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Japan ist ein moderner Staat mit Parlament und Diäten. Es wimmelt von Beamten und Uniformen. Der Mikado stammt in gerader Linie von der Sonnengöttin ab und ist selbst ein Gott. Das Volk vermehrt sich nach Regeln, die auch bei Kaninchen und Ratten gelten. Das ist die gelbe Gefahr. In zweihundert Jahren hält der Sohn des Himmels Militärparade »Unter den Linden« ab.
Der Mikado ist selten zu sehen Der jüngst verstorbene Mikado.. Er ist ein älterer Mann mit verschiedenen menschlichen Schwächen, über die ein Japaner sich ungern äußert. Er möchte uns im Gegenteil einbilden, daß er der Sohn des Himmels selbst sei, der dem Reich all die modernen Segnungen geschenkt hat: preußisches Militärwesen, Eisenbahn, Telegraph. Er ist es, der die Russen geschlagen und sich mit den Engländern verbunden hat. Marquis Ito, Admiral Togo und die in Europa bekannten Generale sind nur Strahlen seiner Sonne.
Dagegen sieht man auf allen Regierungsgebäuden das kaiserliche sechszehnblättrige Chrysanthemum, das man beileibe nicht nachmachen darf. Es gibt Chrysanthemumwappen genug, aber nur mit fünfzehn Blättern. Sechzehn sind eine Majestätsbeleidigung.
Das Residenzschloß liegt in Tokio. Hinter einem breiten Festungsgraben erhebt sich eine hohe Mauer von unregelmäßig behauenen Riesensteinen, über die Kiefern- und Kampferbäume ragen; Häuser aber sieht man nicht. Der Schloßpark ist der Kern der Stadt. Gesandtschaftsvillen, Regierungskontore und was es sonst an vornehmen Gebäuden gibt, stoßen an den Wallgraben.
Wenn die berühmten, doppeltgefüllten Kirschbäume des Kaisers Ende April in Blüte stehen, gibt er seine vielbesprochene garden party. Zugereiste erhalten durch die Gesandtschaft eine zierliche Einladung mit dem kaiserlichen Chrysanthemum geschmückt. Die Toilette ist auf Einladung vorgeschrieben: Vormittagsdreß mit Zylinder.
Wir freuten uns alle sehr darauf, und die Enttäuschung wurde darum groß.
Es war ein kalter, windiger Frühlingstag. Aus dem überfüllten Yokohamazug stürzten sich Uniformen, Zylinder und Damen auf die Rickschas, die in Reih und Glied unter Polizeiaufsicht warteten. Dann ging es im Wettrenntrab an einem Kanal entlang. Der Wind blies durch Damenhüte und Frisuren. Boas flogen um die Wette mit Federbüschen auf Generalshelmen. Die Sonne blitzte in dem Gold der Paradeuniformen. Kleine stramme Polizisten standen vor dem zusammengestauten Tokiovolk. Straßenjungen hingen an den Laternen und rissen Witze. Das alles berührte mich unendlich heimatlich. Dann ging es über eine Brücke zu dem kaiserlichen Tor, und über ein Glacis zum Eingang des Parks, wo man ausstieg.
Ein goldstrotzender Hofbeamter nahm die Karten entgegen. Einige Schritte weiter standen zwei Kammerjunker und musterten den Anzug. Ich sah, wie ein Überzieher zurückgewiesen wurde, obgleich der Besitzer ihn mit Alter und Schwächlichkeit begründete. Hinter den Kammerjunkern eine lange Reihe Lakaien in Kniehosen, weißen Handschuhen und Strümpfen als Staffage.
Wir spazierten auf breiten Kieswegen durch einen Park in englischem Stil. Ein Kanal rechts trennte den privaten Inselgarten des Mikados von dem übrigen. Dann kamen wir zu den Kirschbäumen. Es waren alte, verkrüppelte Bäume, die im Winde knarrten und knackten. Aber den errötenden Blumenschnee, dem zu Ehren wir eingeladen waren, sahen wir kaum.
Das Frühjahr war zeitig gekommen und der Wind der letzten Tage hatte die Blütenwolken weggefegt. Nur die flatternden Zipfel eines zerrissenen Tuches waren noch übrig geblieben. Auf den Wegen aber lag ein Schnee von Blumenblättern, und an geschützten Stellen war das Gras weiß.
