sie fragen, warum Sie dem Priester den Zutritt zu seinem Lager verweigern und ihn, nachdem Sie ihm sein irdisches Glück genommen haben, auch noch in der Ewigkeit berauben wollen.«

Die Gräfin prallte unwillkürlich zurück.

»Ich verstehe Sie nicht!« sagte sie.

»Doch, Sie verstehen mich, Madame! Warum noch leugnen? Können Sie sich durchaus nicht denken, daß ich alles weiß und daß ich erraten habe, was man mir verschwieg. Jacques war Ihr Geliebter, und Ihr Mann hat sich gerächt.«

»Ah, das ist stark! Das ist stark!« riet die Gräfin wiederholt.

»Und Sie haben es zugelassen«, fuhr Denise atemlos fort. »Sie sind nicht gekommen, um vor dem gesamten Gericht es herauszuschreien, daß Ihr Mann ein falscher Zeuge ist! Welch eine Frau sind Sie! Es macht Ihnen wenig aus, daß Ihre Liebe einen Unglücklichen ins Zuchthaus bringt! Sie können leben mit dem Gedanken, daß der Mann, der Sie liebt, schuldlos auf immer vernichtet und unter die niedrigsten Bösewichte geschleudert wird! Ein Priester würde Herrn von Claudieuse bald dahin bringen, daß er seine schändliche Aussage zurücknimmt, das wissen Sie wohl, und dennoch verschließen Sie dem Pfarrer von Bréchy die Tür . . . Und warum so viele Verbrechen? Um Ihren lügenhaften Ruf als ehrbare Frau zu retten! . . . Ah, das ist erbärmlich, das ist feig, das ist gemein!«

Die Gräfin empörte sich endlich. Was die Gewandtheit Folgats nicht erreicht hatte, das erlangte Denises Leidenschaftlichkeit: ihre Gegnerin warf die Maske weg.

»Wohlan denn!« rief sie mit schrecklichem Ungestüm. »Nein, nicht um meines Rufes willen habe ich den Dingen ihren Lauf gelassen . . . Mein Ruf! . . . Ach, was mache ich mir daraus! Es ist noch keine Woche her, daß ich Jacques an dem Abend, als er sich aus dem Gefängnis entfernt hatte, anbot, mit ihm zu fliehen. Er hätte nur ein Wort zu sagen brauchen, und ich hätte um seinetwillen Heimat, Familie, Kinder, alles verlassen. Er aber erwiderte: ›Lieber das Zuchthaus!‹«

Bei dieser Mitteilung erfüllte, trotz aller Bedrängnisse, eine unermeßliche Freude das Herz des Fräuleins von Chandoré . . . In dieser Stunde hätte sie an Jacques nicht mehr zweifeln können.

»Er hat sich also selbst verurteilt«, fuhr Frau von Claudieuse fort . . . »Für ihn wollte ich mich gern opfern, für eine andere nie.«

»Und diese andere bin ich, ohne Zweifel.«

»Ja, Sie, um derentwillen er mich verlassen, Sie, welche er heiraten wollte, Sie, mit welcher er sich lange Jahre des Glückes versprach, nicht eines verstohlenen Glückes voll Schande, wie es das unsere war, sondern eines anerkannten und geachteten Glückes . . .«

In den Augen Denises zitterten Tränen. Sie wurde geliebt, und sie hatte eine Vorstellung von den Leiden einer andern, die nicht mehr geliebt wurde . . .

»Ich würde indes edelmütiger gewesen sein«, sagte sie mit gedämpfter Stimme.

Die Gräfin lachte wild auf.

»Und zum Beweise«, fuhr das junge Mädchen beharrlich fort, »bin ich gekommen, Ihnen einen Ausweg vorzuschlagen.«

»Einen Ausweg!«

»Ja. Retten Sie Jacques, und bei allem, was mir in der Welt heilig ist, schwöre ich Ihnen, daß ich in ein Kloster gehen, daß ich verschwinden will und daß Sie nie wieder meinen Namen vernehmen sollen.«

Eine unermeßliche Bestürzung bannte die Gräfin an die Stelle, wo sie sich befand; sie heftete einen prüfenden Blick voll Zweifel und Argwohn auf Fräulein von Chandoré. Ein solcher Opfermut erschien ihr zu erhaben, um nicht eine Falle zu verbergen.

»Das täten Sie wirklich?« fragte sie endlich.

»Ja, ohne zu zaudern.«

»Sie würden mir damit ein großes Opfer bringen.«

»Ihnen, Madame? Nein! Ich brächte es Jacques.«

»Sie lieben ihn also sehr!«

»So sehr, daß ich, wenn mir die Wahl freistünde, tausendmal sein Glück dem meinigen vorziehen würde. In einem Kloster begraben zu sein, würde mir noch wie ein Trost erscheinen, wenn ich mir sagen könnte, daß ich dadurch seine Befreiung erreicht hätte, und ich würde weniger leiden, wenn ich ihn in den Armen einer andern, als schuldlos verurteilt wüßte!«

In demselben Maße jedoch, wie das junge Mädchen seine Aufrichtigkeit darlegte, verfinsterte sich die Stirn der Gräfin, und flüchtiges Erröten überzog ihre blassen Wangen.

