Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Wir dampfen mit halber Kraft den Iravaddy-Fluß hinauf.
Vorläufig befinden wir uns noch im Delta; aber selbst hier, so weit draußen, ist das Wasser grau, schmutziggelb. Es ist der Schmutz von Tausenden von Dörfern; es ist der Lehm von den kahlen Abhängen, an denen der Fluß sich vorbeibuchtet und Land frißt; es ist der Morast von den giftigen Mangrovesümpfen in den Ebenen von Niederbirma. Alles dies brodelt in schmutzigen Schaumwirbeln um unseren Bug und eilt leise summend zum Meere.
Der Fluß wird schmäler. Die Küsten nehmen Form und Farbe an. Der Dunst hat keine Macht mehr. Durchs Fernglas kann ich vereinzelte Palmen, diemenähnliche Hütten unterscheiden; dann Fabrikschornsteine, Faktoreigebäude und Werften. Die Zivilisation.
So ist es im Osten. Man glaubt, daß man Europa entflohen ist. Man atmet frei und ursprünglich unter der Sonne. O, diese schlanke Palme dort im Nebel, mit der eigenartig flachen Krone! – Das Fernglas heraus: ein Fabrikschornstein, mit einer qualmenden Rauchkrone überm Kopf.
Die Maschine stoppt. Das ist die Barre. Hier können wir nicht weiter, bevor die Flut kommt. Wo das Flußbett sich zum Delta erweitert, das dem Strom Einhalt tut, verliert er seine tragende Kraft, so daß Lehm, Sand und Schmutz zu einer Barre auf den Grund sinken, die große Schiffe nur zur Flutzeit passieren können.
Dort liegt Rangoon. Wir hören die Dampfflöten, wir sehen, wie ihr unreiner Atem den Sonnennebel verdunkelt.
Was ist es, das seinen Hals dort über den Dunst reckt – was ist es, das wie eine raucherstickte Flammenzunge, wie ein Gebet in den Himmel flackert, das Millionen von Seelen entzündet hat?
Das ist Schwe Dagon Pagoda, der goldene Turm, der sich von seinem breiten Kolbenfuß immer dünner werdend, zum Himmel erhebt, bis er in einer Spitze, einem Punkt endigt – ebenso wie der Buddhist, der seine Seele für das Gold guter Taten, durch immer enger gezogene Kreise, aus dem Leben löst, bis es im ewigen Frieden ausatmet.
Es ist das heiligste Heiligtum der Buddhisten. Denn im Turm werden nicht nur acht Haare des historischen Buddha aufbewahrt, sondern auch Reste von den drei vorhergehenden, an die die Birmanen glauben; und von diesen ist nirgends anders etwas überliefert, wogegen sowohl Indien wie Ceylon Reliquien von dem historischen Gautama besitzen. Die fünfundzwanzig Jahrhunderte, die die Pagode existiert hat, sind also nichts im Verhältnis zur Heiligkeit des Ortes; denn die drei vorhergegangenen Buddhas umspannen eine Unzahl von Jahrhunderten, und die rechtgläubigen Birmanen meinen, daß ebenso lange auf dieser heiligen Höhe gebetet und geopfert worden ist.
Eine elektrische Bahn führt längs einer schattigen Fahrstraße zur Pagode hinaus.
Am Eingang halten zwei haushohe Ungeheuer Wache, eines zu jeder Seite der Steintreppe, die zu der mächtigen Plattform hinaufführt, worauf das Heiligtum ruht. Sie stemmen ihre Löwenpfoten gegen die Erde und erheben ihre gezackten Drachenköpfe stolz in die Luft; die aufgerissenen Mäuler sind so weit wie Türöffnungen und von zwei Reihen Zähnen bekränzt. Sie sind aus Mauersteinen gemacht, mit weißem Gips überzogen.
