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Ich erwachte durch einen militärischen Laut, der mir von Europa her bekannt war. Ich trat ans Fenster und zog die Vorhänge zurück. Eine hohe, nasse, trübselige Mauer vor mir, mit langen, schrägen Regenstreifen.
Es war der Davidsturm, den ich als Nachbarn hatte. Hinter ihm verbirgt sich eine alte Burg aus Herodes Zeiten. Jetzt ist sie eine türkische Kaserne, und von dort erklang die Reveille.
Ich war mit den besten Vorsätzen und einem lebhaften Gefühl für die Heiligkeit des Orts zu Bett gegangen; bevor aber die Uhr vom Turm neun geschlagen hatte, war jede Erbauungsstimmung aus meinem Gemüt heraus geregnet. Ich wußte nichts anderes vorzunehmen, als mich im Salon vorm Kamin niederzulassen.
Ach, die ersten Reihen waren bereits von der amerikanischen und britischen Nation besetzt. Ich versuchte einen jungen Menschen, der Platz für zwei einnahm, in Grund und Boden zu fixieren. Er trug einen weichen Kragen, Sporthemd und Tennisschuhe mitten im Winter. Das reizte mich ebenfalls zur Empörung. Ohne von meinen Blicken Notiz zu nehmen erhob er sich kurz darauf, legte seine Pfeife und sein Buch auf die Kaminplatte und ging hinaus, wahrscheinlich einem natürlichen Drange folgend. Ich beugte mich vor und guckte in sein Buch.
Es war eine Bibel.
Was sind wir Menschen doch für ein hartes und verstocktes Geschlecht! Hier saß dieser junge Sünder in der heiligen Stadt, und las just die Stelle, daß man seinen Nächsten wie auch sich selbst lieben soll, – und nicht er allein, ich blickte mich um, alle lasen in funkelnagelneuen Bibeln – und nicht einer machte Miene, auch nur eine Handbreit zu rücken, um seinem Nächsten, also mir, am Feuer Platz zu machen.
Ich weiß, daß man sich nicht gegen das Böse auflehnen soll; aber in diesem Fall hatte ich das sichere Gefühl, daß die Natur ihn nicht zufällig gerade in diesem Augenblick abgerufen hatte. Es war die Vorsehung, die ihm eine Lektion erteilen wollte. Wenn ich mich darum jetzt seines Platzes bemächtigte, widersetzte ich mich nicht dem Bösen, sondern setzte mich nur auf ein schön erwärmtes, weiches Kissen und hatte damit das Beste des jungen Mannes im Auge.
Ich zog meine Taschenbibel heraus – und folgte dem Beispiel der anderen, jedoch mit einem besseren Gewissen, wie ich in aller Bescheidenheit bemerken möchte.
Als der junge Mann kurz darauf zurückkam, betrachtete er mich lange; ich achtete seiner nicht. Schließlich zog er sich mit Pfeife und Bibel zurück, bis ins Innerste beschämt, wie ich glaube und hoffe.
Eine halbe Stunde später – als sich gerade ein sanfter Schlummer auf meine Augen senken wollte – kam ein anderes Exemplar dieser hochentwickelten Rasse und versuchte sich zwischen mich und den Kamin zu drängen. Diese Herren Amerikaner glauben, daß sie sich mit ihrem » Excuse me« oder »I'm very sorry« überall durchbohren können. Es fiel ihm nicht ein, daß er mich um ein gut Teil der Strahlenwärme berauben würde, wenn er sich zwischen mich und den Kamin drängte.
Ich machte mich so breit wie möglich, so daß er seine Absicht nicht erreichte. Aber eines hatte er doch erreicht: mich um meinen Schlaf zu bringen.
Ich sann tief über diesen Fall nach und kam zu dem Resultat, daß keine böse Absicht, sondern Mangel an Erziehung bei diesen Amerikanern vorliegt. Unsere uralte europäische Kultur fehlt ihnen, die seit Jahrtausenden ihre Probe bestanden hat. Das ist die Sache. Wie sagt der Engländer: drei Generationen machen erst einen Gentleman.
Nach dem Lunch klärte das Wetter sich auf. Ich wagte mich ohne Führer hinaus, nur in Begleitung von Baedeker.
Durch enge, winklige, öde Straßen glückte es mir schließlich die Klagemauer zu finden, gegen deren wuchtige, verwitterte Quadratsteine die Juden seit Jahrtausenden ihre Trauerlieder gesandt haben.
