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Ein Tag und eine Nacht in Damaskus

Wir biegen seitwärts in eine lange Straße ein, die wie eine Eisenbahnhalle überdacht ist. Das ist der größte Basar in Damaskus. Eine tiefe, halbdunkle Perspektive von handelnden, kaufenden, promenierenden Menschen, schwarzen Lastträgern, schwerbeladenen Eseln, heimatlosen Straßenreinigungshunden. Nicht neu für den, der aus Konstantinopel und Beyrut kommt, nicht so bunt und lebendig wie der Basar in Kairo. Hin und wieder halten wir still, um Kamele oder einen vornehmen Türken in seiner Staatskarosse passieren zu lassen.

»Dies ist der berühmte, gerade Weg‹, den der Apostel Paulus wanderte«, erklärt mein Führer mit feierlichen Augen »Er begab sich von Jerusalem nach Damaskus mit einem Brief an den Hohenpriester der Juden, in dem er ihn zur Verfolgung der Christen aufforderte.«

Wir guckten in eine Werkstatt, wo Möbel, und in eine andere, wo Messinggeschirr gemacht wurde. Es waren höfliche Leute, die drei Sprachen redeten, Kratzfüße machten, vorzeigten und die Preise auswendig wußten. Lauter hübsch abgerundete Preise. Der Führer bekommt Prozente.

Ich suchte einige Leuchter und einen Aschbecher aus und erkundigte mich eingehend nach der Herstellung, dem Arbeitslohn und woher sie die Muster bekämen. Die Augen des Führers leuchteten, ich sah, wie er dem Kommis heimlich Zeichen zumachte. Er sprang geschäftig umher und schürte die Bewunderung durch warme Zurufe.

Als sie mit dem großen Buch kamen, um meine Adresse zu notieren, wurde das Mißverständnis aufgeklärt:

O nein, ich wollte gar nicht kaufen, ich wollte mich nur erkundigen, denn solche Art Sachen machte ich selber zu Hause in meiner eigenen Fabrik. Ich sei ihnen sehr dankbar, daß sie mir Preise und alles so bereitwillig mitgeteilt hätten, ich meinte sicher, daß ich es in meinem eigenen Land billiger herstellen könne.

Wir verließen den Laden ohne sonderliche Höflichkeit von Seiten des Besitzers. Auf der Stirn meines Führers lagerte eine dunkle Wolke, als wir unseren Wagen wieder bestiegen. Ich fragte ihn freundlich, ob er mir noch mehr solche interessanten Läden zeigen könne, dann nur heran. Er sah mich forschend an und seufzte. »Der Herr scheint sich mehr für historische Sehenswürdigkeiten zu interessieren,« meinte er schließlich.

So fuhren wir denn zu der Moschee der Omajaden, auch die große genannt.

Sie war ehemals eine christliche Kirche gewesen und machte geltend, daß sie das Haupt des Täufers besäße. Die Mohammedaner erweiterten und verschönerten sie; denn Johannes ist nach dem Propheten ihr erster Heiliger. Dieses alte Wunderwerk ist vor einigen Jahren abgebrannt und jetzt in aller Bescheidenheit mit kahlen Marmorwänden, wo früher prachtvolle, goldene Mosaikarbeit strahlte, wieder aufgebaut worden.

Wir mußten Binsenpantoffeln über unsere Stiefel ziehen und an einem Haufen Tagediebe vorbei, die unser Aussehen ungeniert kritisierten. Der Führer mußte sie zur Seite puffen, um uns Platz zu schaffen.

In dem viereckigen Moscheehof, der an drei Seiten von Arkaden umgeben war, drängte man sich um den Springbrunnen. Es war Andachtsstunde. Junge und Alte, Blinde und Sehende, Herren und Diener wuschen sich in demselben Bassin, Gesicht, Hände, Arme und Beine. Nach dem Bade gingen sie mit frischen Augen in den dämmrigen, kalten, bilderlosen Raum der Moschee.

Wir kreuzten vorsichtig an den Betenden vorbei, die in langen Reihen auf der Erde saßen, die Gesichter der Betnische zugewendet. Der Führer trat vorsichtig mit seinen Pantoffeln auf und flüsterte mir Erklärungen ins Ohr. Dennoch begegnete uns ab und zu ein zorniger Blick aus eifernden Augen in einem hastig gewendeten Gesicht.

Als wir wieder in den Vorhof kamen, fiel mein Blick auf zwei unverschleierte Frauen, die mit dem Rücken gegen die Mauer saßen und mich anstarrten. Ihre Bekleidung war dunkel und zerlumpt. Sie hatten die Knie hochgezogen, so daß ein Stück ihres nackten Beines hervorschimmerte; mürrisch, wortlos saßen sie da.