»Es ist bewundernswürdig!« sagte sie mit hochmütigem Spott.

»Madame!«

»Sie könnten immerhin um meinetwillen auf Herrn von Boiscoran verzichten . . . Würde er mich deswegen lieben? . . . Sie wissen nur zu wohl, daß dies nicht der Fall wäre und daß er dennoch nur Sie allein lieben würde. Unter solchen Umstanden ist es leicht, die Edelmütige zu spielen! Was hätten Sie zu fürchten? Er würde, wenn Sie in einem Kloster verborgen wären, Sie nur um so heftiger lieben und mich nicht weniger verwünschen als vorher.«

»Er sollte ja nichts von unserem Übereinkommen erfahren.«

»Ach, das würde nichts nützen. Er erriete, was Sie ihm verschwiegen . . . Nein, nein, ich kenne meine Zukunft. Seit zwei Jahren trage ich nun die namenlose Qual, ihn mehr und mehr von mir sich entfernen zu sehen. Was habe ich nicht versucht, ihn wieder zu fesseln! Welche Niederträchtigkeiten und Entwürdigungen hat es mich gekostet, ihn einen Tag, eine Stunde länger zu halten! Alles war fruchtlos. Ich wurde ihm eine Last. Er liebte mich nicht mehr, und meine Liebe schien ihm schwerer als die Kugel an seiner Sträflingskette.«

Denise schauderte.

»Es ist fürchterlich!« stieß sie hervor.

»Fürchterlich, ja, und wahr. Sie scheinen betroffen? Weil Sie bis jetzt erst die lächelnde Morgenröte Ihrer Liebe kennen. Lassen Sie aber den düstern Abend kommen, und Sie werden mich verstehen lernen. Ist unsere Geschichte denn nicht in allem sich gleich? Ich habe Jacques zu meinen Füßen gesehen, wie er vor den Ihrigen liegt, die Schwüre, die er Ihnen geleistet, hat er auch mir mit derselben leidenschaftlich bebenden Stimme und mit demselben glühenden Blicke zugeflüstert . . . Aber ich war nur seine Geliebte, denken Sie, und Sie sind seine Braut. Was tut das! Was sagte er Ihnen? Daß er Sie ewig liebe, weil diese Liebe derart sei, daß Gott und Menschen sie schirmen! . . . Und mir sagte er nur, daß gerade weil wir uns über Gesetz und öffentliche Meinung stellten, wir durch Bande vereinigt seien, die über alle Erreichbarkeit und Löslichkeit erhaben seien! Sie haben Glauben an ihn. Ich hatte ihn auch, und der Beweis liegt darin, daß ich ihm alles gegeben habe, meine Ehre und die Ehre der Meinigen, und daß ich ihm noch mehr gegeben haben würde, daß ich mich mehr als einmal gefragt habe, durch welches unermeßliche, unerhörte, noch von keinem Weib gebrachte Opfer ich ihm unumstößlich beweisen könne, daß ich ihm ganz und völlig gehöre. Und dafür verraten, verlassen, verachtet zu sein, hinuntergestürzt von Abgrund zu Abgrund bis zu der Tiefe des Elends, um Gegenstand Ihres Mitleids zu werden! . . . So tief gefallen zu sein, daß Sie es wagen dürfen, mir zu meinen Gunsten den Verzicht auf Jacques anzubieten . . . Oh, das ist, um vor Zorn rasend zu werden! Und ich sollte die Rache fallenlassen, die ich in der Hand halte, ich sollte so blödsinnig, so feig, so schwach sein, mich durch Ihre heuchlerischen Tränen rühren zu lassen! Ich sollte Ihr Glück auf Kosten meines Rufes sichern! . . . Hoffen Sie das nie!«

Die Stimme erstarb in ihrer Kehle zu einem Röcheln. Sie tat einige Schritte, dann trat sie wieder Denise gegenüber, ganz nahe, Auge in Auge mit dem jungen Mädchen.

»Wer hat Ihnen«, fragte sie, »diesen Vertrag angeraten, der für mich der äußersten Beschimpfung gleichkommt?«

Von einem ungeheuren Schrecken erstarrt, hatte Denise Mühe zu antworten.

»Niemand«, murmelte sie.

»Herr Folgat vielleicht?«

»Er weiß von nichts.«

»Oder Jacques?«

»Ich habe es ihn nicht einmal ahnen lassen. Die Idee ist mir vorhin plötzlich gekommen, wie eine Eingebung des Himmels. Als ich von Doktor Seignebos vernahm, daß Sie den Pfarrer von Bréchy zurückgewiesen hätten, sagte ich mir: Das ist das letzte und größte Unglück für uns . . . Wenn Herr von Claudieuse stirbt, ohne zurückgenommen zu haben, so wird, was auch kommen möge, selbst dann, wenn Jacques wieder zu Ehren gelangte, doch immer ein Verdacht gegen ihn bestehen . . . Darauf habe ich mich entschlossen, zu Ihnen zu gehen . . . Oh, es hat mich entsetzlich viel gekostet, aber ich hoffte, Sie bewegen zu können, Sie zu rühren durch die Größe des Opfers . . .«

Frau von Claudieuse war wirklich gerührt; sie fühlte vor den bittenden Worten Denises ihre Entschlüsse wanken.