Es ist ein offener, steingepflasterter Platz zwischen düsteren Mauern, länglich, kaum acht Meter breit. Über der hohen First der Tempelmauer sieht man allerdings ein Stück Himmel; wenn er aber so grau und schwer, wie heute ist, zittert einem der Kummer eines ganzen Volkes von der kahlen, trostlosen Wand entgegen.
Ein alter Jude in einem langen Kaftan stand davor. Unter seinem weichen Hut fielen ihm die Korkzieherlocken über die Ohren. Er hielt das Psalmenbuch dicht vors Gesicht. Die Stirn zur Mauer gebeugt, murmelte er seine Gebete, bald in steigendem, bald in fallendem Rhythmus. Er drehte sich nach rechts und nach links; sein Gesicht konnte ich nicht sehen, aber er schnaufte ab und zu und trocknete sich die Nase mit einem bunten Taschentuch. Ich glaube kaum, daß er an Schnupfen litt, ich glaube, es war Kummer. Ein alter, verhärteter, ererbter Kummer.
Von der Klagemauer ging ich durch eine winklige Gasse, die von Menschen und Tieren verlassen war. Sie stieg einige Stufen an, bog in einem rechten Winkel ab, und dort, hinter einer Mauerecke, öffnete sich plötzlich ein weiter Blick.
Ich war am äußersten Ende des alten Jerusalem angelangt und hatte die Aussicht über die Ruinen der Stadtmauer bis zum Berg des bösen Rats hinüber, mit Hakeldama, dem Blutacker, auf der gegenüberliegenden Seite des Hinnomtales.
Eine schwere Regenwolke hing über dem Berge, so daß ich die vereinzelten Olivenbäume, die ärmlichen, flachen Steinhäuser und uralten Gräber am Bergabhang nur undeutlich unterscheiden konnte. Die Mariaquelle, in der Jesu Mutter, der Sage nach, die Wäsche des Kindes gespült haben soll, konnte ich nicht sehen. Ebensowenig Hiobs Brunnen, wo das heilige Feuer der Juden während des Exils aufbewahrt wurde; Hinnoms Tal hieß auch Gehenna oder das Höllental; denn hier ist der Ort, wo die Juden in den Tagen der Abtrünnigkeit dem Gotte Moloch Menschen opferten.
Sicher ist, daß es kein erfreuliches Tal war, weder im Regenwetter noch in der Geschichte. Der Weg dorthin, ein niedriges, rundes Plateau, das sich als das Dach eines ärmlichen Hauses entpuppte, mit Ausblick auf Mauergerümpel und struppigem Buschwerk, war auch nicht gerade ansprechend.
Ein aufgeweichter, schmutziger Pfad zwischen einer Wildnis von hohem Kaktus führte mit starker Schrägung zu den Überresten von einem der vielen Tore von Jerusalem. Es heißt das Abfalltor. Bereits von weitem konnte ich riechen, daß es seinen Namen nicht vergeblich trägt.
Während ich darauf zuging, klangen mir traurige Flötentöne entgegen. Die verzweifelte Trostlosigkeit des Ortes bedrückte mich. Ich sah mich nach dem Flötenspieler um, der so viel Kummer in seinem Herzen trug. Aber es war kein alter Israelit, wie ich auf Jerusalems Ruinen erwartet hatte, sondern ein halbwüchsiger Bursche, der oberhalb des Abfallhaufens, in der verschlossenen Torruine wohnte.
Ich wandte mich um und blickte zur Stadt zurück. Da lag rechts, auf Morias Berg, hinter der riesenhaften, salomonischen Mauer, der uralte Tempelplatz der Juden. Die Kuppel der Omar-Moschee schwebt jetzt über dem Ort, wo Abraham im Begriff war, seinen Sohn zu opfern, und wo David später dem Herrn einen Altar baute, der das Allerheiligste der Juden wurde.
Und dort lag die Mauerzinne, hinter der das treue Geschlecht über die Wunden klagt, die noch heute schmerzen. Horch, und du wirst durch die Klage einen zitternden Ton von Hoffnung vernehmen. Hoffnung auf einen, der aus Safed in der Nähe von Tiberias kommen soll – nicht in Armut von einer armseligen Jungfrau geboren, sondern ein Messias, dessen Reich von dieser Welt ist und der in Pracht und Herrlichkeit daherkommt.
