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An Bord des Kumano Maru

Ein feiner Staubregen fällt vom grauen Himmel. Die Wolken hängen niedrig über den Bergen hinter der Stadt. Die Kronen der Kiefernbäume sind in Nebel eingehüllt. Dort drüben die Brücken übereinander, blank, trübselig, – das ist Nagasaki.

Kumano Maru – der japanische Dampfer, der gestern aus Yokohama gekommen ist – liegt auf der Reede, zur Abfahrt bereit. Heute um drei Uhr geht er über Hongkong nach Australien. Wir hören die Ketten des Gangspills rasseln, das die letzten Säcke der verspäteten Last an Bord nimmt.

Jetzt sind wir mit unserem Motorboot so nah, daß der Schornstein Farbe und der Rumpf Form bekommt. Sieh, wie schlank gebaut er ist, und der Herzschlag jung und stark. Man kann ihm ansehen, daß er ins Leben hinaus soll und ungeduldig aufs Signal wartet. Er ist in Glasgow gebaut worden, dient aber Japans größter Reederei, der Nippon-Yusen-Kaischa-Linie. Der Kapitän ist Europäer, die übrige Besatzung besteht aus Japanern, vom ersten Steuermann bis zu den kleinen Vögeln auf dem Vorderdeck, die die Reise gratis mitmachen.

Das Motorboot legt unter der weißgemalten Fallreeptreppe an. Zwei kurzbeinige Matrosen kommen des Gepäcks wegen herunter. Man reicht mir eine Hand und ich entere hinauf.

»Mind the wet steps, sir!« ruft der Agent hinter mir her. Er trägt die Verantwortung für mein Leben, bis er mich abgeliefert hat.

Dann bin ich oben. Der headsteward begrüßt mich mit seinem japanischen Grinsen und führt mich zu der Kabine, die mich während der nächsten sechsundzwanzig Tage beherbergen soll.

Beim Lunch im Salon werde ich in die Gesellschaft aufgenommen.

»How do you do, sir?«

Es war eine vertraulich verschleierte Stimme, die des Kapitäns. Er kommt mir mit einem freundlichen Lächeln um seinen glattrasierten Mund entgegen. Seine Augen haben eine unbestimmbare Farbe und einen stechenden Blick, wie bei allen Irländern, die ich kennen gelernt habe. Die Kelten, ihre Vorfahren, waren lügnerisch und falsch, sagten die Wikinger. Sein Gang ist jünger als seine Jahre, gleitend, getragen. Sein Lächeln ist das eines guten Kindes. Er weiß es und wendet es häufig an. Wie eben, wo er sich zu Mrs. Ashman beugt, die an seiner rechten Seite sitzt. Es ist wie eine Liebkosung, die er vielen Frauen zugelächelt hat. Er ist zweiundfünfzig Jahre alt und seit achtzehn Jahren Kapitän. Seine Hand zittert, wenn sie die Gabel zum Munde führt. Das kommt vom Whisky. Er trinkt ihn nie mit uns anderen zusammen, er ist der Kamerad seiner Einsamkeit. Dieser Kapitän ist der geborene Charmeur.

Die kleine rundliche Mrs. Ashman, die erst fünfundzwanzig Jahre alt und jung verheiratet ist, wird in seine Falle gehen. Sie nimmt sich nicht genug in acht, denn sie liebt Spielzeug; sie hat nie etwas anderes gekannt. Als sie ihrer Puppen überdrüssig war, bekam sie einen Mann. Die Ehe war eine neue Unterhaltung. Zu Hause in Sidney hat sie eine lebendige Puppe. »Gott weiß, wie es meinem Baby geht!« schreit sie mitten beim Dessert und schlägt ihre weißen Puppenhände zusammen. Sie knabbert von den guten Dingen des Lebens, als sei es Konfekt und Kuchen. Von all den Süßigkeiten ist sie rund und glatt und süß geworden. Nur ihre Stimme ist nicht süß; die hat sie von den Schreipuppen, und sie lacht wie eine Kokotte.

