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Wir nahmen den Dampfer von Colombo nach Tuticorin, einer kleinen südindischen Hafenstadt, Endstation der Bahn nach Madras. »Wir« bezieht sich auf einen jungen Deutschen, den ich zufällig an Bord traf. Er kam aus Australien und wollte ebenso wie ich durch Indien reisen.
Nach einer fünfstündigen Fahrt durch ein flaches, sonnenversengtes Land mit ärmlichen Strohhütten, Herden von schwarzen Ziegen und indischen Kühen, Baumwollenfeldern, Kaktushecken und vereinzelten Palmen, erreichten wir Madura, eine alte Tempelstadt, die einst Hauptstadt im Königreich Karnatak war.
Es gab kein Hotel für Weiße. Hier, wie überall in Indien an Orten, die außerhalb der Hauptroute liegen, muß man mit dem Stationsgebäude und dem, was es einem zu bieten vermag, fürliebnehmen. In der ersten Etage befinden sich meistens etliche Gastzimmer, jedes mit einem eigenen Baderaum.
In Indien tut man, was man kann, um die Sonne auszuschließen. Über dem offenen, breiten Balkon, auf den Fenster und Türen münden, werden tagsüber die Markisen herabgelassen. Die Fenster, die keine Glasscheiben, sondern nur Metallnetze und Läden haben, werden geschlossen. Hinter der eigentlichen Tür, die wegen der Ventilation offensteht, befindet sich eine zweiteilige Sprossentür, die Luft durchläßt, während sie gleichzeitig Licht ausschließt. Die breiten, mit Moskitonetzen versehenen, eisernen Bettstellen stehen mitten im Zimmer, damit Insekten und anderes Getier sie nicht von der Wand erreichen können. Unter der Decke hängt eine Punka, die so lang ist wie das ganze Zimmer. Es ist eine Matte von anderthalb Meter Breite, die von einem Kuli bewegt wird, der auf dem Balkon sitzt und an einer Schnur zieht, – wenn man es wünscht, sogar die ganze Nacht. Ein geübter Kuli kann es im Schlaf tun.
Die Verpflegung bekommt man im »Refreshment Room« des Bahnhofes, wo man von Boys mit weißen Jacken und weißen, faltenreichen Hosen oder zweiteiligen Röcken, weißem Turban, roter Schärpe und bloßen Füßen bedient wird.
Vom Balkon sehen wir auf die Bahnlinie herab. Hinter einem eisernen Gitter sitzt eine Schar Paria, die auf ihren Zug warten.
Dunkle Gestalten, mit großen traurigen Kinderaugen. Die Männer bis zur Taille nackt oder mit einem schmutzigweißen Tuch bekleidet, das um die Schultern geschlungen ist. Die Frauen tragen bunte Röcke und eine Toga, die die Arme freiläßt; die kleinsten Kinder hängen nackend auf den Hüften der Mutter. Das Hab und Gut der Familie ist in einem Bündel zusammengeschnürt, das der Mann an seinem Stock überm Rücken trägt. In den Händen haben sie Kochtöpfe und Messingkummen für Wasser.
Wenn ein Zug hält, sieht man sie aus den überfüllten Wagen stürzen und ihre Kummen an der Pumpe der Station füllen. Wenn keine Pumpe da ist, geht ein Wasserträger von Kupee zu Kupee, mit seinem Ziegenlederschlauch über der Schulter. Es ist der zusammengenähte Balg des Tieres mit seinen vier Beinstümpfen, von denen das eine offen ist und als Wasserhahn dient. Er schließt ihn, indem er ihn mit der linken Hand zusammenpreßt. Das Wasser ist gratis. Der Kuli bekommt seine Bezahlung von Hinduphilanthropen.
Die meisten dieser Paria sind Pilger, die nach Benares reisen, um zu beten und in dem heiligen Fluß zu baden. Wenn der Zug abends abgeht, sind sie schon zeitig am Morgen oder sogar am Abend vorher da. Viele sind von weit her zu Fuß gekommen; sie haben Angst, den Zug zu versäumen, und Zeit hat für sie keinen Wert. Sie essen und schlafen auf dem Boden der offenen, umgitterten Halle, dem Wartezimmer der Eingeborenen.