»Diese Frauen,« sagte der Führer, »warten darauf, daß ein reicher Muselmann von seiner Andacht kommt und ihnen ein Almosen gibt. Vielleicht hat er eine kranke Tochter oder sein Sohn macht ihm Kummer. Sollte er da nicht in der Moschee beten, daß seine Tochter gesund werden und sein Sohn auf den rechten Weg zurückkehren möge? Sollte er da nicht dem Herrn ein Opfer versprechen, wenn er sein Gebet erhört? – ›Gib den Armen – sagt der Koran – und Allah wird dich erhören!‹ Und sieh – hier vor der Tür sitzen zwei arme Frauen. Sie sind gleich zur Hand. Er braucht nicht lange zu suchen. Darum wirft er ihnen etwas Silber hin – vielleicht ein Goldstück, wenn er reich ist und seine Tochter sehr krank.«

Die eine hat ein schönes junges Gesicht, mit zarter Haut und einem frechen Blick. Ich möchte wetten, daß sie zu Hause bessere Kleider hat. Es gibt so viele verlorene Söhne, für die gebetet werden muß, wer weiß, vielleicht hat sie mitgeholfen, ihn zu verderben, und bekommt jetzt Geld von dem Alten, um den Sohn wieder auf den rechten Weg zu bringen, Das wäre ganz in der Ordnung.

In der einen Ecke erhebt sich ein freistehender Turm. Eine Treppe führt von außen hinauf. Der obere Teil gleicht der Kappe eines Leuchtturmes, die Luken sind mit eisernen Läden geschlossen.

»Hier liegen heilige Schriften aufbewahrt, sehr heilige und sehr alte. Keiner darf an diese Schätze rühren, denn an dem Tage, wo es geschähe, wären die Tage des Islams gezählt.«

Ein kleiner Schelm blitzt in seinem Auge; sein Gesicht aber ist ernst und würdig.

»Wer hat den Schlüssel dazu?«

»Der oberste Priester.«

»Und der Turm ist noch nie geöffnet worden?«

Er sieht sich vorsichtig um und flüstert mir ins Ohr:

»Als der deutsche Kaiser hier vor einigen Jahren zu Besuch war, äußerte er den Wunsch, daß man einigen Gelehrten aus seiner Stadt die seltenen Sachen zeigen möge. Der Oberste wagte nicht den Turm zu öffnen, aber er telegraphierte an den Herrscher der Rechtgläubigen. Tags darauf kam die Antwort, daß der Turm dem Kaiser geöffnet werden möge und daß seine Vertrauensmänner daraus entnehmen dürften, was sie wollten.«

»Die Tage des Islams sind also jetzt gezählt?«

»Der Kaiser ist ein mächtiger Herr,« sagte der Führer und blinzelte schelmisch, »er kann seinen Freund, den Sultan, nur dazu vermocht haben, die alte Weissagung zu ignorieren, indem er ihm dafür ein Versprechen gegeben hat.«

Wir gingen einige Schritte. Dann drehte er sich zu mir um und sagte, während seine Augen vor Schlauheit funkelten:

»Unser alter Sultan war ein kluger Herr. Er wußte, was er tat.«

Wir gingen über einen engen Hof, wo die Jugend sich zwischen Moscheetauben und anderem weltlicheren Federvieh tummelte, und kamen durch eine alte Gittertür zu einem zweiten Vorhof, der eigentlich ein ganz kleiner Garten war, mit Apfelsinenbäumen und blühenden Sträuchern, die ich nicht kannte. Ein kleines braunes Arabermädchen mit glänzenden Augen reichte mir freigebig einige Blumen. Der Führer aber schob sie beiseite; Tempel- und Trinkgelder gingen aus seiner Tasche, wie die Verabredung war.

Wir kamen in einen halbdunklen Raum, in dessen Mitte ein Sarkophag stand.

Es war Salah-Eddins Grab. Mein Führer war enttäuscht und betrübt, daß ich ihn nicht kannte; erst später fiel mir ein, daß es der Feind der Kreuzfahrer, der Sultan Saladin sei.

