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Aberglaube, Volksleben und Theater

In Japan gibt es zwei Religionen: den Schintoismus, die ursprüngliche Religion, und den Buddhismus, der aus China eingeführt ist.

Der Schintoismus hat in der Natur für alles Götter, für den Wind, das Meer, das Feuer, die Pest. Außerdem aber hat er Japans berühmte Männer erhöht. Es geschieht noch heute, daß ein Großer nach seinem Tode zu einem Rang auf der Götterleiter vom Mikado ernannt und ihm ein Tempel erbaut wird.

Als der Buddhismus Eingang fand, einigten die alten und neuen Priester sich dahin, den Glauben unter sich zu teilen. Das war leicht getan; denn der Schintoismus hatte sich nie für die Moral interessiert. »Folge deinen Eingebungen und gehorche den Gesetzen des Mikados« – das genügte einem guten Schintoisten. Die seelische Fürsorge übernahm der Buddhismus mit seiner Lehre vom Nirwana – dem körperlosen, vollkommenen Glück, das man sich durchs Leben erwerben muß.

Jeder Japaner wird bei seiner Geburt unter den Schutz eines Schintogottes gestellt. Er macht dem Gott an seinem Namenstage einen Besuch und trägt zu seinem Unterhalt an Reis, Früchten oder Gemüse bei. Das ist alles. In schwierigen Augenblicken aber wendet er sich an Buddha, und wenn er stirbt, wird er nach buddhistischem Ritual begraben. In großen Städten liegen Schinto- und Buddhatempel friedlich Seite an Seite. Wer den einen sucht, versäumt nicht, dem Nachbarn auch sein Scherflein zu geben. Zwei Religionen verschlagen mehr als eine.

Es gibt eine Unzahl von buddhistischen Sekten; sie unterscheiden sich wie bei den Christen durch die Auslegung der heiligen Schriften. Eine der mächtigsten ist die Montosekte. Das sind die Protestanten des Buddhismus! Sie meinen, daß die Menschen durch den Glauben an die Gnade gerettet werden, nicht durch Taten oder Herleiern von Gebeten.

Japans größter Tempel gehört dieser Sekte. Es ist der Higaschi Hongwanji in Kioto. Seine viereckige Haupthalle ist 75 Meter lang und wird von 96 rot lackierten Holzsäulen getragen. Er ist ganz neu, im Jahre 1895 durch freiwillige Beiträge erbaut. Die Stadtbevölkerung gab Geld, die Bauern Holz und Fuhrwerk, die Frauen ihr Haar. Alles Hebewerk wurde durch Taue besorgt, die aus Frauenhaar geflochten waren. Es gab alles in allem 29. Eines davon wird zur Erinnerung aufbewahrt; es ist 110 Meter lang und der Umkreis mißt 40 cm.

Ich sah den Tempel am Tage nach dem 600jährigen Stiftungstage.

Die große Halle war mit Flaggen geschmückt und von der Dachrinne mit roten Seidengardinen behängt. Sie war voll von Bauern. Ihre Holzsandalen standen in langen Reihen auf der obersten Tempelstufe. Auf weißen Strumpfsocken, unter Tellerhüten aus Stroh, den Futterbeutel auf dem Rücken und den Kimono aufgeschürzt, marschierten sie über den Mattenboden der Halle, bis sie das geflochtene Chorgeländer erreichten, das das Heiligtum im Hintergrunde abteilt.

Zwischen zwei großen Wachslichtern, hinter einem rotlackierten Altarschrein, saß der vergoldete Gott Amida mit niedergeschlagenen Augen, gegen seinen Glorienschein gelehnt, der ihm bis an die Lenden reichte. Die Bauern knieten nieder, hielten die gefalteten Hände vors Gesicht und murmelten den Namen des Gottes zehnmal hintereinander; das ist die Taxe für die Vergebung der Sünden.