Der Maduratempel soll das umfangreichste kirchliche Gebäude der Welt sein. Er ist eine ganze kleine Stadt, von einer hohen Mauer mit neun Gopuras umgeben; Gopuras sind Eingangstürme für die Götter, die meisten werden allerdings auch von Menschen als solche benutzt.
Der Tempel ist von einem berühmten Radscha im siebzehnten Jahrhundert erbaut. Der westliche Teil ist dem Gotte Siva geweiht, der die Vernichtung und Erneuerung in der hindustanischen Dreieinigkeit bedeutet; der östliche Teil seiner Frau, der fischäugigen Minakschi.
Die neun Gopuras, von denen der höchste 46 Meter mißt, sind obeliskförmige Türme, von oben bis unten mit gemalten Figuren in Hochrelief bedeckt, die Götter in Menschen- und Tiergestalt darstellen.
Wenn man auf den höchsten Gopura zukommt, der die ganze Breite der Straße einnimmt, ist der Eindruck überwältigend. Mit dem tiefblauen Himmel als Hintergrund erhebt sich eine ungeheure Steinmasse in bunten und schreienden Farben, in mannigfachen und verwirrten Formen. Es ist Siva wieder und immer wieder, Sivas Frau und beider Sohn Ganesch, der einen Elefantenkopf hat und Glück bringt. Da sind Löwen, Drachen, Ziegen, Elefanten, Geier. In der Mittellinie der Fassade gähnen dunkle Fensterlöcher, das eine über dem anderen, zehn Etagen hoch. Der Turm ist von Zacken gekrönt, die von unten wie die Zähne eines Kammes wirken.
Als wir aus dem Wagen stiegen und auf den Turm zugingen, kam Bewegung in die bunte Schar, die in der friedlichen Nachmittagsstunde vor dem Eingang herumlag. Man erhob sich, reckte sich wie Tiere, die im Walde überrascht werden.
Ein Mann drängte sich durch die Menge, ging uns entgegen und verbeugte sich grüßend, die Hand auf der Brust. Eine elastische, weißgekleidete Gestalt mit schwarzen Augen in einem erdfarbigen Gesicht und blitzend weißen Zähnen hinter lächelnden Lippen.
»This way, gentlemen!« sagte er einladend und bahnte uns einen Weg zwischen halbnackten Jungen, die dicht gedrängt standen und Europa mit stolzen, fragenden Augen anblickten.
Als wir in die halbdunkle Vorhalle traten – breit und tief, das Dach von acht in Granit gehauenen Göttersäulen getragen – verstummte die Tempelunterhaltung.
Schlanke, ernste Hindus mit nackten Armen und Beinen kamen von der Andacht. Sie streiften uns mit Blicken, die gleichzeitig verstohlen und stolz, ehrerbietig und scheu, neugierig und zurückhaltend waren, der Blick einer unterdrückten Rasse. Einer warf unwillig den Kopf in den Nacken. Einer strich mit seinen Tempelblumen dicht an uns vorbei, ohne uns sehen zu wollen. Andere scharten sich hinter uns, schubsten die Jungen beiseite und folgten uns, miteinander flüsternd.
An einer Granitsäule saßen einige Frauen und spielten mit ihren Kindern. Sie hatten schwere Metallringe an Armen und Fußgelenken und Ringe an den Zehen. Als sie uns sahen, zogen sie ihre Beine unter sich, bedeckten ihre runden Knie mit dem Rock und strammten das Brusttuch fester um den Oberkörper, damit keine Blöße zu sehen sei. Von allen nichteuropäischen Frauen, die ich gesehen habe, ist die Hindufrau die schamhafteste, obgleich sie keinen Schleier trägt.
In allen Tempeln des Ostens, abgesehen von den Moscheen, ist die Vorhalle sowohl Markt wie öffentliches Versammlungshaus. Auch hier waren alle möglichen Waren ausgestellt. Einer verkaufte frische Blumen als Opfergabe für die Göttin: die Tempelblume mit dem großen, weißen Becher und den gelben Staubfäden; sie erinnert an den Jasmin. Ein anderer verkaufte Amulette aus Holz und Bronze. Ein dritter Rosenkränze aus Fruchtkernen oder bunten Glaskugeln. Indien ist die Heimat der Rosenkränze; von hier gingen sie zu den Mohammedanern über und dienten seither der katholischen Kirche.