»Wie viele Frauen hatte Selim Aladdin?«

»Salah Eddin war sein Name, mein Herr. In der Geschichte des Islams, so wie sie überliefert ist, seit – –«

»Gut, gut, aber ich wollte etwas von seinen Frauen wissen. Warum liegt er hier so allein? – Ein großer Mann muß viele Frauen haben. Sie hätten nur in Konstantinopel sehen sollen, dort in der Maya Sophia, Sie wissen wohl –«

»Aya Sophia, mein Herr.«

»Na, einerlei. Ich sehe übrigens nicht ein, warum sie zwei Namen haben soll. Es war also in der Moschee der Sultanin Sophia –«

»Entschuldigen Sie, mein Herr,« er trocknet sich den Schweiß von der Stirn, »es war keine Sultanin.«

»Na, dann meinetwegen die Mutter oder Schwiegermutter oder eine andere Anverwandte des Propheten.«

»Sophia, mein Herr, bedeutet –«

Er trippelt auf seinen dicken Beinen herum und schiebt voller Verzweiflung den Fes tief in den Nacken. Aber es hilft ihm nichts, ich lasse mir keinen Einhalt tun.

»Sehen Sie, dort lag der alte berühmte Sultan Sim Seladim in seiner eigenen privaten Grabkapelle mit all seinen Frauen – –«

» Selim! – Selim der Zweite!« bat er eindringlich und berührte meinen Arm.

»Ach, lassen Sie mich in Ruh!« sagte ich und schüttelte seine Hand von mir ab, » das war ein Kerl, sage ich Ihnen! Da lag er mit all seinen Frauen – ich zählte bis siebenundneunzig; aber der Muezzin, der mich herumführte, hatte keine Zeit länger zu warten, er mußte in den Turm hinauf und die Gläubigen zum Gebet rufen.«

Das genügte. Er blickte verstohlen zu mir auf, schüttelte heimlich den Kopf und verzichtete auf seine einstudierte Rede.

Er machte mich nur noch auf eine Gedenktafel in der Wand aufmerksam, mit Kaiser Wilhelms Monogramm und einem Bericht über allerhöchst dessen Besuch.

Ich betrachtete sie genau und erklärte, daß die Arbeit von keinem gewöhnlichen Taugenichts gemacht sei. Wieviel er dafür bekommen und ob er für Tagelohn oder auf Akkord gearbeitet habe?

Da verlor er die Geduld. Er zuckte verächtlich die Schultern und sagte:

»Darüber kann ich Ihnen keine Auskunft geben, mein Herr. Es ist meine Pflicht, über historische Sehenswürdigkeiten Bescheid zu wissen, von dem Besuch allerhöchster Herrschaften oder dergleichen. Das andere interessiert mich nicht!«

Erst mehrere Tage später sah ich ein, wie hart ich gegen ihn gewesen war. Da erfuhr ich nämlich durch ein Reisebuch, daß sich noch eine interessante Begebenheit an den Ort knüpfte – und die hatte er mir in seiner Verzweiflung unterschlagen.

Die Begebenheit ist charakteristisch.

Ein russischer Großfürst besuchte die Moschee, als der alte Herr noch bescheiden in einem Holzsarge lag. Der Großfürst wunderte sich über das unansehnliche Begräbnis und versprach auf der Stelle, die nötige Summe zu einem Marmorsarg zu schenken. Die fürstliche Gabe – mehr als fünftausend Goldrubel wert – wurde mit Dank angenommen. Der Sarg kam, und der berühmte Alte wurde umgebettet. Dem bescheidenen Wunsche des Großfürsten, ihm das alte Holzgerümpel zur Erinnerung zu schenken, wurde mit Vergnügen nachgekommen.

Der Sarg war aus Zedernholz vom Libanon. Er wanderte in das Museum des Großfürsten und ist zehnmal so viel wert als der geschenkte.

Die Moral ist gut und lehrreich. Ein junger amerikanischer Archäologe, dessen Bekanntschaft ich auf einem Dampfer machte, sagte mir, daß die Geschichte typisch sei für die Erwerbung der größten Seltenheiten vieler europäischer Museen.

Wir besuchten noch einen Ort, der mit der alten Moschee verknüpft war. Es war ein Brunnen, ein Bassin, eine Fontäne. Er glich all den anderen, die ich im Lande des Sultans gesehen habe, dieser aber hatte die Eigentümlichkeit, daß der, der darin badet, um zehn Jahre verjüngt wird.

Mir erschien das etwas unwahrscheinlich, denn es saßen mehrere ältere Jahrgänge beiderlei Geschlechts in unmittelbarer Nähe des Brunnens, die eine Verjüngung sehr nötig hatten. Es hätte ihnen nur einige Schritte gekostet, sie zu erreichen, wenn die Geschichte wirklich wahr gewesen wäre.