Die Wachslichter, die künstlichen Blumen auf dem Altarschrein, der Glorienschein, das halblaute Murmeln der Knienden, von denen einige Rosenkränze zwischen den Händen hielten, die Tempeldiener, die hin und her schlürften und Münzen aufsammelten, die während der Andacht als Opfergabe für den Gott übers Gitter geworfen wurden – das alles war wie an Festtagen in sizilianischen Kirchen. Gibt es einen inneren Zusammenhang, einen gemeinsamen Ursprung? – Wird die Kultur ewig und überall in dieselben Formen gegossen? – Auch hier spielten Kinder zwischen den Säulen, ohne daß der Gott oder seine Diener Anstoß daran nahmen.

Von der Haupthalle folgte ich dem Strom durch die überdeckten Gänge, die zu den Seitentempeln führten. Auf einem – »dem Nachtigallengang« – knarrten die Fußbretter, wenn man darauf trat, so harmonisch gestimmt, wie Vogelgesang. Wir kamen an den Zellen der Priester vorbei, deren Papierwände in Gold und Tusche mit Landschaften, Kirschbäumen und Vögeln dekoriert waren; berühmte Kunstwerke sollen darunter sein, aber man darf die Zellen nicht betreten.

Tags darauf besuchten wir einen Schintotempel außerhalb der Stadt, der in einem Hain auf einem Bergabhang liegt und dem Reisgott Inari geweiht ist. Er hat die Gestalt eines Fuchses.

Überall sah man Sandsteinstatuen des sitzenden Meister Reinecke, mit einem Schlüssel im Maul; die meisten trugen ein Tuch um den Hals zum Schutz gegen die Nachtkälte. Ein freistehender, rotgemalter Torrahmen bildete den Eingang zum Tempelplatz; er besteht aus zwei übereinander liegenden Querbalken, die durch lotrechte Seitenpfosten verbunden sind, ohne Tür oder Füllung. Ein Weg führte durch den heiligen Hain unter vierhundert solcher »tori«, die dicht hintereinander standen. Überall roch es nach Füchsen. Sie sind geheiligt und der Bergabhang ist von ihren Höhlengängen unterminiert.

Wir verließen den heiligen Weg und kamen aus dem Hain heraus. Hier am Waldsaum lagen einige Häuser, mit einer herrlichen Aussicht über Fluß und Tal. Ein Hund bellte wütend. Eine alte Frau, die ihren Garten jätete, blickte uns entsetzt an. Wir waren augenscheinlich auf verbotene Wege geraten. Das letzte von den Häusern war mit einem riesigen Schild versehen – einem kolorierten Bild von dem Innern des Menschen in übernatürlicher Größe, wie es überall in europäischen Lehrsälen hängt. Hinter der offenen Schiebetür des Hauses sahen wir im Halbdunkeln einen Mann mit einer merkwürdigen Spitzmütze über eine kniende Frau gebeugt. Er schickte uns solch strafenden Blick über den Garten hinüber, daß wir unser Unrecht einsahen und uns zurückzogen. Später erfuhren wir, daß er Geburtshelfer und Deuter der Schicksale Neugeborener sei.

 

Nirgends ist der Volksaberglaube ursprünglicher und das Tempelleben ausgeprägter als in Osaka, einer Hafenstadt von einer Million Einwohner.

Ich sah dort in einem Schintotempel das heilige Pferd des Gottes in einem Stall stehen, mit dem Kopf zum Publikum. Es war ein kleiner träger Albino mit milchblauen Augen. Bei einer Kuchenfrau neben dem Stall kaufte man weiße Bohnen, die das Pferd aus der Hand schnappte.

Hinter einem Eisengitter stolzierten heilige Störche mit gestutzten Schwungfedern zwischen kleinen, künstlichen Bächen. Ein buckliger Händler verkaufte Stichlinge aus einem Wassereimer; für zwei Sen bekam man ein Nösselmaß. Man schüttet sie zwischen die Eisenstäbe und glaubt, daß der Storch, während er sie verschlingt, dem Gott ein freundliches Vorgebet sendet.

Der Tempelplatz erinnerte mit seinen Ställen, Buden und kleinen Pagoden an einen Jahrmarkt.

Ich folgte dem Strom, gelangte zu einer kleinen hochgewölbten Holzbrücke, die über einen der schmalen Stadtkanäle führte, und stand vor dem schönsten Provinzidyll, das ich in Japan gesehen habe.

