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Kanton ist die unruhigste Stadt in China. Ob es an dem launenhaften Klima der Mündung des Perlenflusses in »the fearful chinese sea« liegt, oder am Temperament des Südchinesen, ist nicht gut zu wissen. Sicher ist aber, daß in Chinas größter Industriestadt immer Revolution in der Luft liegt.
Vor einigen Wochen hatten die upper ten sich gegen den Vizekönig empört, der zur Mandschupartei gehört. Es besteht ein uralter Rassenhaß zwischen den richtigen Chinesen des Südens und den Mandschu aus dem Norden, aus deren Mitte die regierende Dynastie hervorgegangen ist. Dieser jahrtausendalte Streit ist sicher auch die Grundursache, weshalb China inzwischen Republik geworden ist.
Die Ursache zu der damaligen Empörung war, daß der Vizekönig, nachdem er jahrelang den Opiumgenuß bekämpft, sich auf ein anderes der nationalen Laster geworfen hatte, die Spielleidenschaft, die jedem echten Chinesen im Blute liegt. Er hatte die Spielhöllen aufgehoben und dadurch einen Eingriff in die Rechte der besseren Jugend gemacht.
Zuerst versuchte man ihn aus seiner Beamtenburg, dem kaiserlichen Yamen, zu vertreiben; aber er kehrte mit einer verstärkten Militärmacht zurück und bestand so nachdrücklich auf seinem Verbot, daß die Spielhöllen wirklich schließen mußten und die Jugend sich gezwungen sah, nach der portugiesischen Halbinsel Macao zu reisen, die vis-a-vis von Hongkong, flußabwärts liegt und sich von alters her durch Spiel ernährt hat. Sie ist das Monte Carlo des Ostens.
Aber eine achtstündige Flußreise verteuert den Einsatz bedeutend, von dem höchst unpraktischen Zeitverlust gar nicht zu reden. Man empörte sich also von neuem, mietete eine Bande Kuli – sie sind billig, haben feste Preise und übernehmen alle Art Besorgungen –, um den verbrecherischen Vizekönig ins Jenseits zu befördern.
Sie verkleideten sich als Mönche des ehrenwerten Taoist-Klosters, das an den Garten des Yamen stößt, kletterten des Nachts über die Mauer und steckten die Burg in Brand; der Verbrecher aber entkam aus seinem brennenden Haus. Das Militär wurde alarmiert, und am nächsten Tage sahen viele der besseren Leute sich gezwungen, eine Geschäftsreise nach Hongkong zu machen.
Der Vizekönig blieb bei seinem Eigensinn. Er ging sogar so weit, daß er sich an die Regierung von Macao wandte und ihr anbot, den Verlust zu ersetzen – ungefähr 300 000 Dollar jährlich –, wenn sie seinem Beispiel folgen und ihre chinesischen Spielhöllen aufheben würde. Hier begegnete er indessen energischem Widerstand, wodurch Macao sich große Popularität in Kanton erwarb.
Höheren Orts wurde der Vizekönig aufgefordert, Amnestie zu erlassen, so daß die Söhne der bedrängten Väter zurückkehren konnten; die Spielhöllen aber waren und blieben geschlossen, und der Vizekönig zeigte sich nicht gern außerhalb seines vom Brand verheerten Yamens, das von einer Doppelreihe Militär umgeben war. Überall in der unruhigen Stadt – sogar mitten auf der Hauptpromenade patrouillierten Soldaten mit geladenen Gewehren und Patronengürteln um den Leib.
So war die Lage, als wir nach Hongkong kamen. Man riet uns davon ab, nach Kanton zu fahren, das jetzt mehr als je die Europäer scheel ansah, von denen der fortschrittfreundliche Vizekönig seinen Haß gegen die unschuldigen Freuden des Spiels entliehen hatte. Der Chinese ist mit der Anschauung aufgewachsen, daß alles Böse von uns Weißen kommt.
Das Gefahrvolle der Expedition aber steigerte nur unsere Unternehmungslust, und abends zehn Uhr gingen wir an Bord des »Fatschan«, auf dessen Kapitänsdeck sich ein wohlgefüllter Waffenraum befand, zur gefälligen Benutzung für Passagiere der ersten Klasse, im Falle unbehaglicher Überraschungen.