Ich machte den Führer darauf aufmerksam. Er schien tief darüber nachzudenken, während seine hübschen braunen Augen fragend in den meinen ruhten.

Schließlich fand ich eine Lösung.

Ich legte meine Hand auf seine Schulter und sagte:

»Wie bekannt, neigen die Menschen zur Übertreibung. Diese schwachen Charaktere haben natürlich so oft in dem heiligen Bad der Verjüngung geschwelgt, bis sie wieder in ihrer Mutter Leib zurückgekehrt und jetzt ihre eigenen alten Vorfahren geworden sind.«

Der Führer meinte, ich solle einen Versuch machen. Ich aber fürchtete, ich könne mich erkälten. Es war kalt in Damaskus. Und was konnte es mir nützen, zehn Jahre jünger zu werden, wenn ich eine Lungenentzündung davontrug, die mir nach drei Tagen den Garaus machte.

Der Wagen, der draußen gewartet hatte, brachte uns jetzt zu den Ruinen der uralten Stadtmauer.

Der Führer schien etwas ermüdet. Erst als wir vor der hohen, verwitterten Riesenmauer standen und den zugemauerten Rahmen eines Tores betrachteten, begannen sich die Lebensgeister wieder in ihm zu regen. Denn dies war seit dreißig Jahren sein Steckenpferd.

Er erzählte als Einleitung Pauli Geschichte und zitierte ein großes Stück aus den Büchern der Apostel. Dann trat er an die Mauer heran, hob seinen Stock, zeigte auf den zugemauerten Rahmen und sagte mit feierlicher Stimme:

»Und hier, mein Herr, sehen Sie das Loch in der Mauer, durch das die Schüler des heiligen Apostels, wie geschrieben steht, ihren Herrn und Meister in einem Korb aus der Stadt herabließen.«

Ich betrachtete die alte Mauer ergriffen.

»Wo ist das Loch?« fragte ich. Denn ich sah nur ein Loch, das nicht größer war, als daß eine Schwalbe hindurch konnte.

»Das ist zugemauert!« rief er gereizt.

»Ja, ja, natürlich, wenn man das Loch all die Jahre offen gelassen hätte, würde es in der Stadt zu viel Zugluft gegeben haben. Aber wo ist der Korb?«

»Der Korb?«

»Den möchte ich gern sehen. Oder ist er vielleicht in einem Museum?«

Das Blut stieg ihm in die Wangen. Er schwang seinen Stock wild und bewegte die Lippen. Es klang wie »Mashallah« – Gott ist groß. Dann faßte er einen Entschluß. Mit männlicher Beherrschung richtete er sich auf, machte eine königliche Handbewegung und sagte:

»Wohlan, mein Herr, Sie sollen den Korb sehen. Er wird in einem alten jüdischen Haus aufbewahrt, einem der ältesten in Damaskus, das ich Ihnen jetzt zeigen werde. Es wird von einem Freund von mir bewohnt, einem reichen Mann, einem Bankier. Sie müssen wissen, daß es nicht einem jeden vergönnt ist, dieses Haus zu betreten. Sie sind der erste seit dreißig Jahren, der nach dem Korb gefragt hat. Wohlan, Sie sollen ihn sehen.«

Ohne ein weiteres Wort bestiegen wir den Wagen. Kurz darauf fuhren wir durch enge, schmutzige Gassen. Ich sah gleich, daß es das Judenviertel war. Denn die Frauen, denen wir begegneten, waren unverschleiert. Und die Männer, die vor den Buden standen und handelten, hatten schmale, gebogene Nasen in ihren blassen Gesichtern, runde Rücken und schelmische Korkzieherlöckchen an den Ohren.

Wir halten vor einer Tür in einer grauen, unansehnlichen Mauer. Der Führer springt aus dem Wagen und klopft an die Tür. Sie wird von zwei kleinen jüdischen Mädchen, mit langen Strümpfen und Morgenschuhen geöffnet. Sie haben freundliche Augen und ihr Mund ist gewohnt, Fremden zuzulächeln. Sie knixen auf europäische Art.

Durch einen engen Gang, von dessen Ende uns ein Apfelsinenbaum mit seinen goldenen Früchten entgegenleuchtet, kommen wir in einen viereckigen Hof, der rings herum von hohen Gebäuden eingeschlossen ist.

Der Hof ist mit Fliesen belegt. In der Mitte eine Fontäne mit einem fadendünnen, glitzernden Strahl, der in ein Becken plätschert, das von dunklen Laubpflanzen umkränzt ist.