Der Kanal erweiterte sich zu einem Teich, der voll von Wasserpflanzen war. Schildkröten, nicht größer als Frösche, stritten sich um die roten Zuckerkugeln, die von der Brücke heruntergeworfen wurden, wo Kinder über das Geländer hingen. Aus einem Garten mit Trauereschen, hellgrünen Kampferbäumen und zarten jungen Kiefern ließ die Wisteria ihren duftenden Blauregen über den Teich rieseln. Zierliche Kieswege schlängelten sich zwischen Steingruppen und Lauben. Im Hintergrunde des Gartens ein Teehaus mit einem kokett geschweiften Dach, dunkelgrünen Wänden und einer offenen Veranda. Dort saß der Bürger friedlich auf seiner Matte und stahl die Zeit bei einer Tasse Tee, während die Frühjahrssonne in Lichtflecken auf den Kieswegen tanzte. Einer der behaglichsten Schlupfwinkel, wie man sie in der ganzen Welt findet, wo das Leben einen Augenblick ausruht: die lauschige Ecke eines Baches in einer kleinen altdeutschen Stadt an einem zeitigen Sommertag; der Winkel eines Kanals in Zaandam; und dennoch Japan im ureigensten, schönsten Sinn.

Dicht daneben lag Japans größter Buddhatempel, ein Stadtteil für sich, von Park und Einfriedigungen umgeben. Auch hier wurde ein Fest gefeiert. Alles war flaggen- und wimpelgeschmückt, es wimmelte von festgekleideter Landbevölkerung, Jugendvereinen und Schulkindern auf Sonntagsausflügen mit ihren Lehrern.

Ein Oberpriester schritt in goldgewirktem Meßgewand über den Platz, mit einer Tiara auf dem Kopf und einem verhüllten Heiligtum in seinen erhobenen Händen. Ein Tempeldiener hielt einen gelben Seidenschirm über seinen Kopf, ein anderer trug seine Schleppe, und eine Schar Mönche in gelben Ordensgewändern folgten ihm. Er verschwand in einem uralten Holzgebäude, wo eine Reihe Samurai in der Hucke saßen und warteten. Die Türen wurden hinter ihm geschlossen, ein langgezogener Meßgesang, von dumpfen Gongschlägen begleitet, klang zu der andächtigen Menge heraus.

Neben diesem Gotteshaus, dessen Alter sein heiligster Schmuck ist, liegt eine offene Kapelle, einem Gott geweiht, der für die Milch säugender Mütter sorgt. Sie ist dicht behangen mit Votivbildern, die alle dasselbe vorstellen: eine sitzende Frau, aus deren entblößten Brüsten Milch in Strahlen fließt. Hilfsbedürftige Frauen kaufen ein Votivbild beim Priester, hängen es zwischen den anderen auf, knien im Gebet nieder und gehen in sicherer Zuversicht fort. Es war voll von Müttern, die ihr Kind in einem Tuch auf dem Rücken trugen.

In einiger Entfernung davon liegen zwei kleine Kapellen, die einem heiligen Fürsten geweiht sind, der in längst entschwundener Zeit in den Gottesstand erhoben wurde. Also ein Schintogott, dem in einem Buddhatempel ein Platz eingeräumt ist. Er nimmt sich der kürzlich verstorbenen Seelen an. Man wendet sich an den Tempeldiener, der den Namen des Verstorbenen auf einen Zettel schreibt und das Honorar einkassiert. Der Priester, der vor dem Altar sitzt, nimmt das Papier in Empfang und zieht an einer golddurchwirkten Glockenschnur, die von der Decke herabhängt. Nachdem er den Gott geweckt hat, sagt er den Namen in einem langen Gebet her, schiebt den Zettel an die Wand hinter den Altar, – und die Seele ist gerettet.

Auch in einer anderen Kapelle kann man Frieden für einen Verstorbenen erkaufen. Auf dem Boden eines gemauerten Brunnens liegt eine Schildkröte, aus deren Steinkopf das Wasser ins Bassin strömt. Für einen Sen oder zwei befestigt der Tempeldiener einen Zettel mit dem Namen des Verstorbenen an einer Stange und hält ihn in das rinnende Wasser. Andere schreiben den Namen auf ein Stück Holz, das sie in den Brunnen werfen. Das Wasser läuft aus dem Maul der Schildkröte durch verborgene Leitungen, die unter den heiligen Hallen auf dem Tempelgrund liegen. Das Stück Holz läuft mit und während der Name immer mehr verlöscht, wird die Seele geheiligt.

