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Ich habe während meines kurzen Aufenthaltes in Jerusalem allerhand statistische Aufklärungen eingeholt, die den geehrten Leser sicherlich interessieren werden.
Folgendes habe ich teils Justus Perthes Taschenatlas, den ich immer zur Unterstützung meines Gedächtnisses bei mir trage, teils persönlichen Beobachtungen zu verdanken.
Was Herrn Perthes betrifft, so kann ich natürlich nur auf seine allgemein anerkannte Glaubwürdigkeit bauen. So viel ich weiß, ist er noch auf keiner bewußten Unwahrheit ertappt worden. Man versichert, daß er ebenso unbestechlich sei wie Baedeker, obgleich er immerwährenden diplomatischen Beeinflussungen und Ordensangeboten ausgesetzt ist, als da sind: das Goldene Vlies, das Hosenband, Löwen, Elefanten, Adler, kurz gesagt, die ganze europäische Ordensmenagerie.
Was dagegen meine persönlichen Beobachtungen betrifft, so übernehme ich jegliche Garantie.
Jerusalem hat 51 476 Einwohner. In dieser Zahl bin ich selbst nicht mit einbegriffen, ebensowenig wie die übrigen Reisenden.
Von den 51 476 sind 25 201 Männer, 26 182 Frauen und 93 Eunuchen. Der Rest sind Mönche und Nonnen verschiedenen Glaubens. Außer den Eunuchen gibt es 21 033 Unverheiratete, von denen jedoch einige teilweise oder periodisch verheiratet sind; 15 720 leben in Einzelehe, und der Rest, 10 628 beiderlei Geschlechts, in vielfacher Ehe.
Die wichtigsten Erwerbszweige der Stadt sind Religion, Touristenpflege, Führerhandwerk, Philanthropie und Bettelei.
Was den Religionserwerb anbetrifft, so leben davon die römisch-katholische Gemeinde und die Franziskaner, die deutsch-evangelische Gemeinde und die Tempelritter, und eine Menge christlicher Einwohner. Die englisch-protestantische Gemeinde ernährt zahlreiche Juden, vorausgesetzt, daß diese sich zu ihrer Kirche bekehren lassen. Die Armenier unterhalten eine bedeutende Schar Priester und Pilger, während die rechtgläubigen Juden sich teils durch Handel im Judenbasar, teils durch israelitische Verbindungen, wie zum Beispiel mit den Rothschilds und Montefiores ernähren.
Die private Philanthropie kommt hauptsächlich eingewanderten Christen zugute, während Bettelei ziemlich gleichmäßig bei allen eingeborenen Nationen vertreten ist und in allen Vierteln vorkommt.
Der Touristenerwerb wird in einer Form gepflegt und ausgenutzt, die vielfach an Jagd und Fischerei früherer Zeiten erinnert; daher stammen auch die meisten technischen Ausdrücke dieses Erwerbs.
Wenn der junge Touristenführer zu einem neuen Arbeitstag erwacht, ist sein erstes, Wind und Wetter zu prüfen. Früher geschah das durch persönliche Anschauung, heute ist die zunehmende technische Vollkommenheit auch nach Jerusalem gelangt.
Wie der Fischer an den größeren Fischplätzen, so hat auch der moderne Touristenführer sein Aneroidbarometer, sein Minimum- und Maximumthermometer, seinen Feuchtigkeitsmesser, seine Windfahne und seinen Fahrplan, die ihn genau über ein- und ausgehende Touristenströme, Ebbe und Flut, unterrichten.
Dies alles ermöglicht ihm einen vernünftigen Überblick über die Güte der Fischart und der Fangmöglichkeiten.
Um die Osterzeit, wenn der große jährliche Herings-, ich meine der große Pilgerschwarm, seine Tausende über die Küste von Palästina schwemmt, dann muß man den Touristenführer sehen! Das ist seine gute Zeit. Seine Augen leuchten, seine Muskeln vibrieren, seine Zunge läuft. Er ist vom frühen Morgen bis die Sonne hinter den Bergen verschwindet in Bewegung. Mancher junge Fischer hat an einem einzigen Tag durch einen besonders günstigen Fang mehr verdient als sonst in Monaten.
Die beliebteste Touristenart ist die reich ausgestattete, ältere, kinderlose Witwe mit einem vollen Busen, einem guten Herzen und einer gemischten Vergangenheit. Sie wird allerdings mit jedem Jahre seltener; jetzt kommt sie meistens nicht allein, sondern in Gefolgschaft mit anderen Touristenarten, die von der berühmten Haifischsorte Thos. Cook & Son eskortiert werden.
Eine andere Touristenart sind die gelehrten, aber unbemittelten Abendländer: Professoren, Schullehrer, Geistliche und ähnliche Abarten, die in beiderlei Geschlecht vorkommen, jedoch hauptsächlich Männchen, mit weichen Filzhüten, Brillen, roten Büchern und Ferngläsern um den Hals. Sie stehen bei den Touristenführern tief im Kurs und werden eigentlich nur gejagt, wenn nichts besseres da ist, oder aus Sportliebhaberei.
Sie sind scheu und schwierig, Fallen gegenüber auf ihrer Hut und ganz unzugänglich für gewöhnliche Lockspeisen.
Während die Witwe wie ein Dorsch gepilkt werden muß – am besten trifft man sie ins Auge oder Herz – muß der bebrillte Bock meistens mit Hunden und auf dem Anstand gejagt werden. Je schwieriger die Jagd ist, desto mehr lockt sie den Jäger. Es kommt vor, daß er wegen der Jagd auf den scheuen und stolzen Brillenbock den richtigen Heringsschwarm versäumt.