Die Häuser sind alt und stillos. Nur das eine hat arabische Bogen und schlanke Säulen.

Mein Führer wechselt einige Worte mit den freundlichen kleinen Mädchen, die nicken und kichern und auf ihren Pantoffeln davonklappern, während das schwarze Haar ihnen um die Ohren fliegt. Kurz darauf kommen sie mit einem großen Korb angeschleppt, so einem, in dem Esel Gemüse zur Stadt tragen.

»Hier sehen Sie den Korb, mein Herr!« sagt der Führer und berührt ihn mit seinem Stock.

Es ist ein geräumiger Korb, aus Weiden geflochten. Ich betrachte ihn mit Interesse, gehe um ihn herum, versuche die Füße hineinzuschieben, während die kleinen Mädchen lachen und der Führer sich hastig abwendet.

»Sehen Sie nur,« sage ich und zupfe ehrerbietig an einem Zeugfetzen, der zwischen den Weiden eingeklemmt ist, »da sitzt noch ein Stück von dem Gewand des Apostels.«

»Und dort,« zeigt er, »ein Salatblatt von seinem Frühstück.«

Jetzt aber ist es mit unserer Beherrschung zu Ende. Die kleinen Mädchen werfen den Kopf in den Nacken und lachen mit all ihren weißen Zähnen. Der Führer befreit sein bedrücktes Gemüt durch ein herzhaftes Gelächter und nickt mir mit seinen braunen Augen zu.

»Sie sind ein großer Spaßvogel, mein Herr!«

Gleich darauf aber erlangt er seine Würde wieder. Er ist gewohnt, ernst genommen zu werden, und wenn er die Situation auch durch das Salatblatt gerettet hat, hat man doch mit seiner dreißigjährigen Tätigkeit Schabernack getrieben. Sein Gesicht ist kühl, seine Stimme gefaßt, mit einem gekränkten Beiklang. Keine Kordialität mehr, Geschäft, mein Herr.

Durch eine Glastür mit farbigen Scheiben werde ich in die Sommerwohnung geführt. Hier ist auch ein Springbrunnen, aber er ist nicht in Tätigkeit Ein hoher, gewölbter, kühler Raum mit einer Chorrundung. Niedrige Diwane rings herum, arabische Ornamente unter der Decke. Schranktüren in den Wänden, wo alte prachtvolle Nargileh, Korane, Betkränze und andere Wertsachen aufbewahrt werden.

»Mein Herr, wünschen Sie den Damen des Hauses vorgestellt zu werden?«

»Harem??«

»Dies ist ein jüdisches Haus, mein Herr.«

Ich werde über den Hof in das Haus auf der anderen Seite geführt. Ein großer, halbdunkler Raum, mit Fensterscheiben hoch oben. Einige alte Diwane unter den Fenstern; große, weiche Kissen auf einem türkischen Teppich.

Vom Diwan erheben sich zwei Frauen in halblangen, weiten Gewändern, das eine blau, das andere rot. Sie erwidern meinen Gruß mit einer Neigung des Kopfes und einem Lächeln. Ich versuche eine Unterhaltung anzuknüpfen, der Führer aber macht mich darauf aufmerksam, daß sie nur einer Sprache mächtig sind.

Ihr Gesicht und ihre Hände sind ganz blaugefroren, denn im Zimmer ist keine andere Wärme als die, die sie selbst ausstrahlen.

Der Führer berichtet mir, daß diese Damen sich sehr freuen, wenn sie fremde Gesichter sehen. Sie sind keine Frauen oder Schwestern des reichen Mannes, ihre Zugehörigkeit zur Familie ist etwas unbestimmt. Die eine, die rote, sei die Mutter der kleinen Mädchen, denen ich in dieser Eigenschaft liebevoll übers Haar streiche, was hoch aufgenommen wird. Der Führer schlägt daraufhin einen kameradschaftlichen Ton an und fordert mich auf, mich über die Schönheit der Damen zu äußern.

Ich sage einige überschwengliche Worte, die er mit Wärme übersetzt. Die Damen lassen ein kleines geschmeicheltes Kehllachen hören, das den Ausdruck in dem verfrorenen, leicht gepuderten Gesicht indessen keineswegs verändert.

Ich werde aufgefordert, das Alter der Damen zu erraten. Das ist eine kitzlige Aufgabe. Ich zeige auf die kleinen Mädchen und sage, daß ihre Mutter nicht mehr als vierzehn Jahre alt gewesen sein könne, als sie sie zur Welt gebracht habe, und daß die andere Dame ihre jüngere Schwester zu sein scheine.