Durch den offenen Torbogen sehen wir in eine Perspektive von Treppenhäusern, mit Pavillonen von Teakholz überdacht, die gemalt und geschnitzt sind. In dem ersten läuft unter dem Dach ein Fries, der in vergoldeten Holzreliefen Szenen aus Buddhas Leidensgeschichte darstellt.
Die Stufen sind von tausendjährigem Tempelgang ausgetreten; man muß vorsichtig gehen, um nicht zu stolpern. Zu beiden Seiten liegen Läden, einige zu ebener Erde, wo die Verkäufer auf den Fliesen mitten in ihrem Kram hocken, andere in Tischhöhe, mit geschmackvoller Auslage, hinter der eine rundliche Birmanin steht, in einer hochschließenden Nachtjacke, Blumen in dem kunstvoll aufgesteckten Haar, ein Lächeln auf dem gepuderten Gesicht, im Munde eine große Cerut, die in etwas eingewickelt ist, das wie Karduspapier aussieht, und mit goldenen Spangen an den Armen.
Es werden Wachslichter verkauft, dicke und dünne, mit roten Figuren bemalt, wie in den kleinen Läden vor einer sizilianischen Kirche. Es werden Opferblumen verkauft, Räucherzäpfchen und Puppen; Triangel, um die Gottheit zu wecken, wenn man beten will; goldene Blätter, die auf die vergoldete Pagode geklebt werden.
Da sind bebrillte Schicksalsdeuter, die vor ihren niedrigen Tischen hocken, wo Münzen und Bohnen hübsch in Haufen zwischen Tuschnäpfen, Pinseln und Palmenblattheften mit eingeritzten, astrologischen Figuren geordnet sind. Es sind Schicksalsbücher, in denen der Verständige einen Leitfaden für sein Leben findet.
Da sind Bettler und Kranke und Kinder und Krüppel, die alle durch die Perspektive von Treppenhäusern zu dem heiligen Turm hinaufkriechen.
Hier und da sieht man einen uralten Baumstamm in die Wand eingemauert; das ist ein heiliger Pipalbaum, den man nicht zu fällen gewagt hat. Draußen reckt seine Krone sich schützend über das Schrägdach, dessen spitzer Regenschirmturm »Ti« von Gold- und Silberglocken bekränzt ist, die sich mit sanftem Schellengeläute bei jedem Luftzug bewegen. Unter dem Pipalbaum sitzend, von seinem Schatten beschützt, fand Buddha das Licht.
Endlich erreichten wir die Plattform. Mitten in dieser Stadt von Pagoden, Kiosken, Kapellen hebt Schwe Dagon ihren goldenen Körper einhundertfünfundzwanzig Meter zum leuchtenden Himmel hinauf, dieselbe Höhe wie die St. Paul in London.
Der ungeheure Kolbenhals hat weder Fenster noch Galerien. Er ist eben und mattgolden, ohne blendenden Glanz; auf der Schattenseite vertieft sich das Gold wie das zarteste, bronzegüldene Frauenhaar. Um seinen oberen Teil hängt ein spinnwebendünnes Gerüst; denn der Turm wird beständig neu vergoldet, bald an der einen, bald an der anderen Seite, bald an der Spitze, bald auf dem Grunde. So opfern die Reichen; die Armen kleben die kleinen Goldblätter, die sie am Eingang gekauft haben, an den Fuß des Turmes.
Dieser Riesenfuß ist gefurcht wie eine Eiche an der Wurzel. Es sieht aus, als würde er unter der Erde fortgesetzt, als habe er seinen mächtigsten Teil, den Goldkolben, wovon er selbst nur der Hals ist, tief unter der Oberfläche. Er hat vier Öffnungen zum Platz hinaus, eine in jede Himmelsrichtung. Viereckige Kapellennischen, die aus dem Kegel ausgehauen sind; sie enden in einer Altarwand, hinter der man einen rauchgeschwärzten Buddha unterscheidet.