Es war zum erstenmal auf meiner Reise, daß ich der Möglichkeit einer Gefahr begegnete. Die Welt ist jetzt ja so fortgeschritten, daß man sich überall ohne Schießwaffen bewegen kann, ausgenommen vielleicht in den europäischen Großstädten zur Nachtzeit. Ach ja, was ist die Verbreitung der Zivilisation für ein Segen! – Man denke nur an den Kongoneger, den wilden und düsteren Menschenfresser, der heute so hübsch zum allgemeinen Besten im Dienst der Gummiindustrie wirkt.
Das erste, was ich erblickte, als ich von dem chinesischen Steward geweckt wurde und die Kabinenluke zur Seite schob, war schmutziggelbes Flußwasser, und mitten im Flußlauf ein uraltes chinesisches Fort mit uralten, gesprungenen Ziegelsteinmauern und Schießlöchern so groß wie Scheunentore. Es waren weder Kanonen noch Soldaten zu sehen. Ein kleiner freundlicher Hain von frühjahrsgrünen Bäumen breitete sich über den Mauern.
Hinter dem Fort glitt eine flache Küste vorbei, grün von fruchtbaren Reisfeldern, umkränzt von dem luftigen Schattenriß ferner Berge. Große Dschunken, deren hohe Achtersteven in Stockwerke geteilt waren, wie die ältesten europäischen Kriegsschiffe, fuhren langsam vorbei.
Da tauchten die gotischen Türme der französischen Kirche auf; sie überragen alles andere in der Stadt. Die Küsten rückten näher zusammen. Es wimmelte von Sampanen: breiten, flachen Booten mit einem runden Lattendach in der Mitte und am Achtersteven ein barbeiniger Kuli, mit langen, dünnen Rudern. Die Boote drängten sich in mehreren Reihen längs der Küste. Die innersten lagen fest, durch Brettergänge miteinander verbunden. Es waren keine Boote mehr, sondern fließende Wohnungen für die Armen der Millionenstadt. Über Hunderttausende in Kanton haben kein anderes Unterkommen.
Eine große Dschunke kam uns mit schnellerer Fahrt entgegen als die anderen, obgleich sie weder Segel, Ruder noch Dampf hatte. Im Achtersteven war ein Sprossenzylinder angebracht, der sich um seine eigene Achse drehte; inwendig war er mit wagerechten Tretstufen versehen. Dort drinnen gingen sechs Kuli und traten die Schute vorwärts. Über dem Zylinder saß ein alter Chinese unter einem flachen Sonnenschirmhut und prickelte die Trettiere mit einem Bambusstock zwischen den nackten Schultern.
Vor uns, mitten im Segelkurs, lag eine Flotte von Sampanen und blickte uns wartend entgegen. Wir gebrauchten die Dampfflöte; aber sie rührte sich nicht. Der Kapitän fluchte und flötete wieder. Sie bewegte sich nicht vom Fleck. Erst als er stoppen ließ und wir langsam auf die Mitte des Haufens zuglitten, löste er sich auseinander und manövrierte seitwärts, aber nur so wenig, daß unser Dampfer trotzdem so dagegen anprallte, daß es krachte und knackte.
Der Stoß verpflanzte sich von Rumpf zu Rumpf. Die Sampane, die dem Dampfer am nächsten lagen, hakten sich an der Schiffswand fest, wo eine schmale Perronkante unter der Reling hing. Das Schiff war wie gespickt mit ihren Bootshaken. Die vordersten Ruderer sprangen auf die Kante und versuchten auf das Fallreep hinüberzusteigen. Es war ein Winken und Schreien zum Zwischendeck hinauf, wo die chinesischen Passagiere zusammengestaut standen.
Es war der letzte Rest der Flüchtlinge, den die Amnestie zurückrief. Die Sampanflotte dort unten waren Anverwandte und Dienstboten, die die Heimkehrenden und ihr Gepäck in Empfang nehmen sollten. Sie konnten nicht warten, bis das Schiff am Bollwerk anlegte; denn dort stellten sich die Vertreter der Obrigkeit ein, und die Flüchtlinge legten keinen Wert darauf, registriert zu werden.