Ein Militärorchester spielte. An einem Kreuzweg stauten sich die Gäste zu beiden Seiten des Rasens und bildeten eine offene Passage. Die Unterhaltung verstummte. Die Damen nestelten an ihrer Toilette, die Zylinder bekamen einen letzten Ruck. Man stand auf den Zehen und reckte die Hälse, um über den Kopf des Diplomaten an der Tete hinwegzusehen. Die Erwartung auf den Sohn des Himmels war groß.
Wir warteten und warteten. Es wehte kalt und die Sonne stach. Da plötzlich verstummte die Militärmusik. Die Kapelle entfernte sich, die Sonne blitzte in den goldenen Trompeten auf einer hochgewölbten Brücke. Die Diplomaten setzten sich würdevoll in Bewegung. Die Passage vor uns schloß sich, und die Erklärung lief durch die Reihen.
Der Sohn des Himmels wagte es nicht, seine Gesundheit und die der Kaiserin dem launenhaften April auszusetzen. Nicht mal ein Prinz aus dem Geblüt der Sonne wagte sich in den Wind hinaus.
Hier standen wir und waren betrogen. Mit beiden Händen hielten wir unsere funkelnagelneuen Zylinder fest – ich hatte dreißig Schillinge für meinen gegeben – und mußten mit langen Nasen abziehen. Es wurde in allen Sprachen geflucht. Es wurde auch philosophiert. Seht den Sohn des Himmels – mehrere notorische Milliardäre vermag er in seinem Garten zu versammeln, aber dem launenhaften April während einiger Vormittagsstunden Einhalt zu gebieten und die Blüten an ihren Stengeln festzuhalten, wenn sie vorgezeigt werden sollen, das vermag er nicht.
Etwas wurde unsere Mühe aber belohnt. Als wir glücklich über die gewölbte Brücke gekommen waren, gelangten wir zu einer Lichtung im Park, wo Hunderte von kleinen Tischen gedeckt standen. Auf jedem stand eine Flasche Bordeaux und eine Flasche Champagner. Hinter den Tischen erstreckte sich eine offene Halle. Das war das Büfett mit allem, was in Europa zu einem erstklassigen kalten Büfett gehört. Hinter dem Tisch standen Lakaien und bedienten.
Alles, was da war, war vorzüglich und reichlich. Im Laufe von zehn Minuten wurden Tausende von Menschen versorgt. In Wind und Sonne wurde gegessen und getrunken, mit gutem Humor und in einer hübschen Dekoration von Kiefern- und Kampferbäumen.
Es war eine wundervolle Sammlung von Zylindern da. Hüte in allen Regenbogenfarben; Hüte, die über die Ohren hingen oder auf drei Haaren balancierten, wie bei Zirkusklownen. Ich sah einen »wirklichen« Geheimrat mit einem Chapeau-bas, der wie ein Reklameschild für Ofenschwärze glänzte; er war ihm viel zu groß, der Rand war schief und die Feder ragte durch den KopfdeckeI. Und die zivilen Eingeborenen – deren Kopfbedeckung war erst recht märchenhaft! In Tokio scheint es Vermieter zu geben, die Europas alte Hüte aufkaufen; denn vor 1868 hat sicher kein Japaner einen Zylinder getragen; hier aber gab es hundertjährige.
Es war interessant, die aus dem Russenkriege berühmten Admirale mit den barschen Ziegenbockgesichtern zu sehen. Sie saßen an einem reservierten Tisch und ließen sich betrachten.
Das Erlebnis des Tages aber war, die eingeborenen Beamten essen zu sehen. Das vergißt man in seinem ganzen Leben nicht. Sie kamen vom Büfett mit einem Teller in jeder Hand. Aal in Gelee, Hummer mit Mayonnaise, italienischer Salat, Rebhuhnpastete, Schichttorte – ohne Rücksicht auf die Zusammensetzung, war der Teller mit einem Berg bis zum Rande gefüllt, so daß der Daumen bedeckt wurde. Sie fingen hübsch mit Messer und Gabel zu essen an, endeten aber schließlich mit den Fingern. Ein Engländer, der in Yokohama ansässig war, erklärte entschuldigend, daß sie einige Tage vorher, in Erwartung des herrlichen Gratis-Essens, hungerten. Zwei Lakaien schleppten einen armen, halbtoten Tropf fort. Er hatte aus Unwissenheit zuerst Champagner und Bordeaux in seinen leeren Magen gegossen.