Mitten in der Vorhalle saß ein junger Krüppel und starrte uns mit unnatürlich großen Augen an. Er klapperte mit seinen Krücken, um unsere Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Sein großer Kopf mit dem krausen Haar, den breiten Backenknochen und dem spitzen Kinn wackelte zwischen hohen, nackten Schultern, über dem verkrüppelten Brustkasten, dessen stark gebogene Rippen alle sichtbar waren.
In seinen starren Zügen war ein unheimlicher Ernst. Er streckte uns seine nackten Knochenarme nicht entgegen, um zu betteln. Er erhob sich langsam und lautlos auf seinen welken Beinen, die so mager waren, daß die Kniegelenke breiter waren als die Oberschenkel und im rechten Winkel zueinander standen. Dieses verwelkte Leben bewegte sich mit Krücken auf uns zu, ohne unseren Blick loszulassen, die Fußgelenke berührten den Boden, denn die Füße waren eingeschrumpft und kehrten die Sohlen nach oben. Etwas vor uns blieb er stehen, ohne ein Wort, ohne eine Bitte, nur sein Blick leuchtete uns entgegen aus einer inneren Welt, die groß und strahlend war, aber von der keine Brücke zu uns hinüberführte.
Wir fragten den Führer, ob wir ihm etwas geben sollten. Er nickte. Der Krüppel war heilig.
Jetzt erklangen schleppende Fußtritte. Das Licht, das von links hereinfiel, wurde plötzlich von einer schweren, beweglichen Masse verdunkelt. Es war ein heiliger Elefant, der seine Runde durch den Tempel machte, von einem Diener in einer langen, gelben Toga geführt. Er winkte mit den großen Ohren, der gebogene Rüssel baumelte suchend zwischen den weißen Zahnstümpfen, während er wiegend dahinschritt, mit einem Blumenkranz um den Hals und einer kleinen violetten, goldbefransten Decke auf dem Rücken.
Vor uns blieb er stehen, betrachtete uns mit seinen kleinen klugen Augen, in denen ein Schelm blitzte, als ob er sich im geheimen über seine eigene Heiligkeit lustig mache, hob den Rüssel zu einem würdigen Gruß, worauf er nach den Geldstücken zu suchen begann, die wir ihm auf Aufforderung des Führers hingeworfen hatten.
Er fand sie und ließ sie in die Büchse des Dieners fallen. Darauf setzte er seine Wanderung zwischen den Göttersäulen fort, während wir über die Schwelle links, zu dem viereckigen Bassin »der goldenen Lilien« schritten.
Es war so groß wie ein Klosterhof, an allen vier Seiten von Arkaden umgeben, mit Steinstufen, die zu dem stillstehenden Wasser hinabführen, dessen eine Seite in tiefem Schatten liegt, während auf der anderen die Sonne blitzt. Von goldenen Lilien ist nichts zu sehen, nur ein schlammiger Überzug von halb verfaulter Vegetation.
Ein junger Mann steht mit den Beinen im Wasser und wäscht seinen Oberkörper, springt dann ganz hinein, taucht ein paarmal unter und kommt wieder heraus, während das Wasser von seinem Lendentuch trieft.
Mit dem Rücken gegen die Innenmauer der Arkaden sitzt ein heiliger Mann in der Hucke, bis zur Taille entblößt. Im Halbkreis vor ihm sitzen sechs Männer, die Hände im Schoß, den Kopf vornübergebeugt, während ihre Augen an seinen Lippen hängen.
Er spricht zu ihnen in einem singenden, feierlichen Ton. Auf seiner knochigen Stirn steht der Schweiß. Unter den buschigen Brauen lauern schwarze, fanatische Augen. Er bewegt den Kopf im Kreise von rechts nach links, nickt im Takt zu seiner Predigt, hebt und senkt die Hände mit den dicken Adern; seine Augen aber sehen niemanden, der Blick ist nach innen gerichtet, auf das, was er erzählt. Er sieht, was er erzählt.
Und die anderen sehen es auch mit seinen Blicken, durch eine geheimnisvolle Seelenverbindung.