Die Damen lächeln, nicken und danken. Der Führer versichert, daß die Mutter erst fünfundzwanzig und die Schwester nur zweiundzwanzig sei. Darauf nehmen wir Abschied und werden durch den Gang von den kleinen Mädchen hinausbegleitet, die von dem Führer mit einer kleinen Münze belohnt werden, bei deren Anblick das Lächeln von ihren Gesichtern verschwindet und erst zurückkehrt, als ich noch eine Silbermünze hinzufüge.

 

Ich verabschiedete meinen Führer und ging nach dem Mittagessen im Hotel auf eigene Faust aus.

Es war Mondschein, ein regelrechter, türkischer Halbmond stand am Himmel, der Damaskus seinen Rundbogen zukehrte. In dem flimmernden Licht kämpften mehrere Hunde auf dem Fußsteig. Vielleicht handelte es sich um eine gerechte Züchtigung; denn es waren viele gegen einen. Der Sünder biß nach allen Seiten um sich, aber vergeblich. Nach kurzem Kampf hatten die anderen ihn kalt gemacht. Als ich näherkam, sah ich, daß ein Knochen mit im Spiel gewesen war, der jetzt einträchtig von den Richtern abgenagt wurde, während der Gestrafte in den letzten Zuckungen lag.

Da schwand mein Glaube an den Gerechtigkeitssinn der Hunde. Wie erhaben, dachte ich bei mir, ist nicht die Justiz der Menschen im Verhältnis zu der der Tiere! – Da sind zum Beispiel in Amerika die Truste. Dort verfolgt man Mr. Rockefeller nicht aus dem Grunde, weil sein Knochen zu groß ist, oder weil er ihn für seinen eigenen Mund behalten will, sondern lediglich weil er ihn auf unrechtmäßige Weise erworben hat.

Nun, vielleicht tue ich diesen Hunden trotzdem Unrecht. Das arme Tier, das jetzt in den letzten Zügen liegt, hat seinen Knochen vielleicht auch auf unmoralische Weise erworben, durch Unterdrückung schwächerer Mithunde. In solchem Fall geschieht ihm ganz recht, und seine Richter können den expropriierten Knochen unbescholten benagen.

Ich ging denselben Weg, den wir heute morgen gefahren waren. Die Straße lag jetzt wie ausgestorben da. Ein Schutzmann, einige heimkehrende Offiziere, fest in ihre Mäntel eingehüllt, ein verspäteter Kaufmann, der an seinen Fensterläden hantierte. Das war alles. Und dann die Hunde. Sie lagen im Rinnstein, quer über dem Fußsteig, vor den Haustüren – wo der Schlaf sie gerade übermannt hatte. Auf einem Abfallhaufen lagen vier übereinander, um sich warm zu halten.

Ich wanderte über große weiße Mondstreifen und über Schattenflächen, die alle Dinge unwirklich, rätselhaft machten. Danach hatte ich den ganzen Tag vergeblich gesucht. Jetzt fühlte ich mit einem Schlage, daß ich in Damaskus sei.

Für zivilisierte Europäer, deren Gehirnkästen eine mühsam erworbene Sammlung von Kuriositäten enthalten, bedeutet Damaskus ja etwas anderes als Hunde, Schutzleute und Menschen. Es bedeutet Paulus, Klingen, Rosenöl, Kampf zwischen deutschem und britischem Einfluß, vor allen Dingen aber ein Stück des Märchenlandes, das in unserer Kinderseele blühte, später im Kampf mit den Realitäten des Lebens unterging, aber immer wie mit fernen Glockentönen klingt, wenn ein zitternder Mondstrahl den Resonanzboden berührt.

Aus einem Hause mit schwach erleuchteten Fensterscheiben erklang gedämpfte Musik. Ich guckte durch die Tür, die gerade von einem Nachtgast geöffnet wurde.

Es war ein Café. Viele Menschen saßen dort drinnen, die Gesichter auf die Musikkapelle gerichtet.

»Das morgenländische Märchen,« dachte ich und ging hinein. Einem armen Krüppel, der an einem wackligen Tisch mit einer Lampe ohne Kuppel saß, hatte ich zwei Piaster zu entrichten. Der andere Gast, der mit mir zugleich eintrat, bezahlte nur einen Piaster; für ihn aber war es ja auch kein Märchen, sondern nur ein Café in Damaskus.