Ihr Mann ist klein und korpulent und kann keinen Augenblick ruhig sitzen. Er hat ein Spielzeuggeschäft in Sidney und ist zum Saisoneinkauf in Japan gewesen. Er hat vier große Kisten auf dem Korridor vor den Kajüten stehen, an denen man sich stößt, wenn es dämmrig wird. Er ist im übrigen eine gute Seele, mit blanken Rattenaugen, die allzu dicht neben der langen, weichen Nase stehen. Er ist Jude, vergöttert seine Frau, spricht hastig und mit Fistelstimme.

Mr. und Mrs. Sutnam sind auch aus Sidney. Er bereist Japan jedes Jahr, um persönlich für sein Warenhaus einzukaufen. Mager, mit graumeliertem Haarschopf, vom Kampf mit dem Leben wie eine Feder gebogen, die so oft gespannt worden ist, daß sie sich nicht mehr aufrichten kann. Er hat Augen wie ein Schlafwandler und eine Stimme wie ein heiserer Hahn. Hin und wieder hat er Ischias, geht an zwei Stöcken auf Deck und ist rührend dankbar für jede Teilnahme.

Seine Frau hat eine Figur wie ein Modestativ und ein glattes Gesicht, das wie in Holz geschnitzt ist – von einem Pfuscher. Der Mund ist schief hineingesetzt, wodurch man den Eindruck einer vergrämten Seele bekommt. Wenn sie des Morgens aufgezogen worden ist, sagt sie alles, was zu bestimmten Zeiten und an bestimmten Stellen gesagt werden muß. Sie ißt und lächelt; aber sie kann den Nacken nicht beugen; etwas an der Maschinerie scheint verkehrt zu sein. Man kann es in ihr beben, keuchen und seufzen hören, als ob eine Uhr zum Schlagen ansetzt. Einen Augenblick verziehen Mund und Augen sich, als ob sie weinen will; aber es wird trotzdem ein Lachen. Besonders, wenn ihr Mann etwas Amüsantes zu. Mrs. Trope sagt, einer alten Hausfreundin, der Witwe von diesem oder jenem.

Und eine Seele hatte das Stativ wirklich. Das sah ich, als wir in Manilla Post an Bord bekamen. Es war ein Brief für sie da von den Kindern. Da sah ich, wie richtige Tränen an ihren Holzbacken hinunterflössen, so daß der hellrote Puder Rillen bekam. Da sah ich auch, wie Mr. Sutnams magre, nervöse Hand über ihr Haar strich, während seine Augen sich verschleierten; es war, als ob er einen Sargdeckel streichelte; und der Deckel bebte und streckte sich, bis alles wieder beim Alten war. Da nahm ich mich ihrer an. Ich versuchte hinter die Holzwände zu gelangen, aber die Maschinerie war nur auf ihr tägliches Repertoir eingestellt. Sie schnurrte und keuchte ein wenig; dann hörte sie auf zu fungieren und kehrte mir den Rücken.

Ich darf auch Mrs. Trope nicht vergessen, die Augen wie Aal in Gelee hatte und einen Mund mit einer Vergangenheit. Sie roch nach Moschus und hatte das fortwährende Bedürfnis, unsere kleine Gesellschaft mit Champagner zu traktieren. Sie feierte Geburtstag und Hochzeitstag, mit süßen Erinnerungen im Auge. Jedesmal stellten die Stewards flache Gläser herum und flüsterten ehrerbietig: »It is Mrs. Trope!« Sie bekam Tränen in die Augen, wenn man ablehnte. Sie war eine gute Seele, besser als ihr Champagner. Geld hatte sie, und Mr. Sutnam behandelte sie mit Achtung, die, wenn seine Frau nicht zugegen war, zu Zärtlichkeiten schwoll. Sie kannten sich gewiß schon von früher.