Ich durchwanderte die Stadt stundenlang aufs Geratewohl. Ich hatte mich verirrt, Baedeker konnte mir nicht mehr helfen.
Ich ging über steinige Pfade, durch alte Torwölbungen, bis ich zu reinen, gutgehaltenen Straßen kam, wo Hospize und Kloster und Kirchen lagen. Ich suchte nach der Via dolorosa.
Ich erreichte die Ecke, wo das österreichische Pilgerhaus lag. Ich ging daran vorbei, eine lange Straße entlang, zwischen hohen Mauern.
Quer über der Straße erhob sich ein Bogen. Nicht weit davon saß ein armer Jude auf einer Steinstufe. Seine Hände hingen schlaff herab, der Kopf war zur Seite gesunken, als ob er schliefe. Haar und Bart waren weiß und reichten bis über das schmutzige, rotwollene Tuch, das er mehrmals um den Hals gewickelt hatte. Beim Geräusch meiner Schritte sah er mit seltsam erloschenen Augen auf.
Ich fragte auf englisch, ob dies der Ecce homo-Bogen sei.
»Ja, so wird er genannt.«
Er erhob sich mühsam, indem er sich mit beiden Händen auf seinen Stock stützte.
»Via dolorosa?« fragte er und richtete seine toten Augen auf mich.
In Gottes Namen, dachte ich, mag er die paar Frank verdienen, und folgte ihm.
»Es kostet nichts,« sagte er, als ob er meine Gedanken erraten hätte, »ich geh denselben Weg.«
Als wir den Bogen erreicht hatten, blieb er stehen und blickte von der Seite zu ihm auf, indem er sich auf seinen Stock stützte. Er stand lange in Gedanken versunken. Dann atmete er tief auf:
»Er sagte nicht: »Seht, welch ein Mensch!« Er sagte: »Seht, das ist ein Mensch!« Denn er bewunderte den Menschensohn, der sein Schicksal und sein Kreuz so zu tragen wußte. Darum schrieb er auch aufs Kreuz: »Der König der Juden.« Er fand, daß er der. Größte unter uns sei. Er fand keine Schuld an diesem Menschen.«
Ich wollte ihm nicht widersprechen. Die Erklärung, die wir »Ecce homo« geben, setzt ja voraus, daß Pilatus ein Ironiker war. Und darüber weiß man nichts.
Wir kamen ans Ende der Straße. Der Alte blieb an der Ecke stehen und zeigte mit seinem Stock:
»Hier brach er unterm Kreuz zusammen.«
Ich fand die Stelle in meinem Buch. Dies war die dritte Station. Der Alte blickte aufs Buch, machte Miene, etwas zu sagen, gab es aber auf.
Er ging schweigend weiter und stieß den Stock heftig auf die Erde. Der alte Kopf nickte auf dem gebeugten Rücken, wie eine Blume auf einem welken Stengel.
Wir kamen zu einem Haus, wo eine Marmortafel mit Inschrift in die niedrige Wand eingemauert war.
»War es nicht hier, wo er seiner Mutter begegnete?« fragte ich.
Der Alte blickte auf, als erwache er aus tiefen Gedanken. Dann deutete er mit seinem Stock auf die Platte und nickte.
Wir kamen zu der fünften Station, wo Simon von Cyrene das Kreuz nahm, und zur siebenten, wo die heilige Veronika ihm den Schweiß von der Stirn trocknete.
»Davon steht nichts in den Evangelien,« sagte ich, »woher stammt diese Erzählung?«
Er war wieder in Gedanken versunken und antwortete aufs Geratewohl:
»Ich sah es nicht.«
Der Weg begann zu steigen. Er stöhnte, blieb stehen, um Atem zu schöpfen, und klammerte sich an seinen Stock.
»Ich hab Zeit!« sagte ich und zeigte auf einen Stein, wo er sich ausruhen sollte.
Er sah mich verständnislos an, seufzte tief und ging weiter.
Wir standen vor einer Steintreppe, die zum Hospiz des Johanniterordens hinaufführte. Das war die achte Station. Ich hatte mein Buch zugeschlagen und konnte die Stelle nicht gleich finden.
»Sprach er hier nicht zu den Töchtern Jerusalems?«
Wieder erwachte der Alte aus tiefem Sinnen und antwortete gedankenverloren:
»Ich hörte es nicht.«
Endlich hatte ich die Stelle im Buch gefunden und las sie durch, der Alte aber wandte sich seitwärts einer offenen Tür zu.