Ein niedriger, viereckiger Raum mit Seitenlogen, rötlich beleuchtet von schlecht gehaltenen Lampen. Eine Bühne am Ende des Saales, wo vier Musikanten mit untergeschlagenen Beinen vor einem Hintergrund saßen, der einen Garten mit Springbrunnen und Pavillon darstellte. Zwei Männer und zwei Frauen in gewöhnlicher Türkenkleidung. Die Frauen spielten Gitarre, die Männer Flöte, Becken und Trommel.

Mitten auf der Bühne tanzte ein junges Mädchen, halb Kind, in buntem Rock, goldenem Gürtel, roter Seidenbluse und Blumen in dem losen Haar. Sie machte kleine trippelnde Schritte, im Takt zu der eintönigen Musik, und drehte sich mit kurzen, fast unmerklichen Bewegungen auf der Stelle.

Bald wiegte sie den Kopf auf dem Halsgelenk, ohne den übrigen Körper zu bewegen; bald verrenkte sie den Hals in Schlangenbewegungen, ohne daß der Kopf mitzufolgen schien. Dann schüttelte sie die Schultern auf dieselbe wunderbare Weise, und schaukelte die Brust, während alles übrige stillstand. Schließlich glitt der Unterleib auf und nieder, nach rechts und nach links, ohne daß der Oberkörper und die Beine sich bewegten.

Letzteres kannte ich; das war Bauchtanz. Aber ich hatte nicht gewußt, daß man Bauchtanz auch mit Kopf, Hals, Schultern, ja sogar mit Augenbrauen tanzen kann.

Als das kleine Mädchen fertig war, stiegen die akkompagnierenden Damen der Reihe nach vom Diwan herab und tanzten denselben Tanz mit den kleinen gekünstelten Bewegungen in ewiger Wiederholung.

Der Beifall war groß. Je geringer die Bewegung war, desto aufreizender wirkte sie auf die versammelten Türken aller Stände und Rangklassen, die in langen Reihen auf den Diwanbänken saßen, mit hochgezogenen Knien. Jeder hatte ein Nargileh und eine Kaffeetasse ohne Unterteller, so groß wie einen Eierbecher vor sich. Zwei Kellner waren in ständiger Bewegung zwischen den Reihen, brachten Pfeifen, Schalen mit Tabak und glühenden Holzkohlen, servierten Kaffee oder kleine pflaumenähnliche Früchte für diejenigen, die nichts trinken wollten. Die Bewirtung war mit im Billett einbegriffen.

Der Saal war von einem farblosen Rauch erfüllt, der das Atmen erschwerte und die Sinne betäubte.

Mir wurde übel und ich verließ das Lokal.

Draußen war es sehr kalt. Ich wickelte mich fest in meinen Mantel ein und wanderte durch die mondhellen Straßen, bis ich die Moschee erreichte, wo ich vormittags gewesen war.

Was ich dort eigentlich wollte, wurde mir erst klar, als ich den Jungbrunnen sah.

»Gottseidank!« dachte ich, und mein Herz klopfte vor Aufregung, »jetzt soll es sein. Jetzt soll Geschehenes anders gemacht werden. Jeder Tag, den du seit zehn Jahren in der Torheit deines Herzens verloren hast, jetzt soll er zum besten deiner Seele zurückgewonnen werden. Alles, was du nicht erreichtest, obgleich du es erkanntest und wolltest, das soll dir jetzt werden. Die Jahre kehren zurück und du kannst sie jetzt mit der ganzen Klugheit anwenden, die dir damals fehlte und die du durch Erfahrung erworben hast.«

Meine Hände zitterten so stark, daß ich mich kaum zu entkleiden vermochte. Da sah ich einen dunklen Schatten an der Mauer entlang, auf die Stelle zugleiten, wo ich stand.

Es war der Schatten eines nackten Weibes. Sie wollte gerade in das Wasser steigen, als sie meiner ansichtig wurde.

Sie stieß einen Schrei aus und verschleierte sich mit ihren Händen.

»Schämen Sie sich nicht,« rief sie mit einer Stimme, die mir bekannt schien, »Sie ungläubiger Hund! – Ist das eine Art, bei nachtschlafender Zeit herumzuschleichen und eine wehrlose Frau zu überrumpeln, die nur hergekommen ist, um ihr Hemd zu waschen?«

Ach, das war ja eine von den Damen aus dem ältesten Haus in Damaskus. Die fünfundzwanzigjährige Mutter der kleinen Mädchen. Am Jungbrunnen.

