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»Das größte Glück im Orient«

Ich machte mit Mr. Frase einen Ausflug nach der Halbinsel Macao – dem orientalischen Portugal. Es ist eine vierstündige Dampferfahrt von Hongkong quer über die Mündung des Flusses Kanton.

Wir kamen um Mitternacht an und gingen gleich an Land. Ein stiller Provinzhafen mit einem öden, verfallenen Kai und einigen dunklen Lagerhäusern im Hintergrunde, von jahrhundertalten Laternen beleuchtet.

Mr. Frase führt an, er ist hier schon früher gewesen. Wir gehen über den Kai, biegen um die Ecke und befinden uns in einer langen schmalen Straße mit hellerleuchteten Häusern, Papierlaternen überm Eingang und großen Schildern mit chinesischem und englischem Text. »Die Wohnung des Glücks« – »Das größte Glück im Orient.«

Es sind die berüchtigten chinesischen Spielhäuser – »wong hang« – die Haupteinnahmequelle der portugiesischen Kolonie. Sie nahmen die ganze eine Seite der Straße ein. Auf der anderen, hinter grell erleuchteten Fenstern wird mit einem Glück anderer Art gehandelt. Geklimper chinesischer Lauten, miauende Frauenstimmen und Matrosenlachen klingen von dorther.

Hinter dem Ladentisch einer Bar steht ein Chinese mit einem Pappmaché-Gesicht und verkauft jungen Spielern seines eigenen Volkes Gin. Sie sitzen auf hohen Taburetten, den Zopf wie einen Pferdezügel um den Leib gewickelt, mager und gebeugt, mit Lastern in allen Zügen, ohne dem nächsten Tag einen Gedanken zu schenken.

»Das sind Leute,« sagt Mr. Frase, »die einen halben Dollar per Tag in den Nähstuben verdienen und ihn am Abend in »der wunderbaren Perle des Orients« verspielen. Das betrachten sie als Glück.«

Wir betreten ein Eckhaus, das Schilder durch alle drei Etagen hat und besser erleuchtet ist als die anderen.

Ein großer Raum mit einem breiten Spieltisch in der Mitte. Am Ende desselben sitzt ein Chinese mit runden Brillengläsern in einem unbeweglichen Gesicht. Das ist der Bankhalter. Er hat einen Haufen Spielmünzen von den bekannten durchlöcherten vor sich. Mit einem langen Stock zählt er vier davon aus dem Haufen ab und wieder vier und so immer weiter.

Um den Tisch herum, auf hohen Taburetten sitzen Chinesen neben Chinesen und starren mit glänzenden Augen auf den Haufen, wie Ratten ins Licht. In ihren verblichenen Gesichtszügen ist keine Regung, nur die Augen sprechen. Sie haben ihren Einsatz beim Croupier am anderen Ende des Tisches gemacht: ein Viertel, ein Halb auf 0, 1, 2 oder 3. Der Croupier hat den Einsatz durch kleine Bricken vor sich auf der Tischtafel bezeichnet. Neben sich hat er seine Rechenschaft, die mit Stäben geführt wird, und seine Kasse.

Wenn es mit dem Münzenhaufen zu Ende geht, steigt die Spannung. Denn die Anzahl, die Rest bleibt, wenn der Haufen durch vier geteilt worden ist, also 0, 1, 2 oder 3, gewinnt. Der Einsatz wird dreifach ausgezahlt, nach Abzug der 8 Prozent für die Kasse.

So wird Tag und Nacht gespielt. Jeder, der sich an den Tisch setzt, bekommt gratis Zigaretten, eine Mandarine und eine Pflaume. Wird der Spieler müde, kann er sich in ein Nebenzimmer zurückziehen, wo Pritschen zum Ausruhen stehen.

In der oberen Etage sind Plätze für Europäer und andere bessere Leute, die nicht gesehen werden wollen. Der Fußboden hat ein Loch. Man sitzt hinter einer Rampe wie in der Emporkirche eines Gotteshauses und blickt auf den Spieltisch hinunter. An einem Flaschenzug unter der Decke hängt ein Korb. Man zieht ihn zu sich heran, nennt die Zahl, auf die man setzen will, und legt seinen Einsatz in den Korb. Der Croupier ergreift ihn und bezeichnet die Nummer auf seiner Tafel. Gewinnt man, bekommt man den Gewinn auf dieselbe Weise zurück.

»Wissen Sie, wie diese Straße heißt?« fragte Mr. Frase, als wir wieder draußen waren.

»Rua da Felicidade – die Straße des Glücks. Nicht wahr, das ist Poesie. Die reichen Chinesensöhne kommen aus Kanton, um das Glück kennen zu lernen, sowohl hier wie auf der anderen Seite der Straße.«

Am nächsten Morgen nahmen wir eine Rickscha und machten eine Rundfahrt durch die Stadt.

In Portugal bin ich nicht gewesen, aber ich kenne die sizilianischen Städte. Macao war wie eine solche: still, friedlich, das Leben spielt sich in uralten Formen ab; lange, öde, krumme Straßen, die steigen und fallen; Marktplätze vor alten Kirchen, deren Fassaden der Taifun zernagt hat. Die Häuser himmelblau, die portugiesische Nationalfarbe. Vor den Fenstern grüne Jalousien und vor den vornehmsten alte schmiedeeiserne Balkongitter. Die Polizisten tragen weiche, breitrandige Hüte und einen Mantelkragen.