Die scharfe Trennung zwischen den Ständen ist ein Überbleibsel aus der Lehnszeit. Da ist der Adel mit Fürsten, Marquis, Grafen, Vicomten und Baronen. Außerdem die Samurai, Nachkömmlinge der alten Kriegerkaste; sie entsprechen »der gebildeten Klasse« in Europa, aus der Beamte und Offiziere hervorgehen. Sie genießen das alte Vorrecht Harakiri, das heißt das Recht,« ihr eigener Henker zu sein.
Ein moderner Samurai ist kein sympathischer Anblick. Er hat die Züge seiner Rasse in Reinkultur. Das schwarze, struppige Haar, die niedrige, breite Stirn, die dünnen Augenbrauen über stechenden, braunen Augen, mit einem harten und höhnischen Ausdruck. Ist er mit Europäern zusammen, bläht er sich auf und tut, als ob er sie nicht sieht; die Augen aber lauern auf jede Bewegung, ob da vielleicht noch etwas ist, was er ihnen nicht abgeguckt hat. Er kopiert, und er übertreibt. Er hat lange Manschetten, übertrieben hohe Kragen, goldene Brillen, grellfarbige Schlipse und Zigaretten, die viel zu groß sind für seinen kleinen runden Mund. Dennoch verachtet er im Grunde seines Herzens den Europäer, verachtet ihn wegen der Humanität seiner Kultur. Das Christentum, das in Japan stark missioniert, hat sicher keinen einzigen Anhänger zwischen den Samurai.
Hemin ist das gemeine Volk, die Massen. Unter ihnen steht der Bauer am höchsten, dann kommt der Handwerker, am tiefsten steht der Händler; zu ihnen gehört die frühere Pariaklasse, die verachteten Eta, wie Gerber und Totengräber. Daß der Handelsstand am niedrigsten auf der Rangstufe steht, erklärt, daß man überall Unvorteilhaftes über japanische Geschäftsleute hört. Europäer in Yokohama betrachten sie als unzuverlässig, rücksichtslos und geben ihnen nur notgedrungen Kredit. In China ist das Verhältnis umgekehrt. Der chinesische Kaufmann erfüllt seine Verpflichtungen gewissenhaft und hat lange Kredit. In China gehört der Handelsstand zur Oberklasse; daher der Unterschied.
Die größte japanische Dampfschiffsgesellschaft Nippon-Yusen-Kaischa hat erstklassige Dampfer in allen Weltteilen. Anfangs hatten sie lauter europäische Offiziere. Jetzt sind nur die Kapitäne europäisch ausgebildet. In einigen Jahren werden auch sie abgelöst sein. Auf dem Dampfer, mit dem ich von Nagasaki nach Australien fuhr, machte der Kapitän seine letzte Reise. Nach langjährigem Dienst war ihm kurzerhand gekündigt worden.
So erging es auch einem jungen englischen Ingenieur, den ich an Bord kennen lernte. Er war nach Söul gekommen, nachdem die Japaner Korea annektiert hatten, mit dem Auftrag, der Hauptstadt ein Wasserwerk zu geben. Es war lauter Freundschaft und Ehrerbietung. Das Gehalt war gut und die Zukunft strahlend. Er wollte schon seine Braut hinüberkommen lassen, Direktor der Wasserwerke in einer großen Stadt ist ja eine hübsche Stellung für einen jungen Mann. Nachdem das Werk fertig und der Dienst organisiert war, wurde ihm gekündigt. Jetzt konnten die Japaner es selbst. Arbeitslos und den heimatlichen Chancen entfremdet, kehrte er in das alte Land zurück, mit Flüchen gegen die kleinen Gelben geladen.
Eine der hervortretendsten japanischen Charaktereigentümlichkeiten ist die Höflichkeit. Die Japaner sind das höflichste Volk der Welt. Sie können nicht grüßen, ohne sich tief zu verneigen, nicht sprechen, ohne zu lächeln, natürlich nur Gleichgestellten und Höheren gegenüber. Das ist ihnen ins Blut und in die Sprache übergegangen. Sie haben keine verneinenden Ausdrücke, denn es ist nicht höflich, Leuten zu widersprechen. »Nicht«, »niemals«, »nichts« wird durch eine besondere Verbform ausgedrückt. »Es ist« heißt aru, wenn man mit Kulis oder solchen spricht, die nicht mitzählen. Zu Leuten, die aus demselben Stand oder höher sind als man selbst, sagt man arimasu. So ist es mit allen Zeitwörtern in der Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft, sie haben zwei Endformen, eine fürs Volk, eine für feine Leute.