»Sie gehen verkehrt,« sagte ich und zog ihn am Arm, »hier steht, daß die Fortsetzung des Weges gesperrt ist. Wir können nur zur neunten Station gelangen, indem wir umkehren.«
Er antwortete nicht, schüttelte nur seinen weißen Kopf und winkte mit seinem Stock, daß ich ihm folgen solle.
Von einem kleinen dunklen Hof gelangten wir durch eine Passage, die so eng war, daß meine Schultern die Mauern berührten, in einen offenen Klosterhof, mit einigen Zitronenbäumen und einer Zisterne. Von dort gingen wir durch einen gewölbten Torweg in einen größeren Hof, der gepflastert war. Und von dort kamen wir durch Klostermauern wieder auf die Straße.
Der Alte konnte nicht mehr. Er stöhnte bei jedem Schritt. Seine Augen waren wie gebrochen. Der Kopf sank tiefer und tiefer auf die Brust herab. Ich faßte ihn am Arm und zwang ihn stillzustehen; er aber machte sich los, schüttelte den Kopf und ging weiter.
Am Ende der Straße war eine Klostertür, mit zwei niedrigen Steinstufen. Hier, auf dieser Schwelle, sank er wie ein lebloses Bündel zusammen.
Entsetzt faßte ich ihn unterm Arm und richtete ihn auf. Seine Lippen bewegten sich, auf der gefurchten Stirn standen große Schweißperlen. Dann hob er seine müden Augenlider und starrte mich an mit halbgebrochenen Augen, in denen das Bewußtsein langsam zurückkehrte.
Ich fragte ihn aus. Wenn er krank oder hungrig sei, wolle ich durch diese Klostertür gehen, bis ich Menschen träfe, die ihm helfen könnten.
Er schüttelte nur den Kopf und gab mir zu verstehen, daß es ihm jetzt besser gehe. Er wolle keine fremde Hilfe. Er säße hier nur, um sich einen Augenblick auszuruhen.
»Was steht da?« fragte er und deutete auf das Buch.
»Bei der neunten Station?«
»Ja, bei der neunten.«
Ich suchte und fand die Stelle.
»Hier brach Christus zum drittenmal unterm Kreuz zusammen. An diesen Ort knüpft sich die Ahasverus-Sage von dem jüdischen Schuhmacher, der ihn von seiner Schwelle jagte.«
Er nickte vor sich hin und krampfte seine Hände um den Stock, aber er sagte nichts.
Wie wir so saßen, klangen Schritte durch die Straße. Es kamen einige Mönche, Franziskaner, auf uns zu, von einer Pilgerschar geleitet. Es war die tägliche Prozession, von der ich häufig gelesen hatte. Sie geht von Station zu Station und bei jeder wird gebetet.
Der eine Pilger hatte einen Patriarchenbart, lange Schaftstiefel und eine hohe Astrachanmütze. Es war ein Russe, die übrigen waren westeuropäische Touristen, mit Regenschirmen, Gummischuhen und Baedeker.
Der Zug machte einige Schritte vor uns halt. Einer der Mönche verlas den Text des Ortes; die anderen antworteten. Die Westeuropäer entblößten ihre Häupter; der Russe kniete an der Mauer nieder und hielt seine Astrachanmütze vors Gesicht. Seine Hose war vom Knie abwärts ganz beschmutzt, aber das kümmerte ihn wenig.
Der Alte saß auf der Steinstufe, den Kopf in seinen Händen vergraben. Auch er hatte den Hut abgenommen.
Als die Prozession sich entfernte, um die folgenden Stationen aufzusuchen, die in der Kirche des heiligen Grabes liegen, sah er zu mir auf und sagte, daß ich ihnen folgen möge. Sein Weg gehe nicht weiter.
Noch einmal schlug er meine Hilfe aus, diesmal fast ärgerlich. Ich ließ ein Zehnfrankstück auf der Treppe fallen; ich mochte es ihm nicht geradezu geben.
Dann holte ich die Prozession ein und folgte ihr zu den letzten fünf Stationen in der Kirche: der Stelle, wo Christus entkleidet wurde – wo man ihn ans Kreuz nagelte – wo das Kreuz errichtet wurde – wo man die Leiche in Marias Schoß legte – und wo er begraben wurde.