Die Hauptstraße ist breit, mit ehemals herrschaftlichen, soliden, zweistöckigen Steinhäusern. Blumen auf Balustraden und Torsäulen und in den Höfen. Hier eine herrliche alte Allee mit verschwenderischem Schatten. Da ein Park mit Promenade und Musik. Dort der Garten des Gouverneurs und mitten drin seine verschlossene Sommervilla, zugänglich für alle. Die herrlichsten Blumenanlagen in Rabatten und künstlichen Grotten. Da sind Erinnerungen an vergangenen Patrizierreichtum. Da sind stolze, alte Kirchhöfe, aus der Zeit, als Hongkong noch ein Seeräubernest war und Macao einzig und allein die europäische Zivilisation im Orient vertrat.

Jetzt ist das Ganze wie ein großer Kirchhof mit vielen schönen Grabsteinen zwischen herrlichen Blumenanlagen. Nur längs des Wassers sieht man Leben. Dort ist eine wundervolle Strandpromenade hinter einer meilenweiten Brustwehr, die die Bucht und den inneren Hafen einschließt. Die Stadt hat zwei, beide sind im Begriff zu versanden.

Auf der Strandpromenade, praya grande, liegt das Palais des Gouverneurs und das Hotel. Hier zieht die Wachtparade Punkt zwölf Uhr auf, wie in den großen Zeiten. Wir begegneten ihr. Pompöse Musik mit einigen fünfzig Soldaten hinterdrein, die ein und aus schlenderten, wie es sich gerade traf.

In diesem tropischen Idyll, das genau im Wendekreis des Krebses liegt, auf der Höhe von Havanna und Kalkutta, beschloß der portugiesische Nationaldichter Camoens sein Leben. In einem alten Kloster, das jetzt Regierungsgebäude ist, schrieb er im Exil seine »Lusiaden«. Der Garten ist parkartig angelegt, mit schroffen Abhängen und natürlichen Felspartien, von einer alten Festungsmauer umgeben. Von ihrer Brustwehr hat man die herrlichste Aussicht über ferne, weiche Berglinien, die himmelblaue Stadt, das lavendelblaue Meer. Auf einer Höhe liegt der Sitz des katholischen Bischofs, eine blaue Burg, die die Stadt beherrscht. Macao ist der Hauptsitz für die französische Mission in China.

Hier ist er gewandert, der halbblinde Dichter, und oben zwischen den Felsen lebt er noch in Bronze. Auf Felsentafeln sind Verse eingeritzt, mit denen Dichter anderer Länder, und als größter unter ihnen Giacomo Leopardi, sein Andenken im Laufe der Jahre geehrt haben.

An den Klostergarten stößt der Kirchhof der alten East Indian Company, der jetzt nicht mehr benutzt wird. Er liegt hinter der englischen Kirche und ist wunderbar schön.

 

In Hongkong nahmen wir zweihundert Chinesen an Bord. Sie waren in Australien zu Hause und sollten jetzt zurück. Sie wurden auf Deck in zwei langen Reihen aufgestellt. Ein Arzt ging von Mann zu Mann, besah Auge und Zunge und befühlte den Körper. Hin und wieder machte er seinem Assistenten, der ihm mit Thermometer, Wasser und Handtuch folgte, ein Zeichen. Das Thermometer wurde dem Verdächtigen, der vor Angst zitterte, in den Mund gelegt. In Hongkong war die Pest, und die Reederei wollte es nicht riskieren, die Chinesen gratis zurückzubefördern.

Wir verließen die Reede um neun Uhr abends. Hunderte von elektrischen Lichtern und Laternen der langgestreckten Stadt glitten an uns vorbei. Ein man-of-war ließ seinen Scheinwerfer über die Reede spielen. Dampfer und Sampane sprangen aus der Dunkelheit hervor, warfen Gespensterschatten über den Lichtstreifen und verschwanden wieder. Wir passierten das weiße Leuchtfeuer auf der Gapklippe und waren wieder in »the fearful chinese sea«.

Der Mond hing mit rotgelber Glorie zwischen dicken Wolken. Am Horizont blitzte es mit klaren Zickzackstreifen von Wolke zu Wolke. Die Luft aber war ganz still.

Mr. Frase und ich machten unseren Abendspaziergang auf Deck, während die Bridgepartie im Salon im vollen Gange war. Der Kapitän kam uns entgegen, mit Mrs. Ashman am Arm. Wenn wir uns begegneten, klang seine verschleierte Stimme laut und scherzend; wenn sie aber weiter achtern waren, verstummte sie. Vom Zwischendeck kreischte ein Grammophon durch die Stille. Es gehörte den Chinesen. Einige saßen vor dem Ungeheuer, die Hände auf den Knien und starrten mit offenem Mund in den Trichter. Andere lagen auf Deck, den Kopf auf ihren Bündeln, die Beine unter sich gezogen. Sie lauschten mit starrem Blick auf das Weibermiauen, Trommelgetöse und Lautenspiel. Es war eine Vorstellung aus dem Theater in Hongkong.

Als wir um die Ecke zum Rauchsalon bogen, fuhr ein greller Blitz über den Himmel. Dort, im Schutz der Treppe, sahen wir Mrs. Ashman stehen, die Hände auf den Schultern des Kapitäns, das Gesicht zu seinem Bart emporgehoben. Sie stoben auseinander, als sie uns sahen, aber es war zu spät.

»Schon!« sagte Mr. Frase, als ob eine Uhr geschlagen habe. Er klemmte sein Monokel ins Auge und lächelte boshaft.

»Sie haben neunzehn Tage vor sich, dann geht's ans Zurückblicken.«

Das Grammophon machte einen furchtbaren Lärm, bis es auf einmal verstummte. Ein alter Chinese hatte seine Hand dankbar über den Trichter gleiten lassen, als sei er ein Kinderkopf. Und lustig ging das Geschwätz zwischen den Bündeln weiter.


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