Als er uns entdeckt, die wir lauschend in einer Ecke stehen, fährt er zusammen. Das Blut steigt ihm wie ein dunkler Schatten in das olivenbraune Gesicht; aber er hält nicht inne. Seine Stimme bebt nur einen Augenblick, dann wird sie lauter, schneidet durch Mark und Bein; sein Blick streift uns unter den gerunzelten Brauen, als sprühe er plötzlich Funken. Dann richtet er sich wieder auf seine inneren Visionen, und wir sind für ihn tot.
Seine Zuhörer haben ihre Oberkörper ein einzelnes Mal bewegt, während der Windhauch unserer Gegenwart über sie hinging. Dann glitten sie in die Welt zurück, die kein Fremder je erobern wird. Noch von weitem hörten wir seine singende und schneidende Stimme.
Vom Tageslicht treten wir jetzt in eine dunkle Halle, wo uns kleine flackernde Lichter aus der Ferne entgegenleuchten. Je weiter wir in dem ungeheuren Raum vordringen, desto deutlicher treten Säulen und Statuen aus der Dunkelheit hervor. Wir sehen eine Göttin aus Stein, mit einer Tiara auf dem Kopf und erhobenen Armen. Eine hält ein Schwert, eine andere eine Lotusblume; mehr vermag ich nicht zu unterscheiden. Zu ihren Füßen ist eine Erhöhung wie ein Altar, wo ein Haufe übelriechender Tempelblumen zwischen rauchenden Kerzen liegt.
Ein Hindu tritt vor, legt Blumen auf den Altar und wirft sich längelang auf die Erde, mit der Stirn auf den schmutzigen Boden, erhebt sich auf den Knien, streckt der Furchtbaren seine gefalteten Hände entgegen und geht dann davon.
Ein alter Priester in einer langen, gelben Toga, mit einem weißen Backenbart unter rinnenden Augen, tritt uns schweigend aus einem Raum hinter der Göttin entgegen und legt mir eine schwere Girlande von gelben Blumen um den Hals. Ich gebe ihm die Rupie, wie der Führer mir zuflüstert, und er zieht sich ohne Gruß zurück.
Durch einen halbdunklen Korridor mit Wandnischen, wo die Tempeldiener ihre Schlafstelle haben, gelangen wir in »die Halle der tausend Säulen«.
»Sie sind bis auf wenige alle erhalten,« versichert der Führer. Von kleinen Öffnungen in der Wand unter der niedrigen Decke fällt Licht herein; aber es reicht längst nicht bis zur Mitte des ungeheuren Raumes. Wir sehen in einen Wald aus Granitstämmen hinein, die alle in Hochreliefe ausgehauen sind und Ereignisse aus der hindustanischen Mythologie darstellen. Kämpfe zwischen Göttern, Spiel der Götter mit Menschen, Drachen, Elefanten, Affen; alles in der schwellenden, verzerrten Üppigkeit, die dem indischen Bilderstil eigen ist. Da sind Phantasielöwen, die in ihrem Maul eine Kugel halten, man kann sie durch den Mundwinkel erreichen, sie im Gaumen bewegen, sie rollen hören; aber sie können nicht entfernt werden, weil sie und die Zähne, die sie einsperren, aus ein und demselben massiven Stein gehauen sind.
Einige Reliefe stellen Liebeshandlungen der Götter und Menschen in derben, nach europäischen Begriffen äußerst unschicklichen Wiedergaben dar, naturwidrig in ihrer phantastischen Übertreibung.
Bevor wir die ganze Säulenhalle durchwandert hatten, war die Sonne untergegangen. In den kleinen Fensterluken lag noch ein rötlicher Reflex. Wir gingen durch einen langen Korridor, wo es in dunklen Winkeln zwischen Deckenbalken flüsterte. Zahllose kleine Windstöße sausten uns um die Ohren. Es pfiff und schrie, bald sanft und zärtlich, bald zornig und erregt. Die geheimnisvolle Dämmerung lebte um uns herum. Hin und wieder huschte der Schatten eines fliegenden Wesens durch das schwache Licht unter der Decke.