Ebenso schnell wie sie in ihre Boote zurückgestoßen wurden, ebenso schnell sprangen sie wieder hinauf; es waren ihrer viele gegen zwei Offiziere.
Da winkte der Kapitän. Kurz darauf erschienen einige Matrosen auf dem Oberdeck, mit Wassereimern in der Hand und einem breiten Lächeln auf dem Gesicht. Sie zielten sorgfältig. Jeder, der seinen Fuß auf die Perronkante setzte, bekam einen Eimer Wasser über den Kopf. Das half.
Das Schiff wurde klargemacht. Der Kontrolleur stellte sich neben die Falltür und nahm die Billette entgegen. Ein Offizier stand daneben und half Kindern und alten Leuten über die schmalen Gangbretter zu den Booten.
Es dauerte eine Stunde, bevor wir das Zwischendeck gelöscht hatten, klar von den Booten wurden und den Pier vor der Hafenstraße erreichten.
Ein Chinese in einer langen, himmelblauen Jacke, schwarzem Seidenkäppchen und Pulswärmern in den weiten Hängeärmeln stellte sich im Salon auf, mit einem Zettel in der Hand. Seine melancholischen Augen musterten uns Passagiere der ersten Klasse, die wir unseren verspäteten Morgenkaffee einnahmen, bevor wir von Bord mußten, geduldig. Es zeigte sich, daß der Zettel mein Telegramm an das Hotel war, worin ich um einen Führer gebeten hatte; denn Europäer können nicht allein in Kanton umherstreifen.
Ich las Mr. Ah-Ling alles vor, was ich zu sehen wünschte. Er nickte und notierte. Dann ging er an Land und erschien kurz darauf wieder mit zwei Tragbahren und drei Kulis für jede. Als die Kuli mich sahen, seufzten sie laut; ich wurde zu schwer befunden. Sofort stellte Nummer vier sich ein; er schien derjenige zu sein, der mein Gewicht beanstandet hatte.
Wir fuhren durch eine enge Hafenstraße, wo barfüßige Kuli auf Tonnen und Säcken saßen und bei ihrem Frühstück plauderten.
Dann bogen wir in eine enge, menschenleere Gasse ein, die so schmal war, daß ich beide Mauern gleichzeitig berühren konnte. Wir kamen an einigen offenen Toren vorbei, wo tief drinnen in halbdunklen Räumen Chinesen mit großen Brillen über Rechnungsbücher gebeugt saßen. An der Rückwand war der Altar der Vorfahren angebracht (wie er sich in jeder chinesischen Wohnung befindet): ein lackierter Schrein und ein sitzender, vergoldeter Gott zwischen Tafeln mit großen chinesischen Schriftzügen.
Wir bogen ab und befanden uns in einer lebhaften Handelsstraße, kaum zwei Meter breit und halbdunkel, wegen der vielen Laternen, die mit prangenden Reklamen über der Passage hingen.
Eine ununterbrochene Reihe von offenen Läden, wo die Verkäufer auf den Tonbänken saßen und ihre silbernen Pfeifen rauchten. Da waren Kolonialwarenhändler mit Graupen in Kummen, und Haufen von Bohnen und getrockneten Speisewaren, die an Bändern und Girlanden von der Decke hingen. Da waren Manufakturwarenläden, wo halberwachsene Chinesenjungen saßen und auf Singer-Nähmaschinen nähten, während ein glattrasierter Brillenträger Stoff an einer Bambusstange ausmaß. Da waren Läden mit ausgenommenen Fischen. Das Blut lag marmoriert auf dem hellen, durchsichtigen Fleisch. Ein Lehrling stand dabei und goß Wasser über die Waren, die die Vorübergehenden anlockten.
Ein schreiendes Schwein wurde zum Schlächter getragen in einem Netz, das zwei handfeste Kuli zwischen sich an einer Stange trugen.
Zwei Soldaten in Khakiuniformen, den Zopf unter der Mütze aufgerollt, standen vor einem Fruchtladen, Gewehr am Fuß, und schmatzten Apfelsinen.