Neben dem Eingang des Tempelgitters stehen zwei Automaten. Wenn man seine Münze durch einen Spalt wirft, bekommt man nicht Schokolade und Zigarren, sondern einen Blick in die Zukunft. Ein kleiner gerollter Schicksalsbrief kommt unten heraus, mit langem Leben, Glück und vielen Kindern, sowohl auf japanisch wie auf englisch.

 

Ich kam in flottem Trab über die Brücke. Ein scharfer Frühjahrswind kräuselte den sonnenblauen Fluß und wippte die kleinen Boote gegeneinander, daß es knarrte. Mitten im Fluß lagen einige breitgeladene Sandprahme. Arbeiter mit Hüftentüchern und Strohhüten balanzierten von Reling zu Reling mit Säcken auf dem Rücken und gossen den Sand in eine offene Wunde am Ufer. Drei Jungen in einer Jolle ließen ihre Drachenwürfel hoch oben in der blauen Luft steigen. In einem blumengeschmückten Teehausboot, das an einer Ankerkette zerrte, standen einige ledige Geschas und guckten den Arbeitern zu, während ein Kuli auf dem Dach auf dem Bauch lag und eine Matte reparierte.

Mein Pferd wandte sein flaches, aufgewecktes Gesicht mit den glänzenden Augen im Lauf zu mir um.

»Dotomhi?« fragte es und nickte nach rechts.

Ich nickte wieder. Dann rundete es die Brückenecke in einem kurzen Bogen, ging im Schritt und zeigte voller Stolz auf die Promenade von Osaka. Quer über der Straße waren zwischen den hohen Holzhäusern Schnüre gespannt. Seite an Seite, übereinander, kreuz und quer hingen blaugestreifte Flaggen zwischen Decken und Laken mit metergroßen Schriftzeichen. Das sind Schilder, die Waren- und Firmenmarken über die Stadt schreien, während sie im Winde flattern. Sie wickelten sich wie Leichentücher um Papierlaternen, die in ihren Haken seufzten, sie klebten sich an Telephonstangen und versuchten zu den elektrischen Kuppeln auf den hohen Ständern hinaufzugelangen. Es ist die aufdringlichste Reklame, die ich je gesehen habe. Das Publikum bekommt sie an den Kopf und sie nimmt der Straße Licht und Luft.

Unter den Flaggen wimmelte es rastlos von Rickschas, Lastwagen, Fahrrädern, Menschen und Hunden und europäisch gekleideten Japanern mit Handschuhen und Aktenmappen auf dem Wege zum Kontor. Andere mit Filzhut und Schlips, Kimono und Holzpantoffeln. Die Frauen sind alle im nationalen Stil. Kein Hut auf dem blauschwarzen Haar, sondern Chrysanthemen und Kämme. Großgeblümte Kimonos mit Hängeärmeln, über der Brust gekreuzt, so daß ein Stück des pfirsichfarbigen Halses hervorleuchtet, aber im Nacken hoch. Das breite Gürteltuch dient vorn als Korsett und hinten als Wiege. Knaben mit Schulmützen und Tornistern über dem Kimono, der ihnen bis an die Gelenke reicht. Mädchen mit kurzgeschnittenem Stirnhaar.

Kein Wagengeratter, kein Pferdegetrampel ist zu hören. Die Rickscha und die anderen zweirädrigen Wagen gleiten lautlos übers Steinpflaster. Kein Schurren von elektrischen Straßenbahnen auf der Promenade; dazu ist der Verkehr zu groß. Der ganze Lärm wird von der spazierenden, feilschenden, diskutierenden und lachenden Menschheit in Osaka besorgt. Die Bevölkerung ist gutmütig, neugierig und vergnügungssüchtig, mit sich selbst beschäftigt und stets zum Lachen über Fremde aufgelegt. Der Mikado ist der Sohn des Himmels, Japan regiert die Welt, nachdem es die Russen geschlagen hat, und Osaka ist der Mittelpunkt derselben.