Ich wollte mich verteidigen; bevor ich aber noch den Mund geöffnet hatte, war sie um die Ecke verschwunden. Ich entkleidete mich schnell. Die Aussicht, das verlorene Paradies meiner Jugend zurückzugewinnen, machte mich stark und widerstandsfähig. Ich tauchte in dem eiskalten Wasser unter. Dann trocknete ich mich mit meinem Hemd ab, und das Bad fing an zu wirken.

Die entschwundenen Jahre tauchten aus dem Brunnen auf, das eine nach dem anderen, zeigten ihre Flecke und beschriebenen Seiten und verschwanden um die Ecke in dem tiefen Mondschatten.

Ich war plötzlich zehn Jahre jünger geworden.

Aber was war das? – Kaum waren sie fort, als sie auch schon von der anderen Seite wieder zurückkamen, weiß und reingewaschen und unbeschrieben.

»Was soll das heißen?« fragte ich erstaunt. »Ich bin kaum angekleidet, und ihr seid schon wieder da.«

»Wir haben keine Zeit,« tönte es klagend durch die Luft, »wir müssen wieder im Brunnen sein, bevor der Hahn kräht.«

»Soll ich euch vielleicht gleich noch einmal durchleben, ohne Kragen und ohne Hosen?«

»Wir haben keine Zeit!« ertönte es wieder, und das älteste Jahr, ich kannte es nur allzu gut, das eigensinnige Ding, das mir damals so viele Schwierigkeiten gemacht hatte, näherte sich bereits dem Brunnen.

»Halt!« rief ich und streckte die Hand danach aus, »wenn es denn nicht anders sein kann –«

Ich winkte sie zu mir heran, das eine nach dem anderen. Da war zuerst das älteste; ich wendete und drehte es; wie ich aber auch an den Tagen zupfte, sie zu schieben und ihren Inhalt zu verbessern versuchte, es war mir nicht möglich, einen Tüttel daran zu ändern, ohne daß die Tage auseinander zu fallen drohten. Nicht eine Zeile konnte ich von dem alten Text, dessen Zeichen ich noch zu unterscheiden vermochte, streichen, ohne daß das Ganze sinnlos wurde.

Ich ließ es laufen – denn es war ja das schlimmste von allen und immer ein widerspenstiges Ding gewesen.

Nummer zwei rückte vor; aber obgleich ich mich dessen als eines nachgiebigen, etwas melancholischen Jahres erinnerte, erging es mir damit nicht um ein Haar besser als mit dem ersten.

Da krähte der Hahn und ich hörte meine zehn Jahre der Reihe nach ins Wasser plumpsen.

Ich setzte mich auf den Brunnenrand und weinte. Ein alter Türke, der meiner Aufmerksamkeit entgangen war, erhob sich aus seiner Ecke, vor Kälte zitternd.

»Fremder, was suchst du hier?«

Ich erzählte ihm mein Vorhaben und wie der Brunnen mich enttäuscht habe.

»Die Tage des Islams sind gezählt,« sagte er mit seiner Greisenstimme, »seit der Beherrscher der Gläubigen den Aufbewahrungsort der heiligen Schriften preisgegeben hat. Seit der Zeit wirkt auch der Brunnen nicht mehr. Du aber, o Fremder, eile heim zu deinem Lager und bereite dir eine Tasse starken Kamillentee, auf daß du keinen Schnupfen bekommst. Und wünschest du Verjüngung, so gehe zu den Gärten vor den Toren von Damaskus und lasse dir Arbeit anweisen.«

 

Ich erwachte in Schweiß gebadet nach einer Fiebernacht, die von dem aufreizenden Rauch der vielen Nargileh herrührte. Ein kräftiges Klopfen an der Tür weckte mich.

Es war mein Führer. Er kam, um mich für das Morgenpensum abzuholen, wie wir verabredet hatten.

Er führte mich vor die Tore, durch das Fremdenviertel, wo die europäischen Konsule wohnen, zu der Stadt Sakkarlieh, die in strahlender Morgenbeleuchtung zu unseren Füßen lag.

»Zu diesem Ort, mein Herr,« sagte er, »den Ihr Fuß jetzt betritt, kam auch der Prophet auf seiner Reise von Mekka. Sein Schüler zeigte auf die Gärten und sagte: ›Sieh, diese Gärten sind ein Paradies am Rande der Wüste. Laß uns dort hinabsteigen und verweilen.‹ Der Prophet aber antwortete: ›Wahrlich, der Ort ist schön; doch kenne ich einen, der noch schöner ist. Verweilet in dem Paradies in Arabiens Garten, ich aber gehe zu einem, das jenseits liegt.‹ – Dabei deutete er nach oben und machte kehrt, ohne Damaskus zu betreten.«


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