»Das sind fliegende Hunde,« erklärte der Führer, »sie haben den ganzen Tag unter den Balken geschlafen und erwachen jetzt.«
Die Luft war muffig, beschwert von der Hitze der durchwärmten Außenwände, voll von der stickigen Ausdünstung der kleinen, warmen Tierkörper, der an den scharfen Geruch von Ratten und Mäusen erinnerte.
Wir machten, daß wir weiterkamen. Am Ende des Korridors bog der Führer um die Ecke und führte uns zwischen einige Säulen, von wo wir die innere Halle sehen konnten, die wir bei Tageslicht passiert hatten.
Dort wimmelte es jetzt von Kerzenlicht. Die Eingangspforte war mit Tausenden von Flammen bekränzt. Wir sahen in der Ferne die Statue der Göttin, die sich wie eine Wolke über einem Fußstück von Feuer erhob. Dumpfe Schläge eines fernen Gongons klangen uns entgegen und das gedämpfte Summen einer Menschenmenge, die zur Abendandacht eilte. Wir sahen Silhouetten wie Schatten über die rötlich beleuchteten Säulen hasten.
Wir wollten dorthin; er aber hielt uns zurück und sagte mit feierlicher Stimme:
»Not allowed at this hour!«
Nach dem Mittagessen flüchteten wir wegen der Wärme auf das flache Dach des Bahnhofsgebäudes.
Der tropische Nachthimmel wölbte sich über uns, tiefer, strahlender als ein nordischer. Die Sterne sind lebendiger in ihrem Flimmern, bringen der Seele eine persönliche Botschaft. Man lauscht mit verhaltenem Atem auf diesen Millionenchor von zitternden Saiten, deren Töne das Ohr vergeblich aufzufangen versucht.
Einige Schakale ließen ihr Geheul von der Ebene, jenseits der Bahnlinie, hören. Es klang wie das Schmerzgewinsel kranker Hunde. Leuchtende Insekten flogen wie Sternschnuppen von Baum zu Baum. Während unsere Aufmerksamkeit darauf gerichtet war, flackerte plötzlich ein heller Widerschein über den Himmel. Wir drehten uns um, um zu sehen, wer zu dieser Zeit elektrisches Licht brannte. Da sahen wir, wie ein Meteor langsam im Südosten herabglitt, eine ungeheure und ferne Rakete, eine Welt, die plötzlich gelöscht, in Nacht erstickt wurde.
Am nächsten Morgen fuhren wir durch eine breite Allee von jahrhundertalten Banyanbäumen, von deren dicken, wagerechten Ästen sich Luftwurzeln lotrecht in die Erde senkten. Wir fuhren nach Teppa Kulam, dem heiligen Wasserbassin.
Es war glühend heiß; die Luft aber war trocken und rein. Das weiße Licht, das die Lebenskraft zu gleicher Zeit anspornt und hemmt, lag über üppigen Palmengärten, die die Landsitze reicher Hindus und Mohammedaner verbargen. Pflanzen können nicht wie Menschen und Tiere den Schatten aufsuchen, können sich darum auf keine andere Weise von der Geißel befreien, als indem sie ihr entgegen wachsen. Unter der Tropensonne ist das Leben lebendiger und der Tod tödlicher als dort, wo die Sonne die Schöpfung schräge trifft.
Dann aber hörten Allee und Gärten auf. Über ein weites, freies Terrain flutete das Licht des blauen Himmels auf eine schimmernde Wasserfläche herab, die über zweihundert Meter im Quadrat und rings herum von einer blendendweißen Bassinmauer eingefaßt war. In der Mitte des künstlichen Sees schwamm eine Insel, auf einem Steinfundament gebaut, dessen vier Seiten mit den Rändern des Bassins parallel liefen. In jeder Ecke ein weißer Pavillon mit einem Pyramidendach, das von Säulen getragen wurde, und in der Mitte der Insel, halb von einem Hain verborgen, ein Tempelturm von genau derselben Form wie die Pavillone, aber mehr als dreimal so groß.