Wir hielten vor dem Tempel »für ein langes Leben«. Eine Halle mit sechzig Puppen, die einen halben Meter hoch, in Holz geschnitzt und bemalt waren und einen angeklebten schwarzen Bart hatten. Jede von ihnen bezeichnete eines der sechzig Lebensjahre des Menschen und gleichzeitig eine von den sechzigjährigen Perioden des chinesischen Kalenders. Zusammen repräsentieren sie also 3600 Jahre. Fehlt einem Chinesen etwas, dann opfert er der Puppe, die sein eigenes Lebensjahr darstellt eine Räucherkerze; gleichzeitig erweist er aber auch seinem Vorfahren von der betreffenden Kalenderperiode eine Aufmerksamkeit, und wenn man das Glück hat, auf einen wohlwollenden Ahnen zu stoßen, weiß man nie, was die Räucherkerze einem einbringen kann; es ist wie eine Lotterie.
Wir kamen an einem Delikatessengeschäft vorbei, wo Konfekt in Reispapier, eingewickelt, verkauft wurde, getrocknete Haiflossen und Trepang. Letzteres sind Meerwalzen, die in geräuchertem Zustande in ganz Ostasien für einen Leckerbissen gehalten werden. Wir sahen, wie die eßbaren Schwalbennester präpariert wurden. Mit einer Pinzette wurden alle kleinen Federn herausgerupft, die sich in dem cremefarbigen Nest festgeklebt hatten, das die Form und Größe einer durchgeschnittenen Zitrone hat. Sie kosteten zwei Dollar das Stück.
Dann gelangten wir durch eine stille Gasse zur Stadtmauer. Sie ist zwölf Meter hoch, sieben Meter breit und von einem Graben umgeben. Wir folgten ihr eine Strecke und bogen dann durch eine Toröffnung, – dort lag das flache, reisgrüne Flußufer mit dem Schattenriß der fernen Berge vor unserem Blick.
Wir stiegen aus und betraten einen viereckigen, rasenbedeckten Hof, wo junge, kürzlich ausgesprungene Akazien in Mustern gepflanzt waren. Eine lange Mauer mit drachengeschmückter Zinne schloß den Hof ein. Unter dem Gesims lief ein Hochrelief aus grauem Lehm, das Märchenszenen aus Chinas Göttergeschichte, und Figuren darstellte, die Glück und ein langes Leben symbolisierten. Hirsche, Reiher, Löwen, Drachen, alles bis in die feinsten Details ausgearbeitet, wovon jedoch der Taifun ein Teil zerstört hatte.
Hinter der Mauer war ein zweiter, viereckiger Hof mit, Blumenrabatten, Rasenplätzen und baumhohen Oleandern. Die weiche Frühjahrsluft war mit dem Duft dieser großen, errötenden Doppelblumen gesättigt.
Wir standen in dem Ahnentempel einer weit verbreiteten, hochvornehmen Familie, der vor sechsunddreißig Jahren erbaut worden war. Die Längswand der Tempelhalle war in drei Altarnischen eingeteilt, die mittelste für die Rangältesten. Über jeder war ein Rahmen ausgespannt, in dem schmale, lackierte Holzschilder in parallelen Reihen übereinander saßen. Auf jedem Schild stand der Name eines Familienmitgliedes in vergoldeten chinesischen Schriftzügen. Die rotlackierten Schilder bezeichneten verstorbene Mitglieder, die weißen die noch lebenden. Es war mit anderen Worten die Stammtafel der Familie, die über dem Altar der Familie aufgehängt war.
Wir kamen zu dem uralten Tempel der fünf Weltgötter. Sie sitzen in Reih und Glied, jeder mit einem riesenhaften Meteorstein zu Füßen. Vier sind Götter für die Himmelsrichtungen, der fünfte für den Mittelpunkt der Erde, nämlich China.
Dann wurden wir hinter eine halbverwitterte Steinmauer, in den Garten eines längst heruntergerissenen Yamens, geführt.
Ein kleines Stück Urwald mitten in der geschäftigen Millionenstadt, den Geistern verstorbener Vizekönige zu Ehren gehütet, die sich dort aufhalten, wo ihre Körper ruhen. Mitten im Garten, von haushohen Gebüschen versteckt, lagen die Reste eines alten Teehauses. In einer Ecke an der Mauer war ein freier Platz geschaffen. Der Ort war von Engländern für einen Tennisplatz gemietet. Ah-Ling erzählte es mit Unwillen. Sie störten die Geister.