Dann waren da die Gesellschaftsvögel. Sie saßen an meinem Tisch mit the purser zwischen sich. Sie teilten den kleinen mageren Japaner mit den melancholischen Affenaugen schwesterlich untereinander, sie verschwendeten ihren verbrauchten Flirt an ihn, applaudierten seinen ehrbaren gelben Antworten. Sie machten sich zur Zielscheibe für seine männlichen Geschosse; wenn er keine Pfeile hatte, liehen sie ihm von ihren eigenen Trophäen aus alten Tagen. Sie ließen sich treffen und erröteten bei eingebildeten Dreistigkeiten. Sie machten ihn zu einem Erlebnis, nährten sich von ihm, sättigten sich an ihm, bis er seinen melancholischen Blick vom Teller hob, hilflos vor sich hinblickte und die berühmten Worte sagte: »I am tired of my life.« – Sie waren aus Neuseeland und hatten ihr fünfundzwanzigstes Jubiläum als junge Mädchen gefeiert. Zwei arme unbeschäftigte Schwestern, die ausgezogen waren, um sich in Gemeinschaft zu langweilen. Die älteste war einst hübsch und umworben gewesen. Jetzt waren nur zwei hohle Augen übrig geblieben, wo in plötzlichen Blitzen die Angst lauerte. Die jüngste hatte Hängebacken, deren Jungfräulichkeit Wettergebräuntheit geworden und hervorstechende Augen, deren offener, munterer Blick die Jahre leer und gierig gemacht hatten.

Mit dieser Gesellschaft schlug ich die Zeit tot, sechsundzwanzig Tage, vom 32° nördlicher bis zum 35° südlicher Breite.

Auf dem Kapitänsdeck machte ich meine Morgengymnastik, allein mit dem blauen Meere. Unter mir spült der Matrose das Deck und flötet dabei. Der erste Steuermann hat auf einen Tisch vor seiner Kabine die Kumme mit seinen lieben Goldfischen gestellt, die ihm Japan und seine Familie ersetzen sollen. Sie schnappen frische Luft, während er sich rasiert.

Nach dem Frühstück kommt die Sportstunde. Eine Schar Briten kann nicht fünf Minuten zusammen auf Deck stehen, ohne daß einer sagt: »Sport«. Im nächsten Augenblick sind die Liegestühle beiseite geschoben. Es werden Parteien gebildet, Kreidestriche gezogen, und dann geht's los. Die ernsten Willensmenschen werden zu einem Haufen großer Jungen; mit der Shagpfeife im Munde vergessen sie alles über dem Kuriosum, daß nicht alle sich gleich gut darauf verstehen, eine Bricke einige Meter weit fort in einen Kreidezirkel zu schieben.

Sport ist die Poesie des Neu-Engländers. Shuffleboard wird unter allen Himmelsstrichen gespielt, wo die britische Flagge weht. Der Kapitän ist Meister darin. Seine grünen Augen leuchten. Er hat für nichts Ohr, wenn ein schwieriger Wurf gemacht wird. Er hat alle seine japanischen Offiziere das Spiel gelehrt, damit sie aushelfen können, wenn die Passagiere ihn im Stich lassen. The purser ist ein ebenso leidenschaftlicher Spieler wie er; aber er möchte gern ein wenig schummeln, man muß auf ihn acht geben, wenn er um die Ecke kommt, wo er sich unbeachtet glaubt.

Nach dem Spiel verschwindet der Kapitän, um seinen Pflichten nachzugehen. Die Damen vertreiben sich die Zeit in Liegestühlen mit Büchern und Handarbeiten. Mr. Sutnam und Mr. Ashman sitzen achtern im Rauchsalon und »gamblen«. Sie sind leidenschaftliche Würfelspieler. Sie spielen nicht um Whisky und Lemonsquash, sondern um Geld, nach verwickelten Systemen, die sie heiß und laut und feindlich machen.

Dort drinnen sieht man auch the purser. Er legt Kabalen. Mit seinen kleinen behenden Affenhänden ist er ein Meister in Kartenkunststücken.