Als ich gegen neun Uhr ins Theater fuhr, waren die meisten Fahnen eingezogen. Es war so hell wie auf dem Boulevard in Paris. In der Mitte städtische Bogenlampen. Auf den Dächern der höchsten Häuser blitzten Lichtreklamen in eckigen japanischen Buchstaben; da waren Räder und Sonnen, Aufleuchten und Verlöschen und Farbenwechsel nach europäischen Vorbildern. An den Fassaden hingen unzählige elektrische Birnen und leuchteten auf die offenen Läden herab, in denen das Geschäft wie am Tage im Gange war.

Das Theater ist eines der größten in Japan. Es liegt mitten in der Hauptstraße, und hat riesenhafte Plakate an der Fassade. Die Vorstellung begann um zwei Uhr und dauerte bis Mitternacht. Das war nichts im Verhältnis zu dem chinesischen Theater in Hongkong. Dort fing man des Morgens um sechs Uhr an und hörte nachts gegen zwei Uhr auf. Das breite Publikum nahm Proviant und Kissen zum Schlafen mit ins Theater.

Das Billett war per Telephon bestellt worden. Von der Vorhalle, die zur Straße offen ist, wurde ich von einer Logenfrau durch einen langen Korridor geführt. Eine Tür wurde zur Seite geschoben und ich stand in einer halbdunklen Loge, mit einer Decke und Matte. Kurz darauf kam die Logenfrau mit einem Rohrstuhl, einem Puppenherd, der glühende Kohlen zum Anzünden der Pfeife enthielt, Becher zum Mischen des Tabaks und einer Tasse für die Asche. Eine Kumme mit hellgrünem japanischen Tee stellte sie auf einen Schemel. Zwischen den Logen waren keine Wände, nur ein niedriges Gitter. Nebenan saßen zwei junge Japaner in europäischer Tracht auf einer Matte. Ich placierte mich auf dieselbe Weise, um kein Aufsehen zu erregen und musterte das Theater.

Es war ein viereckiger Zuschauerraum, so groß wie ein mittelgroßer, europäischer, mit zwei Balkonen, alles aus Holz. Unter der Decke eine elektrische Krone und einzelne Flammen längs der Logenränder. Es war nur so hell, daß man mit knapper Not das Programm lesen konnte. Das Parkett war in quadratische Räume eingeteilt wie eine Viehhürde. In einigen saßen zwei oder drei Personen, in anderen machte sich ein einzelner breit. Das Publikum bestand meistens aus Frauen und halberwachsenen Kindern. Ein distinguiertes Parkettpublikum, das im Zwischenakt Tee trank, Konfekt knabberte, konversierte und flirtete. Man stieg über die niedrigen Brüstungen und machte sich gegenseitig Besuche, betastete einander, um den Sonntagsstaat zu bewundern, nestelte an der Frisur vor einem mitgebrachten Handspiegel, erneuerte Gesichtspuder und Lippenbemalung. Die Herren lasen die Zeitung, rauchten Zigaretten oder Pfeife – die lange, dünne japanische Metallpfeife, deren Kopf nicht größer ist als der einer Opiumpfeife; man kann nur ein paar Züge daraus tun; es ist ein beständiges Ausklopfen der Asche, Stopfen und Anzünden; vornehme Leute nehmen einen Diener dazu mit.

Es gab keine Seitengänge zwischen den Abteilungen. Längs der linken Bogenreihe führte eine anderthalb Meter breite Gangbrücke vom Hintergrund durch das ganze Parkett zum Proszenium hinauf. Von dieser aus erreichte man seine Reihe und balancierte dann seitwärts über die Brüstungen, bis man seine Nummer erreicht hatte. In den Zwischenakten spielten die Kinder auf den Brüstungen Haschen. Die kühnsten folgten der Gangbrücke bis zum Proszenium hinauf und guckten hinter den Vorhang.

Das Stück war ein bürgerliches Schauspiel mit historischem Hintergrund. Der Akt, zu dem ich kam, stellte ein japanisches Interieur vor, mit gelben Wänden, Schiebetüren in schwarz lackierten Holzrahmen und Kakemonos an den Wänden, mit dem heiligen Berg Fuji.