Auf Marmorstufen standen Männer und Frauen bis zum Magen im Wasser. Die Männer nackt, bis auf das Lendentuch, das beim Baden nicht abgenommen wird; die Frauen in ihren dünnen, faltigen Hemden. Wenn sie aus dem Wasser stiegen, klebte es am Körper fest, aber ich habe keine unkeusche Bewegung, keinen herausfordernden Blick an ihnen gesehen. Sie kehrten den Männern den Rücken. Mit erstaunlicher Behendigkeit, ohne sich dabei zu entblößen, wechselten sie das nasse Hemd mit einem trockenen, das über der Mauer bereit lag. Das Bad ist zu gleicher Zeit ein Reinlichkeitsakt, eine Erfrischung und eine heilige Handlung.
Links vom See, auf der anderen Seite der breiten Allee, die tiefer ins Land hineinführt, lag ein kleiner, viereckiger Tempel und leuchtete in der Sonne. Er war Kali geweiht, dem Gott der Diebe, Mörder, Gaukler, Tänzerinnen. Ein furchtbarer Gott, in dessen Namen und zu dessen Ehre noch heutzutage unzählige geheimnisvolle Missetaten verrichtet werden.
Dort stand ein Haufe Paria mit scheuen Augen, verachtete Geschöpfe ohne Trotz, ohne Zorn. Kinder mit Auswurfsstempeln auf der Stirn, im Dienste der Verachtung gezeugt, Opfer der sozialen Architektur des Hindu, der, an die Lehre der Seelenwanderung gebunden, die Geburt zu dem einzig gültigen Unterschied macht. Was ist eine Kaste ohne Kastenlose? Der Paria ist das Nichts, auf dessen Basis der arme Hindu, der nichts weiter als seine Kaste besitzt, etwas hat und ist.
Vor dem Tempel hielt ein kleiner Ochsenkarren mit einem Holzverschlag, die Droschke der Eingeborenen. Während wir die Menge betrachteten, von Kindern umringt, die vor Erstaunen das Betteln vergaßen, kamen zwei Bajaderen aus dem Tempel und stiegen in den wartenden Wagen.
Die nackten Fußgelenke rasselten von Silber. Die hübschen, vollen Arme waren mit Schlangenringen und Goldplatten geschmückt. Die langen Musselingewänder, von einem goldenen Gürtel zusammengehalten, waren von roter Seide mit Goldborten. Darüber eine faltenreiche Seidentoga, die über die linke Schulter geworfen war und lose über den Rücken hing. Das Haar war schwarz und blank, in der Mitte gescheitelt, wie vornehme Hindufrauen es tragen, im Nacken zu einem Knoten aufgesteckt, mit Schmucksachen verziert. Die Gesichter oval, mit vollen Backen über einem kräftigen Hals, und kleinen, dicht anliegenden Ohren. Starke Augenbrauen in einem regelmäßigen Bogen über den hervorstehenden, blutdurchschossenen Augäpfeln, mit leuchtendem Metallglanz. In dem einen Nasenflügel ein Goldring mit Perlengehänge.
Sie waren feste Kunden. Die Bettler kannten sie und nahmen ihre Almosen in Empfang, wie man eine erwartete Einnahme einkassiert. Sie strichen einigen Kindern liebkosend über das Haar, indem sie einstiegen. In ihrer Haltung und ihrem Gang war Stolz und Liebreiz. Ihr Blick streifte uns vom Wagen aus mit fragender Neugierde, aber ohne Herausforderung, ohne Frechheit.
Das letzte, was wir sahen, war eine arme, magere Pariafrau, die den Körper so tief zur Erde gebeugt hatte, daß ihre Finger den Boden berührten. In dieser Stellung lief sie in der glühenden Sonne um den Tempel herum, wieder und immer wieder. Wenn sie die Ecke erreichte, wo ein schmaler Schattenstreifen war, richtete sie sich auf, hielt einen Augenblick inne und holte tief Atem.
Zehn Male zählten wir, bevor wir im Schatten des Wagens vor dem Sonnenbrand Schutz suchten; aber solange wir den Tempel im Auge behalten konnten, sahen wir, wie ihr brauner, gebeugter Rücken sich wieder und wieder an der weißen Mauer entlang bewegte.
Wir wünschten ihr von Herzen, daß sie von Erfolg gekrönt werden möge, ob sie nun eine Schuld abbüßte oder ihren Gott zur Erfüllung eines heißersehnten Wunsches gewinnen wollte.