Wieder passierten wir die Stadtmauer und hielten vor dem Tor zu der »Stadt der Toten«, die an den Stadtgraben stößt, einen idyllischen Straßentümpel, in dem gefischt wird. Über dem Graben erhoben sich die verfallenen Mauern einer Stadtfestung. Aus einem Loch in der Mauer lugte der Hals einer Kanone heraus. Darüber ging eine Schildwache und guckte zu uns hinunter.
Die Stadt der Toten ist nur für Wohlhabende da. Davon zeugten die breiten, kiesbestreuten Wege, die prächtigen Blumenrabatten und das reingewaschene Äußere der Gärtner. Man konnte ihnen auf den ersten Blick ansehen, daß sie nur besseren Leichen dienten.
Die Grabstadt ist in Viertel eingeteilt, die durch Mauern mit zirkelrunden Toren voneinander getrennt sind. Längs der breiten Gartenwege liegen die Zellen der Toten, deren Türen nach vorne offenstehen. Jede Zellenwohnung ist nach den Mitteln des Verstorbenen ausgesteuert. Im Vorzimmer steht ein teppichbelegter Altartisch, mit Blumenaufsatz und Götterbildern geschmückt. Auf dem Tisch stehen Schüsseln mit Tee, gekochtem Reis und Früchte zum Unterhalt der Leiche. Die meisten Speisen sahen frisch aus; hier und dort aber waren die Apfelsinen schimmelig und die Birnen verfault. An einer Stelle waren sowohl Früchte wie Reis aus Pappmaché.
In dem Zimmer befinden sich außerdem kleine Tische mit Fächern, Kämmen, Büchern, alles zur Benutzung für den Toten. Ist es eine Frau, dann liegen ihre Toilettesachen auf dem Tisch und alle ihre Schmucksachen, die in Pappe und Flitter nachgemacht sind.
Zu jeder Seite des Altars ist ein Eingang zum Schlafzimmer. Hier steht der Sarg an der Scheidewand. Am Kopfende befindet sich ein Gefäß mit Wasser und Seife, eine Zahnbürste in einem Glas, und ein Handtuch hängt überm Stuhl.
Es ist alles getan, damit der Verstorbene ein standesgemäßes Leben führen kann, während er auf sein Grab wartet. Wie lange er in der Stadt der Toten liegen wird, weiß weder er noch seine Hinterlassenen. Das beruht allein auf dem Wahrsager, der von der Familie engagiert wird, um den besten Begräbnistag und günstigsten Ruheort ausfindig zu machen. Wenn es sehr vornehme Leute sind, können Jahre darüber hingehen, und die Wahrsager werden im Verhältnis zu den Schwierigkeiten honoriert. In der Wartezeit bekommt der Verstorbene Besuch von seinen Nächsten, deren Aufgabe es ist, ihn standesgemäß zu ernähren.
In einigen Kapellen waren die Eß- und Toilettschalen leer. Das sind Verstorbene, deren Familien zeitweilig außerstande sind, für sie zu sorgen. In einem dunklen, unheimlichen Raum stand eine Reihe Särge zusammengestaut, Leichen, die bessere Tage gekannt hatten, deren Hinterbliebene aber in solch große Armut geraten waren, daß sie nicht einmal mehr die Miete für die Verstorbenen bezahlen konnten.
Ah-Ling erzählte es schaudernd. Den Unterhalt seiner Toten versäumen, war offenbar die größte Schuld, die er kannte.
Der Tempel der Schrecken ist ein verwittertes Gotteshaus mitten in der Stadt, Jahrtausende alt. Der viereckige Hof gleicht einem Jahrmarkt. Da sind Schicksalsdeuter, die vor Schemeln hocken. Da sind Zahnauszieher, die ausgezogene Zähne wie ein Schild in offenen Schalen vor sich liegen haben. Da sind Verkäufer von Räucherkerzen und Reispapier.