Ein Ehepaar der besseren Gesellschaft hockte hinter einem Schemeltisch, auf dem ein Teeservice und ein Tabaknecessaire, in derselben Art wie mein Puppenherd, standen. Es führte eine sehr bewegte Unterhaltung. Die Frau war reuevoll und klagend, der Mann in seiner Würde gekränkt und stolz abweisend. Er rauchte und trank Tee, sie aber bekam nur Worte zu schmecken.

Rechts im Proszenium, auf einer Tribüne, die schräg zur Bühne stand, saßen zwei zivilgekleidete Männer. Der eine begleitete das Spiel auf der dreisaitigen japanischen Gitarre, die mit einem Elfenbeinplektron geschlagen wird, – dasselbe Instrument, das die Geschas bei ihren Tänzen benutzen; es waren Akkordgriffe in steigendem und fallendem Rhythmus, die die Stimmungsschwingungen des Dialogs unterstützten. An stark bewegten Stellen half er außerdem mit einem Seufzer nach, einem Kopfschütteln, stieß ein bedauerndes »Tschop«, ein bewunderndes »Ai« aus.

Der andere leitete das Tempo des Spiels nach einem Manuskript, das er auf einem kleinen mit Goldquasten verzierten Pult vor sich liegen hatte. Er skandierte den Dialog mit kleinen dumpfen Schlägen auf einem Holzgongong und gab außerdem die Rolle des Chors. Wenn die Stimmung ihren Höhepunkt erreichte, hörte der Dialog auf; das Spiel wurde dann durch mimische Darstellung fortgesetzt, während der Chormann das Wort ergriff. Wie zum Beispiel, als der Ehemann die Bitte seiner Frau um Verzeihung abgeschlagen hatte. Da zitterten Hals, Schultern, Hüften, jeder Körperteil mit einer so reichen Ausdrucksfähigkeit, wie ich es nie bei europäischen Pantomimen gesehen habe. Sie wurde von einem Feingefühl und einer Stilreinheit getragen, die sicher das Werk von Jahrhunderten ist.

Es war eine Drehbühne. Der rund durchschnittene Boden drehte sich plötzlich mit Stube und Personen herum und zeigte uns das Nachbarzimmer, wo eine Mutter oder Schwiegermutter, die alles mit angehört hatte, ihre Gefühle zum Ausdruck brachte.

Der nächste Akt stellte den Garten des Hauses im Winterkostüm, mit fallendem Schnee dar. Über dem Zaun im Hintergrund sah man ferne, schneebedeckte Bergzinnen, die sich von der blauen Luft abhoben. Dach, Büsche und Bäume, alles war von glitzerndem, leise fallendem Schnee in Weiß gehüllt. Es war stilvoll und täuschend nachgemacht.

Die Gattin lag auf ihren Knien im Schnee, mit einem Strick um den Leib an einen Baumstamm gebunden. Die Darstellung, die sie von der Kälte und ihrem Schmerz gab, war vollendete Kunst: Ein ruheloser Blick in einem blauweißen Gesicht mit erstarrten Muskeln; hilflos zitternde Lippen, die sich nicht schließen konnten; das Beben der Schultern in einem lautlosen Schluchzen, als ob plötzlich alles in ihr zusammenbräche; und schließlich die langgezogene tiefe Klage wie von einem verwundeten Tier.

Ein kleines Mädchen kommt aus dem Hause, es ist ihre Tochter. Sie blickt sich vorsichtig um und läuft dann auf die Mutter zu, um sie zu befreien. Der bebende Schmerz der verquälten Muttergestalt, deren gefesselte Arme die Tochter nicht an sich ziehen können, war ein Wunder von mimischer Kunst. Die Kleine versucht vergeblich den Strick zu lösen. In ihrer Verzweiflung klammert sie sich an die Mutter. So sitzen sie, bis die Kälte sie einschläfert, während der Schnee langsam auf sie herabfällt.