Da sind freistehende Opferblöcke für Blumen und runde Bronzeetageren mit Pfriemenspitzen, an denen brennende Opferlichter festgesteckt werden. Es flimmert von qualmenden Lichtschnuppen, es raucht von duftenden Räucherkerzen. Die Hände auf der gebeugten Stirn gefaltet, liegen alte und junge Birmaninnen und ihre Kinder auf den Knien. Sie sind in helle, geblümte Seidenstoffe gekleidet.
Die Birmanin hat eine freie Haltung, einen schnellen, etwas schlendernden Gang, ein munteres Wesen. Ihr nußbrauner Teint ist zart und gutgepflegt; ihre Augen sind groß und blank und sie schlägt sie nicht nieder. Sie sind nicht von der Welt ausgeschlossen wie die Frauen Indiens. Es gibt nicht zweierlei Gesetze für Männer und Frauen. Glück und Arbeit sind gleichmäßig verteilt. Und dann rauchen alle – von Zwölf- bis zu Siebzigjährigen – und zwar so dicke Ceruts, daß ihre kleinen schwellenden Lippen sie kaum umspannen können.
Ein Fest fand statt. Es wimmelte von Mönchen mit frischrasierten Glatzen, in faltenreichen, gelben Togen, die den Hals, den rechten Arm und den unteren Teil des Beines freilassen.
Eine Ecke des Tempelplatzes ist eingefriedigt und ein Segeltuchdach zum Schutz gegen die Sonne darüber gespannt. In der Mitte stand ein Paradetisch mit Ehrenplätzen für the lieutenant-governor, Birmas höchste Obrigkeit und dessen Gefolge. Rechts eine Reihe niedriger Lehnstühle, in denen die Mönche sich niederhockten; links Rohrstühle für die eingeladenen Europäer.
Vom Segeltuchzelt, um die Pagode herum und durch die ganze Treppenperspektive bis auf die Landstraße hinaus, waren rote Läufer gelegt. Hohe, eingeborene Polizisten mit braunem Turban und roter Gürtelschärpe um die dunkle Bluse, hielten Ordnung unter den munteren Birmanen, die die Passage garnierten, wie bei einem europäischen Fürstenempfang.
Vor dem Zelt stand ein Beamter im Gehrock, mit seinen eingeborenen Assistenten. Er empfing die Geladenen, die ihre Eintrittskarten abgaben, sowohl Europäer, mit dem apostolischen Provikar an der Spitze, wie vornehme Eingeborene im weißen Seidenkaftan, die blaue Schleife auf der Brust, das Mitgliedsabzeichen der gelehrten, buddhistischen Gesellschaft, die das Fest veranstaltete.
Wir stellten uns dem englischen Beamten vor, bekamen eine Erklärung über die Veranlassung des Festes, worauf uns ein Platz zwischen den Geladenen angewiesen wurde. Gerade vor uns saßen die Mönche und rechts die gelehrten Eingeborenen, dem Tisch des Gouverneurs gegenüber.
Einer der Mönche saß abgesondert auf einem vergoldeten Stuhl in der Nähe des Gouverneurs. Er war der Mittelpunkt des Festes, sollte den Ehrenpreis des Jahres für die beste Arbeit über die uralten Palibücher zuerteilt bekommen. Seinetwegen saßen all die weisen Buddhaväter dort, mit runden Brillen vor ihren klugen Augen, und warteten auf His Honour, der den Preis überreichen sollte: ein gebundenes Exemplar von den Werken der gelehrten Gesellschaft; die Bücher lagen auf dem Tisch des Gouverneurs aufgestapelt und warteten ebenso wie wir anderen.
Längs des Läufers erhob sich ein Geflüster und Gemurmel. Dann erschien, während alles sich erhob, His Honour, Mr. Adamson, von dem diensttuenden Beamten geführt.
