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Domnole Fratelli und das goldene Horn

Pardon!«

Es ist ein langer, magerer Herr, mit Segeltuchschuhen, leichtem Morgenjackett, Künstlerhut und weichem Hemdkragen, der in der Ecke des Rauchsalons gegen mich anrennt.

Ich bin zeitig aufgestanden, um die Einfahrt in den Bosporus zu sehen, und er macht im Eiltempo seinen Morgenspaziergang auf Deck.

Wir mustern einander. Er hat kleine, stechende Augen, eine schmale, krumme, spitz zulaufende Nase, wie geschaffen, sich in die Angelegenheiten seines Nächsten zu stecken.

Er heißt Domnole (das ist Herr) Fratelli, und ich heiße etwas, was er nicht aussprechen kann, worüber er sich kindlich und liebenswürdig amüsiert.

»Hm! Hm!« Sagt jemand ganz in unserer Nähe.

Es ist der Kanarienvogel, der erwacht ist und von seinem Käfig mit mitleidiger Miene auf mich herabblickt.

Das ärgert mich ein wenig, und als Domnole Fratelli einen Augenblick verschwindet, um dem gerecht zu werden, was der Engländer »call of nature« nennt, wende ich mich dem Kanarienvogel mit einem fragenden Blick zu.

»Der gefällt mir nicht,« sagt er und zeigt mit seinem gelben Kopf in die Richtung, wo der Rumäne verschwunden ist.

Im selben Augenblick lichtet sich der Nebel, der uns den ganzen Morgen eingehüllt hat. Wir sind nur mit halber Kraft gefahren und haben geheult wie Elefanten in Todesangst, so daß der Teckel des Kanarienvogels kläglich dazu gewinselt hat. Der Nebel lichtet sich, und Domnole Fratelli kommt voller Begeisterung zurück.

Denn dort liegt die grüne, strahlende, hohe türkische Küste, hinter dem blauen, gekräuselten Wasserspiegel, auf dem Fischerboote mit spitzen dreieckigen Segeln wie Möwen auftauchen.

Europäische Villen, weiße türkische Paläste in Tropfsteinarchitektur; und um sie herum herrliche Zypressen, die an Schlankheit mit den Minaretten wetteifern, die wie grüne und weiße Ausrufungszeichen auf das unendliche Himmelsblau weisen.

Die Sonne blinkt in dem goldenen Halbmond auf der Spitze eines Minaretts und in einer Zinne des Yildiz Kiosk, des alten, geheimnisvollen Palastes, von dem ein kalter Entsetzenshauch über den Bosporus, ja, über die ganze Türkei ausging, als noch der große Mörder, der jetzt unschädlich gemacht ist, hier saß und vor Todesangst zitterte.

Das strahlende, weiße Schmuckkästchen dort gleich am Ufer, mit dem laternengeschmückten Marmorkai, der sich mit zitternden Linien im blauen Wasser spiegelt, ist der Dolman Bagtsche, der Palast des jetzigen Sultans.

Auch das ist ein Käfig.

Der Gefangene, der darin sitzt, ist von einem Gefängnis, wo er dreißig Jahre ohne Verbindung mit der Außenwelt verbracht hat, in ein glänzenderes, aber nicht weniger enges Bauer verpflanzt worden, wo jahrtausendalte Vorschriften – religiöse, soziale und dynastische – ihre Fesseln um den »befreiten Prinzen« schlingen.

Das Fahrwasser wird eng und schwierig, der Lotse kommt an Bord. Langsam gleiten wir über die stille, glitzernde, blaue Fläche, die wie von ungeschliffenen Smaragden eingefaßt ist. Dort liegt Asiens Küste in blendendem Sonnenlicht.

Die Fahrt wurde langsamer. Wir glitten mit halber Dampfkraft zwischen einem Gewimmel von Booten vorwärts. Die rote Flagge mit dem weißen Halbmond, der den Stern in seiner Rundung trägt, begrüßte uns von überall.