Der Vater kommt heraus, entdeckt die Tochter, entreißt sie der Mutter voller Wut, ergreift einen Besen, den der Gärtner neben dem Baum vergessen hat, und schlägt die Tochter, während die gefesselte Mutter jammernd zusehen muß. Um das Kind zu befreien, reizt sie ihn durch Flüche, bis er das Kind losläßt und statt dessen die Mutter prügelt, während die Tochter flehend seine Knie umklammert.

Diese Prügelszene war der Clou des Stückes. Bis in jedes nur denkbare Raffinement ausgesponnen, rührte sie das Publikum, bis der Saal von Schluchzen widerhallte.

Erst als Mutter und Tochter bewußtlos niedersinken, ist der Rachedurst des Vaters gelöscht. Er kehrt ins Haus zurück, während der Chormann das Mitleid mit Mutter und Tochter in einem rhythmischen Dialog verdolmetscht.

Ein ferner Flötenton erklingt; die Gitarre antwortet mit erwartungsvollen Akkorden. Der Chormann hält inne; die Mutter hebt den Kopf und lauscht; eine Ahnung beginnt sich mit einem Lächeln um ihre Lippen zu regen und schwillt unter zahlreichen »Tschop« des Kapellmeisters zu jubelnden Befreiungsrufen.

Der Liebhaber taucht überm Gartenzaun auf, in Kriegerkleidung mit dem Schwert, springt in den Garten, löst ihre Fesseln und zieht sie an sein Herz.

Der Vater wird durch das Geräusch herbeigerufen, und jetzt beginnt unter Zurufen und Klagen von Mutter und Tochter ein Duell mit Krummsäbeln. Sehr wirkungsvoll verändert sich das Wetter zu Sturm. Der Schnee fällt nicht mehr weich und still; er fegt gegen die Kämpfenden und ergreift Partei für den Liebhaber. Der Vater wird in einen Wirbel von Schneeflocken gehüllt, die so groß wie Markstücke sind. Sie fallen eimerweise auf ihn, blenden und lähmen ihn. Vergeblich versucht er den Wind in den Rücken zu bekommen. Der Liebhaber zwingt ihn immer wieder herum und bringt ihn schließlich zu Fall, worauf die Mutter einem äußerst zusammengesetzten Gefühlskompromiß Ausdruck verleiht: Freude über die Befreiung, Liebe zum Geliebten, Respekt vor dem Recht des gefallenen Ehemannes und Wehmut, weil das Kind seinen Vater und Versorger verloren hat.

Um über den kitzligen Punkt hinwegzuhelfen, daß die Schuld der Gattin die Ursache zum Tode des Mannes ist, werden die Türen plötzlich auseinandergeschoben, und auf der Veranda erscheint ein reichgekleideter Fürst mit Hof und Dienerschaft. Der Liebhaber gibt kniend eine Erklärung, und der Fürst spendet seinen Segen. Ganz wie bei Shakespeare, wo ein Herzog hinzukommt und die Moral des Dichters gutheißt.

Einen Souffleur gab es nicht; aber während des ganzen Aktes sah man zwei schwarze Sklaven, die hin und her gingen, mit Gartenarbeit beschäftigt, ganz unempfänglich gegen die traurige Handlung – wie es Sklaven geziemt. An schwierigen Stellen im Dialog aber legten sie sich auf den Boden und krochen hinter den Rücken von Mutter und Tochter; mit abgewandtem Gesicht soufflierten sie, indem sie von kleinen Zetteln, die sie in der hohlen Hand hielten, ablasen. Es geschah sehr diskret. Vom Parkett aus hat man sie sicher kaum sehen können, da sie von den faltenreichen Kleidern der Frauen verborgen wurden. Und auch auf uns, die wir in der Loge saßen, wirkten sie nicht störend. Man hatte sich von Beginn des Aktes an sie gewöhnt. Es sah aus, als ob die Sklaven sich nur aus Neugierde etwas in der Nähe ihrer Herrschaft zu schaffen machten.

Als der Vorhang gefallen und der Beifall verrauscht war, beugte eine Dame in der ersten Reihe des Parketts sich übers Proszenium, hob eine Ecke des Vorhanges auf und guckte dahinter, um zu sehen, was aus dem Toten geworden sei.


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