Das Amt des Jagdhundes wird meistens von einem halbwüchsigen, dazu dressierten Jungen ausgeführt, wofür er eine feste Taxe per Bock erhält. Er sucht das Terrain ab und stellt das Wild, sobald er Fährte davon bekommen hat.
Wenn der Jäger die bezeichnete Stelle erreicht hat, gibt er mit einem leisen Pfiff den Befehl zum Angriff. Und jetzt sieht man, wie der Jagdjunge sich mit vorsichtigen Schritten dem nichtsahnenden Opfer nähert, das vor einer alten Mauerwölbung in sein rotes Buch vertieft dasteht.
Der Bursche lüftet die Mütze, wenn er eine hat, und sagt einige anerkennende und erklärende Worte über die Mauerwölbung. Wenn er nichts weiß, was einem wohldressierten Jagdjungen selten passiert, dann denkt er sich etwas aus.
Das Opfer, das gewohnt ist, sich selbst zu helfen, ahnt eine Falle, blickt scheu auf und sagt »Danke«.
Der Bursche erbietet sich, ein interessantes Tor in der Nähe zu zeigen, das irgend ein Heiliger passiert hat. Daß es drei Meter unter dem jetzigen Tor stand, wenn es überhaupt ein Tor und kein Feigenbaum war, tut nichts zur Sache. Der Heilige hat an dieser Stelle geatmet, das ist das Ausschlaggebende.
Das Opfer sagt: »Danke, ich weiß schon!«, guckt in das rote Buch und schreitet zu der nächsten Sehenswürdigkeit, während der Junge ihm wie ein Schatten folgt.
Jedesmal, wenn das Wild vor einem neuen historischen Ort stehen bleibt, den es mühsam im Buch herausgefunden hat, rappelt der Junge die ganze Beschreibung herunter, bevor der Bebrillte Zeit gefunden hat, sie zu lesen.
Jetzt verliert der Bock aber die Geduld, wendet sich mit blitzenden Brillen um und versucht mit den Hörnern zu stoßen. Der Bursche flüchtet aus dem Bereich der Hörner und bleibt in einiger Entfernung mit frommen Augen stehen. Der Bock wird immer gereizter. Die Nähe des Jagdjungen verdirbt ihm den Genuß und stört seine Andacht. Aber sein abendländisch gerechtes Gemüt muß zugeben, daß die Straße jedermann zugänglich ist und daß er dem Knaben den Anblick der heiligen Orte, die er selbst sucht, nicht verbieten kann.
Schließlich will er den Ort räumen, in der leisen Hoffnung, daß er durch ein geschicktes Manöver seinem Verfolger entgehen kann.
Er wirft einen hastigen Blick auf den Stadtplan und schielt zu der Straßenecke hinauf. Aber o weh, die väterlich fürsorgliche Stadtverordnung hat im Interesse des Touristenführers die Straßennamen unterschlagen.
Jetzt ist er geliefert. Der Bursche nähert sich siegesbewußt. Der Bock erfaßt die Gefahr, aber sein Stolz verbietet ihm, sich zu ergeben. Er blickt mit erhobenem Geweih an dem Burschen vorbei und begibt sich in die Richtung, die er für die richtige hält, um seine Selbständigkeit zu beweisen.
Da erhebt der Junge eine entsetzt warnende Stimme und deutet energisch in die entgegengesetzte Richtung.
Das Opfer bleibt stehen. Sollte er in eine Sackgasse geraten sein? Er weiß weder aus noch ein.
Da, im Augenblick äußerster Gefahr, nähert sich der Jäger vorsichtigen Schrittes aus dem Schlupfwinkel, von wo er die Vorstöße seines geschickten Jagdjungen verfolgt hat. Er weiß aus Erfahrung, wieviel dazu gehört, bevor ein gewöhnlicher Brillenbock verblutet und umfällt. Meistens genügen drei, vier verlorene Sehenswürdigkeiten und einige verfehlte Straßen. Er weiß, daß diese Touristensorte eine merkwürdig stolze und eigensinnige Rasse ist, die ihre letzten Kräfte aufbieten würde, um nicht in die Hände des rohen, gefühllosen Jagdjungen zu fallen. Der Jäger tritt darum als Befreier auf, der mit heftigen Worten den Verfolger in die Flucht treibt und das Opfer mit teilnehmenden Worten auf den richtigen Weg bringt.
Einige Stunden später zerfleischt er ihn auf offener Straße und trinkt sein Herzblut.
Zum Schluß sei noch erwähnt, daß die Stadt nach Glaubensbekenntnissen eingeteilt ist. Das hat sich zur Begrenzung der unvermeidlichen Glaubenskämpfe als notwendig erwiesen. Diese werden jetzt hauptsächlich an dem großen allgemeinen Versöhnungsfest (Ostern) ausgefochten und fordern viele Opfer.
Die Häuser sind aus Stein und haben alle ihre Geschichte. Man kann sie in Wohnungen für Lebende und Wohnungen für Tote einteilen. Letztere sind am zahlreichsten.
Die Stadt ist von drei Mauern verschiedenen Alters umgeben. Zwei liegen unter den Straßen und Gassen und sind nur noch durch punktierte Linien auf dem Stadtplan kenntlich.
Die Verbindung mit der Außenwelt kommt durch neun uralte Tore zustande, von denen die meisten zugemauert sind.