Ich hörte eine Unterhaltung zwischen zwei Frauen mit an, die sich vor einer Straßentür in Tokio begegneten. Sie trugen beide einen Säugling in ihrem Rückenschal. Als sie einander ansichtig wurden, verbeugten sie sich so tief, daß ihre Körper wagerecht standen, während sie mit der linken Hand das Kind festhielten, damit es ihnen nicht über den Kopf rutschen konnte. In dieser Stellung begannen sie das Gespräch. Keine wollte die erste sein, die sich aufrichtete. Schließlich taten sie es gleichzeitig; und kaum waren sie halbwegs oben, als eine neue höfliche Vorfrage des einen Teils eine neue Winkelbiegung hervorrief.
Mein Begleiter, ein englischer Seidenhändler, übersetzte mir das Gespräch. Es lautete so:
Frau A.: Sie wissen nicht, wie froh ich bin, daß ich an Ihren geehrten Augen hängen darf.
Frau B.: Es ist mir ein wahres Vergnügen, dieser ehrenvollen Begegnung gewürdigt zu werden.
Frau A.: Gestatten Sie mir eine ehrerbietige Frage nach Ihrer geehrten Gesundheit.
Frau B.: Mit Ihrer Erlaubnis befinde ich mich recht wohl. Gestatten Sie mir gütigst zu hoffen, daß Ihr geehrtes Ich sich im besten Wohlsein befindet.
Frau A.: Ich danke aufrichtig für Ihre freundliche Nachfrage, ich befinde mich in aller Bescheidenheit wohl. Und wie geht es Ihren erhabenen Eltern?
Frau B.: Besten Dank, sie führen ihr armes Dasein in aller Bescheidenheit glücklich und zufrieden. Und wie befindet sich Ihr geehrter Herr Bruder?
Im Hotel in Kobe war Jahresversammlung der Reisbauer der Umgebung. Es war eine Agrarierversammlung von ungefähr vierhundert Gutsbesitzern im Sonntagsstaat. Am Eingang stand das Komitee, fünf Herren im Gehrock, die die Mitglieder empfingen. Die meisten kamen in dem nationalen, grobgestreiften, dunklen Kimono mit weiten Ärmeln und Gürtel. Die Hüte aber waren alle europäisch, Strohhüte, steife und weiche Filzhüte, alte Zylinder. Dieser und jener trug Rock und Schlips. Das Fußzeug bestand aus den Holzsandalen, die ich schon beschrieben habe.
Sie kamen zu zweien und dreien. Kaum waren sie durch die Hoteltür, als auch schon das Lächeln hervorsprang. Alte runzlige Bauern zeigten alle ihre Zahnstummeln. Die Herren des Komitees erwiderten das Lächeln. Dann wurden alle Köpfe in wagerechte Stellung gebracht, worin sie verblieben, während man sich aus den Augenwinkeln anschielte, bis alle Begrüßungen ausgesprochen waren und der Vornehmste sich aufgerichtet hatte.
Wir saßen in den bequemen Lehnstühlen der Halle und genossen das Schauspiel. Die armen Komiteeherren arbeiteten, bis ihnen der Schweiß aus der Stirn brach und das Lächeln zu einer bösen Grimasse wurde. Man konnte ihnen ansehen, wie der Rücken sie schmerzte. Gegen Schluß vermochten sie ihn nicht mehr aufzurichten.
Hinterher taten wir einen Blick in den Festsaal. Diese Ackerbauer, die im täglichen Leben mit hochgezogenen Beinen auf einer Matte sitzen und Reis mit Stäbchen in den Mund schaufeln, saßen hier hübsch auf Bänken und übten sich mit Messern und Gabeln. Es war alles nach besten europäischen Mustern. Ein Präsident, mit einem Chrysanthemum im Knopfloch, eröffnete das Festmahl mit einem Toast auf den Mikado. Er wurde stehend angehört und mit Klatschen belohnt. Dann setzten Reden und Tischgesänge ein, während die Gerichte und der Reiswein hinabglitten.