Dann sind da eine Reihe Abteilungen, wo man über ein niedriges Gitter in die verschiedenen Grade der Hölle blickt. Davor stehen viele junge Chinesen, die sich mit nachdenklichen Augen einprägen, was man im Jenseits zu zahlen hat, wenn man lügt, stiehlt, mordet, die Götter verhöhnt. Alles ist teuer. Nicht eine einzige kleine billige Lüge ist darunter.
An einer Stelle sieht er, wie ein Mann in einem Topf mit Öl gekocht wird, während grinsende Teufel das Feuer unter dem Topf schüren. Dort liegt ein Bedauernswerter zwischen zwei bösen Engeln ausgestreckt, die ihm mit einem Korkzieher das Herz aus dem Leibe schrauben. Ein anderer wird auf einem Schlächtertisch in saubere kleine Stücke zerhackt. Ein anderer wird langsam unter einer Riesenglocke totgeläutet.
Bettler liegen auf jeder Stufe und zeigen gebrochene Glieder oder offene Wunden. Mir wurde schließlich übel und ich eilte hinaus.
Nach diesem Vorgeschmack wirkte der berühmte Töpfermarkt nicht so kräftig, wie er sonst wohl getan hätte. Es ist ein enger Platz zwischen Mauern und Häusern, der in ein spitzes Dreieck ausläuft. Längs der Mauer, links, stehen Lehmgefäße in Reihen übereinander; aber mitten auf dem Platz, in der mit Scherben gemischten Erde, liegen die geronnenen Reste des menschlichen Lehms, den der Töpfer eben gesondert hat.
Ich trat an den Mann heran und fragte ihn aus. Es war das Blut von einigen Köpfen, die der glücklich beendigten Spielrevolution zum Opfer gefallen waren; sie waren gestern abgehauen worden.
So kniet das Opfer, so wird der Kopf am Zopf nach vorn gezogen, der zur Feier des Tages eine neue Schleife bekommen hat. So wird das Schwert mit beiden Händen hochgehoben und so – tju! – fällt es auf die Nackenhöhle und trennt mit einem Schlage den Kopf vom Rumpf.
Einer der allerliebsten kleinen Jungen des Henkers lief fort, um das Schwert zu holen, als ich darum bat. Ich hielt es in meiner Hand; eine flache zweischneidige Stahlklinge von einem halben Meter Länge, mit einem Handgriff, der von jahrelanger Hantierung blank war. Es war schwer, scharf, lief spitz zu und wurde in einer schmutzigen Pappschachtel aufbewahrt.
Der Henker selbst war ein sechzigjähriger spindeldürrer Menschentöter, mit einem kahlen Kopf wie ein Aasgeier. Er hatte nur noch einige spärliche Strähne im Nacken, einen Zopf konnte ich nicht sehen. Es lag eine würdige Ruhe auf seiner Gesichtshaut, die trocken und hart wie Leder war.
Seine Hand ruhte liebevoll auf dem Kopf des Kleinen, während er von den schlechten Zeiten sprach. In der letzten Woche sei das Geschäft allerdings ganz gut gewesen, dank der Revolution aber sonst – du lieber Gott! Es war nicht mehr wie in alten Zeiten, wo ein Diebstahl einem den Kopf kostete. Hätte er in dem reichen Erntejahr des Boxeraufstandes nicht etwas zurückgelegt, dann würde er seine Jungen nicht standesgemäß erziehen können.
Das Köpfen ist nämlich ausschließlich Akkordarbeit. Die Taxe ist 25 Cent per Kopf. Vierteilung bringt etwas mehr ein, wird aber seltener und seltener; man kann kaum mehr damit rechnen.
Er seufzte aus tiefem Herzen über die schlechten Zeiten. Er war ein human gebildeter Mann, der von berufswegen mit Leuten aller Stände verkehrt hatte. Dennoch konnten seine bleichen Augen das tiefe Mißfallen nicht verbergen, das er für europäische Kultur hegte.
All unser Unglück – sagten sie – rührt von euch zopflosen Hosenmenschen her. Früher war es ein Leichtes, sein Leben zu fristen, indem man anderen Leuten das Leben nahm. Euer Vorurteil hat mir mein Handwerk verdorben.