Es war ein Pfeifen und Zischen und Dampfen. Ein rauchblauer Nebeldunst lag über dem uralten Stambul. Die Konturen der Aya Sofia mit ihren vier Minaretten und all die anderen Moscheen, hohe und niedrige – ich zählte in aller Eile über dreißig – zitterten in der sonnenwarmen, dunsterfüllten Luft.

Vor und neben unserem Schiff schwammen Boote wie kleine Raubtiere, die nicht anzugreifen wagen und doch vom Raub leben. Der Lärm vom Kai erreichte uns wie ein verwirrtes Durcheinander, das dem aller anderen großen Häfen glich und doch ein eigenes Gepräge hatte.

Endlich landeten wir am Kai. Es wimmelte dort von Turbanen in allen möglichen Farben, von glühroten Fessen und weißen, grünen, gelben Kaftanen. Die nackten, braunen, blanken Glieder der Hafenarbeiter leuchteten, wie sie dort munter schwatzend standen, bereit zum Löschen und Laden. Es gab ein Geheul von Hotelschakalen. Arme winkten mit Schildern und Hotelkarten zum Promenadendeck hinauf, um uns naive Reisende einzufangen.

Kaum war die Schiffsbrücke ausgelegt, als diese beseelten Schreiballone auch schon auf Deck standen: Griechen, Türken, Armenier, alle Stämme Halbasiens, die untereinander in Streit liegen, aber sich in dem einen einig sind: die neugierigen, naseweisen und blasierten Wesen, die aus fernen Ländern kommen, um einen Nervenreiz zu suchen, den sie nicht mehr bei sich zu Hause finden, bis aufs Blut auszusaugen.

Auf der bloßen Erde, die Beine gekreuzt, saß in majestätischer Ruhe, den Rücken gegen eine alte Weintonne gelehnt, ein rechtgläubiger Muselmann, ein Türke in Dschubbe und Turban, ohne Kragen und ohne europäische Beinkleider, so wie es Allah wohlgefällig ist.

Was wollen diese Ungläubigen hier bei den Rechtgläubigen?

Mash' allah! – Gott ist groß! – Das ist seine Erklärung.

Ich finde einen Mann – oder richtiger, er fängt mich und läßt mich nicht wieder los. Es ist ein alter Knabe, mit einer Hotelmütze und Cooks Zaubernamen auf einem Schild vor der Brust.

Ich übergebe mich diesem Feldzeichen, vertraue seinem mitgebrachten Sklaven mein Gepäck an und suche Domnole Fratelli auf.

Wir drücken einander die Hand. Er ist gerührt und schließt mich in seine Arme zu einem feurigen, rumänischen Lebewohl, worauf er in der Menge verschwindet.

Ich nicke dem Kanarienvogel zu, der lächelnd auf das komische Getriebe der Menschen herabblickt.

Er grüßt freundlich und blinzelt mit dem einen Auge, als ob er etwas auf dem Herzen habe.

Dann gehe ich von Bord.

Es ist ein Gedränge zwischen halbnackten und schmutzigen Hafenarbeitern, daß es mir warm den Rücken hinunterkrabbelt. Mein Dragoman bahnt mir einen Weg mit seinem Ellbogen. Da entdecke ich plötzlich – ein Instinkt führte meine Hand zum Schlips – daß meine liebe, alte Schlipsnadel, die mir ein Menschenalter treu gedient hat und mir teurer ist als manche Menschen, verschwunden ist.

Ich rufe den Dragoman an und erzähle ihm das Vorgefallene. Er macht sofort kehrt und wir gehen zum Schiff zurück – ich kann sie ja in meiner Kajüte vergessen haben – und unter einer lebhaften Unterhaltung über die Behendigkeit der Diebe in Konstantinopel und die Notwendigkeit, sich an die Polizei zu wenden, führte er mich wieder an Bord.

Natürlich keine Nadel da. Als ich enttäuscht und betrübt das Deck passiere, klingt eine zarte und muntere Stimme an mein Ohr:

»Was habe ich Ihnen gesagt, Verehrtester?«

Es ist der Kanarienvogel.

»Sie hätten auf meine Warnung hören sollen.«

Ich starre ihn erstaunt und ärgerlich an.