Die Japaner lieben Visitenkarten. Sie teilen sie freigebig aus und verlangen sie auch von den Europäern. Was sie sich auch mit Vorliebe angeeignet haben, sind öffentliche Erinnerungszeichen für nationale Siege. Überall auf öffentlichen Plätzen stehen geraubte russische Kanonen. Im Tempel auf der Insel Miyajima war eine Sammlung Gemälde, die den Untergang der russischen Flotte und die Kämpfe um Port Arthur verewigten. Wunderbare Ölbilder mit angestrebter Perspektive nach Vorbildern von Kriegsgemälden in Versailles und Berlin. Auch hier war der Feind klein, schielend und mürrisch, während der Japaner großzügig, mit offener Stirn und von der Sonne bestrahlt war.
Der Japaner ist von Natur munter. Er geht forsch vor und hält nicht inne, bevor er erreicht hat, was er will. Er versteht es meisterhaft, sich ein abgegrenztes Ziel zu stecken und es gibt keine Schwankungen und kein Übers-Ziel-Hinausschießen, während er kämpft. Hier kann der Durchschnitts-Europäer, der von unzähligen Kulturrücksichten zersplittert wird, die er nicht beherrscht, viel lernen. Als Arbeiter ist der Japaner energisch, rücksichtslos und ausdauernd. Sein Tempo ist amerikanisch; dabei ist er aber genügsam. Der Chinese, von dem er seine Religion, seine Schriftzüge und so vieles andere entliehen hat, ist vielleicht noch fleißiger als er; er ist niemals untätig, kennt nicht die unzähligen Festtage des Japaners; sein Tempo aber ist die stille Emsigkeit, die ununterbrochene, niemals überhastete Gangart des Lebens selbst. Chinesen ähneln alten Männern, wenn sie arbeiten; Japaner sind wie Kinder mit einem neuen Spielzeug.
Und sie können sich wie Kinder freuen. Ihr beständiges Lächeln ist sicher ein Zugeständnis an die Jugend und Lebensfreude. Der Zweitkommandierende an Bord war ein dreißigjähriger Mann mit ernsten Augen, bis in die Fingerspitzen hinein mit der Verantwortung seines Amtes geladen. Wenn ich auf dem Kapitänsdeck meine Morgengymnastik machte, kam er im bloßen Hemd mit seinen Goldfischen aus der Kajüte, goß frisches Wasser ins Bassin, fütterte sie mit Weißbrotkrümeln, schwatzte mit ihnen und freute sich über sie wie ein Kind. Wir befreundeten uns bei seinen Goldfischen.
In dem großen Tempelpark von Nara wimmelt es von zahmem Wild, und dort sind Kuchenfrauen, die davon leben, Roggenkakes zum Füttern der Tiere zu verkaufen. Junge und Alte verbringen ihre Freizeit unter den ehrwürdigen Kryptomerien damit, die Tiere an sich zu locken, zu füttern, zu streicheln und mit ihnen zu spielen. Die jahrhundertalte Volkspoesie des Japaners ist voll von Naturfreude.
Eine andere hervorragende japanische Eigenschaft ist die Wißbegierde. Sie ist es, die den Grund zu dem modernen japanischen Märchen gelegt hat. Sie existiert in allen Tonarten: wissenschaftlicher Kenntnisdurst, praktisches Nützlichkeitssuchen, einfache Neugierde; und die Japaner scheuen kein Mittel, sie zu befriedigen. Sie sind naseweis.
Mit einem deutschen Reisegefährten fuhr ich zu einem großen Tempel außerhalb Kiotos. Wir versuchten vergeblich, uns nach dem Plan des Reisebuches zurechtzufinden. Da erklang eine Stimme hinter uns: »what do you want?« – Ein junger Bursche aus der gebildeten Klasse zeigte uns den Weg zwischen den Tempelsäulen. Wir verabschiedeten ihn, er aber folgte uns getreulich und erklärte uns in höchst mangelhaftem Englisch alles, was wir sahen. Er fragte, ob es richtig sei, was er sagte, und dankte, wenn wir ihn verbesserten. Schließlich wurde er uns lästig und wir gaben ihm zu verstehen, daß wir uns selbst helfen könnten. Er sah enttäuscht aus, folgte uns trotzdem und war wenige Minuten später wieder zur Hand. Als er von neuem abgewiesen wurde, ging ihm ein Licht auf. Er wolle gar kein Trinkgeld haben; er sei nur ein Student, der sich in der fremden Sprache übe.