Vom Vorderdeck klingen langgezogene, wehmütige Töne herauf. Es ist eine russische Familie, die aus Charbin vor der Pest geflohen ist. Sie haben den ganzen Winter ein präpariertes Stück Stoff vor Mund und Nase getragen; denn Lungenpest ist durch die Luft übertragbar. Eine furchtbare Krankheit, der die Hälfte der Ärzte, die hinüberreisten, um sie zu bekämpfen, zum Opfer fiel. Ein Mann kommt angetaumelt, man glaubt, daß er betrunken ist. Plötzlich greift er durch die Luft, legt den Kopf hintenüber, schnappt nach Luft und fällt um. Das ist die Pest. Alles ist aus seiner Nähe wie fortgeblasen. Dort liegt der Ärmste, bis er stirbt, wenn der Zufall ihm nicht einen gewissenhaften Europäer in den Weg schickt, so daß die Ambulanz geholt werden und er in den Baracken sterben kann. Der Unterschied ist nicht groß. Der Tod ist ihm gewiß.

Zu der Familie gehört ein soldatisch strammer Großvater, dessen Augen quer durch Sibirien in das Steppenland blicken, mit den blauen Glockenblumen und den tiefen Wäldern. Sein Sohn, ein hübscher Athlet, mit dem vertrauensvollen Blick und freimütigen Lachen eines Kindes. Er spielt abends Harmonika zu den Sternen hinauf, ganz leise, um die Kinder, die auf Deck schlafen, nicht zu wecken. Er trägt Sportshemd und roten Schlips, worauf er stolz ist. Wenn man ihn ansieht, nickt und lächelt er. Er glaubt noch an die Welt. Er soll nach Australien mit seinem Glauben ans Leben und seinen starken Schultern.

Seine Frau ist mager, sieht leidend aus, grau vor Kälte; oder vom Nähren der beiden Kleinen, die sie fern von Heimat und Freunden bekommen. Sie sitzt mit der Hand unter der Wange und starrt übers Meer.

Es ist Abend. Im Salon spielen Mr. Sutnam, seine Frau, Mrs. Trope und Mr. Ashman Bridge. Im Rauchsalon haben die Gesellschaftsvögel sich bei the purser niedergelassen. Der Kapitän promeniert auf Deck, Arm in Arm mit Mrs. Ashman. Jedesmal, wenn sie an der Salontür vorbeikommen, sprechen sie laut und lächeln zu den Spielern hinein; aber sie flüstern und gehen dicht aneinandergedrängt, wenn sie allein sind. Ich stehe vorn und gucke zu den Sternen am kristallklaren Nachthimmel hinauf.

Da kommt jemand von der Kajütstreppe auf mich zu.

»Schöne Nacht!« sagt er und führt die Hand an die Mütze zum Gruß.

Er hat einen schleichenden Gang, runde Schultern, einen kahlen Rundkopf und boshafte Augen. Die Gicht hat ihn während der ersten Tage in seiner Kabine zurückgehalten. Deshalb sehe ich ihn erst jetzt. Wir stellen uns vor. Mr. Frase ist Schotte.

Während wir auf dem Deck hin und her gehen, erzählt er gesprächig von sich selbst. Er ist überall dort auf der Erdkugel gewesen, wo es gute Jagden und Wärme gibt. Jetzt ist er zum Jagen zu alt geworden.

»Aber Sie reisen noch?«

»Das ist mir zur Gewohnheit geworden. Ich mache Entdeckungsreisen.«

»Entdeckungsreisen?«

»Auf Menschenglück.«

»Was ist Glück?«

»Das, was ich entdecken will. Ich habe keine Familie, keine Freunde. Es interessiert mich festzustellen, was Menschen eigentlich unter Glück verstehen. Dort geht der Kapitän und macht Mrs. Ashman die Cour. Können Sie sehen, wie glücklich die beiden sind, während der Mann nichtsahnend im Salon sitzt und sich freut, daß er im Bridge gewinnt. Sie haben vierundzwanzig Tage vor sich, um alle Torheiten des Glücks zu begehen. Wenn sie sie hinter sich haben, dann zeigen sie sich als Unglück. – Ist es nicht merkwürdig, daß Dinge so verschieden aussehen, wenn man sie vor sich und wenn man sie hinter sich hat?«


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