Ein grauhaariger, korpulenter Herr, stattlich, aber ohne Eleganz. Feste, braune Augen in einem Gesicht, das sich das schläfrige Hoheitsgepräge des Orientalen angeeignet hatte. Er trug einen Gehrock mit aufgekrempten Hosen, einen weichen, grünen Hut, gelbe Stiefel und eine Blume im Knopfloch; aber er hatte zwei mit Silber ausstaffierte Adjutanten, die hinter ihm Platz nahmen, und einen eingeborenen, weißgekleideten Dolmetscher mit einem glattrasierten, außerordentlich intelligenten Gesicht.
Der Dolmetscher erhob sich und verlas die Rede des Gouverneurs auf birmanisch in einem seltsamen Meßton, mit einem steigenden Rhythmus und einem fallenden, der die Sätze mit einem langgezogenen Klagelaut abschloß. Die Rede wurde mit höflichem Händeklatschen aus dem Kreise der Gelehrten begrüßt.
Dann erhob sich von der obersten Bank ein würdiger, breitschultriger Herr, mit der Miene und Haltung eines Rector magnificus, was er möglicherweise auch war. Er trat vor, verbeugte sich vorm Gouverneur, indem er seine Hände flach vorm Gesicht faltete und begann mit schneidender Stimme seine Antwort- und Dankrede.
Ich hatte geglaubt, daß der Meßton des Dolmetschers eine Eigentümlichkeit von ihm sei; der Rektor aber sprach in demselben Rhythmus, mit demselben Wehruf an den Endsilben. Eine offizielle birmanische Form, ein Ritual.
Man konnte in den Augen des Gouverneurs nicht lesen, ob er die Rede verstand; die Kollegen des Gelehrten aber verstanden sie. Einer lächelte verstohlen, ein anderer nickte vorsichtig. Der Redner wandte sich mit Absicht vom Gouverneur ab und seinen Kollegen zu. Es war anscheinend eine listige Rede, mit verdeckten Spitzfindigkeiten und geistvoll verschleierten Witzen, die gegen die irdische, das heißt britische Obrigkeit gerichtet war. Und als er mit einer abermaligen Verbeugung vor dem Gouverneur schwieg, wurde ihm ein demonstrativer Beifall von den Seinen zuteil. Selbst in den Kreisen der Mönche machte sich eine Unruhe bemerkbar.
Der Gouverneur erhob sich, sagte in englischer Sprache einige lobende Worte zu dem Preisgekrönten, der unbeweglich dasaß, den Blick auf einen fernen Punkt im Raum gerichtet, als ginge ihn die Sache gar nichts an. Selbst als er die Bücher aus der Hand des Gouverneurs entgegennahm, geschah es ganz mechanisch. Er erhob sich nicht, bewies kein äußeres Zeichen des Dankes, verriet keine Freude. Er war sicher weit voraus auf dem Wege nach Nirwana.
Die Zeremonie war zu Ende. Der Gouverneur wurde über den Läufer zu seinem Auto begleitet, und die Menge ergoß sich zwitschernd auf dem heiligen Platz. Auch wir gingen umher, von Kiosk zu Kiosk, während die Glocken über uns läuteten, wenn der Wind auf die »Ti«-Türme hauchte.
In jedem kleinen Kiosk saß ein Buddha aus Alabaster, mit Juwelen geschmückt, oder aus vergoldetem Teakholz. Wenn ein Birmaner Geld verdient hat, ist sein erster Gedanke, seinen menschgewordenen Gott mit einer Statue zu ehren.
Wir gingen hinter die Pagode und blickten über das blinkende Wasser und die dunklen Palmenhaine der Landschaft. Dort im Winkel lag ein Kloster, ein niedriges Verandahaus aus Holz, das keine Möbel hat, sondern nur Matten. Wir sahen ein armes Weib, das vor seinem Seelsorger hockte, und Kinder im Kreis um einen Mönch, der sie unterrichtete. Denn alle birmanischen Klöster sind Schulen. Andere gibt es nicht. Jedes Dorf hat seine, und es setzt seine Ehre darein, die Mönche zu unterhalten, die hochgeachtet sind und »Herr« genannt werden.