Und dann die japanische Reinlichkeit.
Ein japanisches Zimmer mit seinen Papierwänden, seinen Matten, Schiebetüren, Tischschemeln, alles glänzt vor Sauberkeit. Die Kinder sind reingewaschen und gekämmt. Der Garten ist gefegt; die schmalen Wege, von verschieden geformten Steinen eingefaßt, sehen aus, als seien sie eben erst mit Grant bestreut worden. Steine und Grotten werden wie Möbel abgestäubt.
Jeder Japaner nimmt des Morgens ein Bad zwischen 32 und 34 Grad Réaumur; er bleibt nur einen Augenblick im Wasser. In japanischen Hotels wird dasselbe Badewasser von mehreren Gästen nacheinander benutzt; der, der zuerst kommt, hat das Vorrecht, und es wird als unpassend betrachtet, wenn man Seife gebraucht. In ländlichen Gastwirtschaften geht man gleichzeitig ins Wasser, häufig ohne Rücksicht auf die Geschlechter. Diese gemeinsame Baderei ist meines Wissens das einzige Aber bei dem japanischen Reinlichkeitssinn.
Der japanische Frauentyp ist uns bekannt. Dennoch ist man überrascht, wenn man die Japanerin in ihrem Milieu sieht. Sie ist klein; aber sie ist nicht zierlich und puppenhaft. Die Durchschnitts-Japanerin hat ein neugieriges Gesicht mit frischen Farben; ihre Augen geben gut acht, sie kann über jede Kleinigkeit lachen. Ihr unbedeckter Kopf mit den schwarzen Haaren, die in einem hohen Kamm über der Stirn aufgesteckt sind, guckt aus dem faltenreichen Kimono heraus wie ein Schildkrötenkopf aus dem Rückenschild, in den sie vom Kopf bis an die Knöchel eingewickelt ist. Ihre Figur macht trotz der Schmächtigkeit einen plumpen Eindruck. Daß ihr Gang häßlich ist, liegt an den hohen Holzsandalen, auf denen sie herumtrippelt. Sie hat kurze, breite Hände an festen Gelenken. Es ist amüsant, zu sehen, was sie schaffen kann, wenn sie arbeitet.
Der Landtyp ist nicht unähnlich dem, den man in Rußland und Südeuropa findet. Derb, frisch, handfest, einfältig, mit weit offenen Sinnen, dicht am Herzen der Natur; Kindergebärerin, Amme, Arbeitsgenossin und glücklich. Das ist überall dasselbe.
Daß das Zerbrechliche, Porzellanpuppenhafte, das Europa bewundert, dennoch das japanische Frauenideal ist, sieht man an den Geschas, dem Kunstprodukt, das zur Erbauung der Männer produziert wird, – und an den vornehmen jungen Mädchen.
Ich sah, wie ein kleines adliges Fräulein auf einer Landstation aus einem Separatkupee gehoben wurde. Eine stattliche Tragbeförderung erwartete sie, um sie zu ihrem heimatlichen Gut zu bringen. Sie trug einen hellblauen, großblumigen Kimono. Das schmächtige Gesichtchen war weißgemalt, die Lippen tief rot gefärbt und zu einer Beere gerundet; der Bogen der Brauen war mit einem feinen Tuschstrich über den tiefgesenkten Augen gezogen. Ich bekam nur einen Schimmer von ihrem Gesicht zu sehen. Als man sie aus dem Kupee gehoben hatte, wurde sie gleich von einem ungeheuren Sonnenschirm beschattet, während ein Diener auf der anderen Seite ihr Kleid von der feuchten Erde hob. Sie bewegte sich mit kleinen, langsamen Schritten vorwärts, als sei sie im Begriff ohnmächtig zu werden, vorn und hinten und seitwärts von Dienerschaft umgeben, die sie vor der Mitwelt verbargen.
Ich fragte einen Japaner, der gleich mir neugierig aus dem Kupeefenster guckte, ob sie krank sei. Er sah mich erstaunt an.
»Nein,« sagte er, »sie ist sehr vornehm.«
Es war das zarteste und gebrechlichste Stück japanischen Porzellans, das ich je gesehen, und sie bewegte sich ganz wie eine mechanische Puppe.