»Wollen Sie vielleicht den Verdacht aussprechen, daß Domnole Fratelli – als er mich umarmte –?«

Der Kanarienvogel schloß das eine Auge und starrte mit dem anderen in die Luft, während er seine Federschultern hob.

Dann lachte er leise und sagte:

»Der Käfig ist das einzig Sichere in der Welt. Adieu und glückliche Reise!«

Ich ging beleidigt von dannen.

Kurz darauf saß ich in einem ungeheuren Ledersessel in einer Baracke neben dem Zollgebäude. Es war die Polizeiwache.

Vor mir, ebenfalls in einem Lehnstuhl, saß ein älterer Polizeibeamter mit müden, schönen Augen, in einer grauen Uniform, Fes, mit einem Kreuz darauf und einem Halbmond über der Stirn, mit blanken Knöpfen, Kniehosen und Schaftstiefeln.

Er fragte nicht, er hörte nur zu. Auf der anderen Seite des viereckigen Tisches saß ein jüngerer Beamter, weniger vornehm gekleidet.

Um uns herum standen drei andere Polizeioffiziere, die ebenfalls zuhörten; und an den Wänden des großen und kahlen Zimmers saßen verdächtig ausschauende Individuen jeden Alters, Stammes, jeder Hautfarbe und Kleidung, die darauf warteten, daß die Reihe an sie kommen würde. Sie waren die Frucht von den Hafenbegebenheiten dieses einen Morgens.

Während die sitzenden Offiziere sorgfältig das Verhör niederschrieben – von rechts nach links und von unten nach oben –, mußte ich eine Zeichnung von der Nadel anfertigen und ihren Wert angeben – (ach, was ist ihr Geldwert im Verhältnis zu ihrer treuen Freundschaft; aber das sagte ich nicht laut, denn es wäre der Sache kaum von Nutzen gewesen). Dazwischen sah ich, wie untergeordnete Polizeibeamte, in derselben grauen Uniform, einige der Verdächtigen von den Bänken aufriefen, eine Frage an ihre offenen und doch so listigen Augen richteten, ihre Antworten ohne einen Schimmer von Zutrauen anhörten und dann ihre Taschen durchsuchten.

 

Wenige Stunden später senkte die Nacht sich leise und hastig über das goldene Horn.

Oben war der Himmel noch blau. Dann kam dämmerndes Grün, Orange und Gelb, und von dieser güldenen Flut hoben sich die schlanken, fragenden Minarette ab, die die dunklen Häusermassen auf den sieben Hügeln Konstantinopels überragten.

Elektrisches Licht blitzte auf. Vom Kriegshafen, der sich ins Horn erstreckt, warf der Scheinwerfer eines Kriegsschiffes lange, tanzende Lichtstreifen übers Wasser und zeigte das Leben, das sich noch zwischen Stambul und Pera abspielte.

Dann wurde das Sternenlicht entzündet und plötzlich herrschte das geheimnisvolle Licht der Nacht.

Ich sah aus dem offenen Hotelfenster.

Über meinem Kopf erklang plötzlich der flötenschlagende Laut, der in milden Frühjahrs- und Herbstnächten zu uns nordischen Völkern herabtönt.

Brachvögel.

Aus der Stadt drangen jetzt Menschenrufe durch die Stille herauf. Sie klangen eintönig und langgezogen, wie das Lied eines Fischers im Boot, wenn er allein mit den Sternen ist.

Und horch, – jetzt erklingt es wieder von einer anderen Gegend – und von da – und von da –.

»Allah-il-Allah!«

Es sind Muezziner, die von der Galerie der Minarette, hoch oben unterm Halbmond, die Gläubigen zum Gebet rufen.

»Gott ist groß. Ich bezeuge, daß es keinen Gott außer Gott gibt. Ich bezeuge, daß Mohammed sein Prophet ist. Kommt her zum Gebet, zur Heilung. Gott ist groß. Es gibt keinen Gott außer Gott!«

Die Brachvögel über meinem Kopf schweigen und lauschen. Sie wissen von keinem Gott; aber sie wissen von einem gelobten Lande, das ihnen im Nest versprochen wurde.


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