Jeder Ort hat seinen Altar, bei denen Text und Gebet verlesen werden, während die Zuhörer auf dem Steinboden knien.
Es gibt zwei Ortsangaben in und bei Jerusalem, denen man, meiner Ansicht nach, unbedingt trauen kann. Das ist Rachels Grab und der Ort, wo die Kreuzigung stattfand.
Im ersten Buch Mose steht: »So starb Rachel und wurde begraben auf dem Wege nach Ephrath, das jetzt Bethlehem heißt. Und Jakob errichtete ein Denkmal über ihrem Grab. Das ist noch heutigentags das Denkmal von Rachels Grab.«
Der Ort ist bis in die historische Zeit hinein bekannt gewesen, und das Grab ist seit undenklichen Zeiten als einer der heiligsten Orte der Juden geehrt worden. Selbst wenn der Bau nicht mehr der ursprüngliche ist, so braucht man nicht zu bezweifeln, daß er an dem Ort errichtet wurde, wo das ursprüngliche Grabmal stand; denn die Juden bewahren ihre Erinnerungen treuer als irgend eine andere menschliche Rasse.
Aus demselben Grunde glaube ich an die Richtigkeit der Ortsangabe von Golgatha.
Für Christen, Juden und Römer war Jesu Kreuzigung, abgesehen von der religiösen Bedeutung, eine historische Begebenheit ersten Ranges. Das kann man an der Stellung ermessen, die Caiphas und Pilatus, die Obrigkeiten, zur Sache nahmen.
Es hat sicher in Jerusalem und Umgegend kein Kind gegeben, das nicht Fremden den Ort zeigen konnte, wo Jesus, der sich Gottes Sohn und König der Juden nannte, gekreuzigt wurde. Und die Gerüchte, die nach seinem Tode verbreitet waren, von Auferstehung und Wundern haben das ihrige dazu beigetragen, das Ereignis in dem Gedächtnis der derzeitigen Juden zu befestigen.
Dann kamen die ersten christlichen Gemeinden und die Taten und Verfolgungen der Apostel. Es ist nicht anzunehmen, daß der Ort dem Gedächtnis dieser Generation entschwand. Denn der lebendige Strom von Glaube und Hoffnung, der übers Land zog und Unruhe in die Gemüter brachte, ging ja gerade von den Wundern des Grabes aus.
Höchstwahrscheinlich ist die Kenntnis des Ortes vom Vater auf den Sohn vererbt worden, so wie bedeutungsvolle, lokale Erinnerungen noch heute in unserem schnell vergessenden Zeitalter überliefert werden.
Auch die Zerstörung Jerusalems, die kaum vierzig Jahre nach dem Ereignis stattfand, hat die Erinnerung an den Ort sicher nicht verwischen können; die Christen faßten ja das Unglück als eine Strafe für die Kreuzigung auf. Die Einwohner, die die Vernichtung überlebten, haben in ihrem Exil sicher häufig an das bescheidene Grab gedacht, das so schicksalsschwanger für das Judenland geworden war. Die öde Stadtruine wurde frühzeitig ein Wallfahrtsort für Gläubige und Neugierige.
Als die Stadt im Jahre 134 von den Römern wieder aufgebaut wurde, haben sicher alte Geschlechter, die trotz des römischen Edikts zu der Stadt ihrer Väter zurückkehrten (das ist durch Grabfunde im Josaphatstal festgestellt), den Ort trotz der veränderten Bauverhältnisse feststellen können.
Im vierten Jahrhundert herrschte das Christentum in Jerusalem. Der Mutter Constantins des Großen wird es kaum schwer gefallen sein, die Anhöhe und das Grab zu finden, das vielleicht bereits damals seine bescheidene Kapelle gehabt hat.
Aber daß Helena das Kreuz gefunden haben soll, das richtige Kreuz, das bezweifle ich. Das war wahrscheinlich längst in Sicherheit gebracht, entweder von den Christen als ein Heiligtum, oder von den Juden als ein Ärgerniserreger; es trug ja die Inschrift »der König der Juden«, worüber der jüdische Rat sich nicht mit Unrecht beklagte.
Oder ist es nicht am wahrscheinlichsten, daß die Kriegsknechte beiden Parteien zuvorgekommen sind? In Jerusalem war es immer knapp an Brennholz und die Nächte waren kalt. Darum haben sie sicher das Kreuz gespalten und sich während der kalten Nachtwachen daran gewärmt.