Kurz darauf sah ich bei einem Buchhändler ein Bilderbuch für Mädchen besserer Stände. Drei junge Mädchen saßen in einer Reihe; die eine hielt die Hände vor den Augen, die andere vor dem Mund, die dritte vor den Ohren. Darunter stand auf japanisch und englisch: »Mother says, I must neither talk, listen nor look.« – Dieses junge Mädchen, das weder sprechen, hören noch sehen darf, hatte ich auf jener Landstation gesehen. Sie war sicher eine gute Partie.
Die Gescha ist die Japanerin, die zum Zeitvertreib ausersehen ist, aber ein unschuldigerer Zeitvertreib, als man sich allgemein in Europa vorstellt. Es sind meistens elternlose Kinder, die von Angehörigen für diese Stellung ausersehen werden. Schönheit oder besondere Begabung sind nicht erforderlich, wenn sie nur gesund und gut gewachsen sind. Von ganz klein auf werden sie in die Geschaschule geschickt, wo sie nach jahrhundertalter Methode erzogen werden. Sie lernen lesen, rezitieren, singen, auf der japanischen Gitarre spielen; sie lernen jeden Teil ihres Körpers nach den minutiösesten Anstandsregeln bewegen; allein das Spiel mit dem Fächer ist eine Kunst, die graziöseste Kunst, die das Mienenspiel ersetzt; denn das gemalte Puppengesicht ist und soll eine Maske sein. Mit dem Fächer werden in den mimischen Tänzen so zarte und flüchtige Stimmungsschwankungen gezeigt, daß ein europäisches Gemüt zu grob ist, um davon bewegt zu werden – ebenso wie ein Schmetterlingsflügel unter dem Kuß zarter Luftwogen zittert, die die menschliche Wange gar nicht spürt. Sie werden in der Kunst, Blumen zu ordnen und in den ererbten Teezeremonien unterrichtet.
Die Zubereitung und Servierung von Tee ist in Japan eher ein Kultus als eine Kunst. Sie geht mit einem vorgeschriebenen Apparat von Kesseln, Schöpfgefäß, Teebehälter, Teetopf, Teesieb vor sich, in einer bestimmt geordneten Reihenfolge mit genau abgemessenen Handbewegungen, und einem feierlichen Ernst, der der Zeremonie ein Gepräge von religiöser Handlung gibt. Es ist, als ob man einem Meßopfer in einer katholischen Kirche beiwohnt.
Es existiert eine ganze japanische Literatur über die Teezeremonie, die bereits im sechzehnten Jahrhundert eine selbständige Kunst war. Einer von den ersten, der sie ausübte, war Senno-Rikyu. Als er dem Fürsten, mit dessen Hof er verknüpft war, seine geliebte Tochter verweigerte, bekam er Befehl, Harakiri zu begehen. Er zog sich in sein Teezimmer zurück, machte eine letzte Tasse Tee und band ein Bukett nach allen Regeln der Kunst, dichtete ein Lied zu Buddhas Preis und schlitzte sich mit dem kostbaren Messer, das der Fürst ihm geschickt hatte, den Bauch auf.
Außer der vollständig ausgebildeten Klasse der Geschas – wirklichen Künstlerinnen, deren Aufgabe es ist, für ein festgesetztes Honorar die Unterhaltung bei öffentlichen und privaten Festen der vornehmen Welt zu besorgen, gibt es niedrigere Grade bis herab zu dem, was man im nordischen Mittelalter »Stadtmädchen« nannte.
Es gibt Geschas in jeder Stadt, selbst in der kleinsten. Sie fehlen bei keiner japanischen Gesellschaft; und keine Dame nimmt Anstoß an ihrer Anwesenheit, aus dem einfachen Grunde, weil japanische Damen überhaupt nicht am Gesellschaftsleben teilnehmen. Beim Fest der Reisbauern, von dem ich erzählt habe, hallte das Hotel von ihrem Gezwitscher und Miauen wider, als die angeheiterten Agrarier vom Bankett kamen. Die Geschas plauderten und lachten und setzten sich den Bauern auf den Schoß. Die Mädchen waren von amtswegen da, vom Komitee bestellt, wie es sich gehörte. Es war nichts Anstößiges in ihrem Wesen. Sie waren wie spielende, lebensfrohe Kinder, obgleich aus Anzug und Manieren deutlich zu ersehen war, daß sie der Unterklasse der Geschas angehörten.