»Das Opfer wäre so groß!« sagte sie.

Die Tränen quollen unaufhaltsam aus den Augen des jungen Mädchens.

»Leider ist es mein Leben selbst, was ich Ihnen anbiete«, erwiderte sie. »Ich fühle nur zu wohl, daß Sie nicht lange eifersüchtig auf mich zu sein brauchten . . .«

Sie wurde durch ein aus dem Nebenzimmer hervordringendes Stöhnen unterbrochen. Die Gräfin eilte, die Tür halb zu öffnen.

»Geneviève!« rief eine matte und doch noch gebieterische Stimme.

»Geneviève!«

»Ich bin im Augenblick bei dir, mein Freund«, erwiderte die Gräfin darauf.

Sie schloß die Tür wieder und wendete sich zu Denise zurück.

»Wer bürgt mir dafür«, sagte sie mit kurzem und hartem Ausdruck, »wer gibt mir die Sicherheit, daß, wenn Jacques als schuldlos erkannt und in den vorigen Stand wiedereingesetzt würde, Sie sich Ihres Versprechens erinnern werden? . . .«

»O Madame«, entgegnete das junge Mädchen, »auf was soll ich Ihnen schwören, daß ich verschwinden will? . . . Bezeichnen Sie selbst Bürgschaften; welche Sie auch zur Bedingung machen mögen, ich werde sie Ihnen geben.«

Sie sank vor der Gräfin auf die Knie.

»Sehen Sie mich zu Ihren Füßen«, fuhr sie fort, »flehend, gedemütigt, mich, die Sie beschuldigen, daß ich Sie hätte beschimpfen wollen . . . Haben Sie Mitleid mit Jacques! Oh, wenn Sie ihn so liebten wie ich, Sie würden nicht mehr zögern!«

Frau von Claudieuse hob sie mit einer raschen Bewegung auf und betrachtete sie, ihre Hände zwischen die ihrigen pressend, wohl eine Minute lang, ohne zu sprechen, das Auge verschleiert, die Lippen bebend, der Busen heftig bewegt . . . Und endlich fragte sie mit so tief veränderter Stimme, daß man sie kaum vernehmen konnte:

»Was soll ich tun?«

»Vom Grafen die Zurücknahme seiner falschen Aussage verlangen.«

Die Gräfin schüttelte den Kopf.

»Das würde ich vergeblich versuchen«, erwiderte sie. »Sie kennen den Grafen nicht. Er ist von Eisen. Eher könnten Sie ihm das Fleisch stückweise mit glühenden Zangen abreißen, ehe er ein einziges seiner Worte zurücknähme. Sie vermögen nicht zu fassen, was er gelitten hat und wie groß in seiner Seele die Gewalt des Hasses und Rachedurstes ist . . . Nur um mich zu foltern, hat er mich hierher neben sich gerufen . . . Es ist kaum fünf Minuten her, daß er mir sagte, er sterbe zufrieden, weil er, und zwar auf seine Aussage hin, Jacques für schuldig befunden wisse.«

Die Gräfin war überwunden, ihre Kraft war gebrochen, Tränen traten in ihre Augen.

»Er ist so grausam geprüft worden«, fuhr sie fort. »Er liebte mich bis zur Anbetung, er liebte nur mich auf der Welt, und ich . . . ich betrog ihn dennoch! Ach, wenn man vorherwissen, vorhersehen könnte! Nein, ich verlange niemals von ihm, daß er zurücknimmt.«

Denise vergaß fast ihren eigenen Schmerz.

»Es ist ja nicht an Ihnen, den Schritt zu tun, Madame«, sagte sie sanft.

»An wem dann?«

»An dem Pfarrer von Bréchy. Er wird die geeigneten Worte finden, die stärksten Entschlüsse zu erschüttern. Er spricht im Namen Gottes des Erlösers, der am Kreuz sterbend seinen Henkern verzieh.«

Einen Augenblick noch zögerte die Gräfin, dann waren die letzten Reste der Empörung ihres Stolzes besiegt.

»Es sei!« sagte sie. »Ich werde den Priester rufen.«

»Und ich, Madame, schwöre Ihnen, daß ich mein Versprechen . . .«

Die Gräfin hemmte Denises Worte.

»Nein«, rief sie mit einer außerordentlichen Anstrengung; »ich werde ohne Bedingungen Jacques' Rettung versuchen . . . Möge er Ihnen gehören . . . Geliebt, werden Sie ihm Ihr Leben weihen; verlassen, opfere ich ihm meine Ehre! . . . Adieu!«

Sie eilte, während Denise ihre Freunde wieder aufsuchte, zur Tür und rief den Pfarrer von Bréchy ins Sterbezimmer.


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