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Es ist an einem zeitigen Morgen in Benares.
Wir fahren über eine breite Landstraße, unter dunklen Schatten heiliger Bäume, an übelriechenden Dorfteichen vorbei, deren Ufer von weißen Tempelochsen zertreten sind, die zum Trinken herkommen; an Lehmhütten vorbei mit Dächern von getrocknetem Kuhdünger.
Mitten auf der Landstraße kniet ein Mann, der an der Schläfe barbiert wird. Der Künstler, der den Kopf desselben zwischen den Händen hat, braucht Messer und Schleifstein, aber keine Seife.
Rittlings auf einem Dach sitzt ein Affe und blickt hinter unserem Wagen her, und daneben auf dem Misthaufen hackt ein Aasgeier mit seinem kahlen Schädel in etwas schleimiges Rotes, das sich nicht aus dem Abfall lösen will, während rostbraune Weihen über den Häusern kreisen.
Ein breitschultriges Weib geht vorbei. Ihre schlanken Hüften beben unter dem Gewicht des Messinggefäßes, das sie auf dem Kopf trägt. Der Hals ist steif und gespannt, die großen, scheuen Achataugen starren unter den Lidern geradeaus, als müßten sie allein das Gleichgewicht halten.
Wir fahren an einem Park vorbei mit niedrigem Buschwerk und abgesengtem Gras. Dort drinnen erhebt sich eine weiße Kirche mit gotischem Spitzturm und hohen Fensterbogen. Wir passieren ein Hindukollege, von der Apostelfrau Annie Besant errichtet. Hier werden Hunderte von jungen Hindustudenten erzogen, um für die Wiedergeburt der indischen Kultur in theosophischer Form zu wirken.
Dort liegt ein vornehm zurückgezogenes Palais mit geschlossenen Fensterläden und einer Terrasse auf dem Dach; das ist das Gasthaus des Maharadscha für fürstliche Pilger. Denn Benares ist Indiens heiligste Stadt seit uralten Zeiten. Jeder rechtgläubige Hindu muß mindestens einmal in seinem Leben den Panch Kosi-Weg gewandert sein, der zehn Meilen lang ist, von seinen heiligen Treppen im Ganges gebadet und von dem Wasser desselben getrunken haben.
Zuerst halten wir vorm Durgatempel, der Sivas Frau, Parvati, geweiht ist. Sie tötete das Ungeheuer Durga, das die Götter zu stürzen drohte. Darauf nahm sie den Namen des Besiegten und erbte seine Kraft.
Vor dem Tempelviereck, von einer hohen Mauer eingeschlossen, liegt ein heiliger Teich zwischen Steintreppen. Mitten in dem grünen, schleimigen Wasser, das ohne Abfluß ist, taucht ein schwarzer Kopf auf. Der Bursche schwimmt bis zur Treppe, wischt sich den Schleim vom Kopf und bekleidet sich mit seinen Tüchern.
Im Vorhof schlägt uns ein übler Geruch entgegen. Eine dunkle Blutpfütze verfault in der Sonne vor einem freistehenden Opferblock, der die Reste vom Frühstück der Göttin trägt: eine junge Ziege, die vor Sonnenaufgang geschlachtet wurde.
Wir passieren einen Vorraum, wo Tempelwagen, Trommel und Tam-Tam für festliche Gelegenheiten aufbewahrt werden. Dann kommen zwei kleine säulengetragene Tempel, jeder mit einem Lingam. Das ist das Symbol der Fruchtbarkeit, der Phallos des Orients, ein glatter, runder Felsblock, der überall dort zu finden ist, wo man Siva, den Gott der Lebenserneuerung, verehrt.
Der Hof ist von Bogengängen umgeben. In der Mitte liegt die säulengetragene Tempelhalle mit der Statue der Göttin.
Es wimmelt von heiligen Affen, grau, mit langen Schwänzen und borstigen Kinnbärten. Sie umringen uns und strecken die Hände nach Nüssen aus. Ein Zicklein tummelt sich zuversichtlich unter ihnen, ohne dem Frühstück der Göttin einen Gedanken zu schenken.
Der junge Mann, der eben ein Schleimbad genommen hat, kommt herein, um nach dem Bade seine Andacht zu verrichten. Er zieht an einem Glockenstrang, der vorm Altar hängt.
»O Durga, blick einen Augenblick herab. Ich komme, um zu opfern!«
Während die Glocke ertönt, legt er Blumen und Reis zu Füßen der Göttin nieder, legt die Hände flach gegeneinander und murmelt seine Gebete.
Im Bogengang hockt ein Brahmine, der ein heiliges Buch aufgeschlagen im Schoß hält. Er liest mit singender Stimme, halbgeschlossenen Lidern und erhobenem Kopf. Er sieht uns nicht, obgleich wir gerade vor ihm stehen. Ganz in seiner Nähe sitzt ein Hummanaffe und äfft ihm nach, den Kopf erhoben und mit den Augenlidern klappernd.
Ach ja, es läßt sich nicht leugnen – die Verwandtschaft ist unverkennbar, wenn man sie beisammen sieht. Die Frage ist nur, ob wir Menschen Affen sind, die sich entwickelt haben, oder ob Affen Menschen sind, die sich zurückentwickelt haben. Letzteres glauben die Neger an der Küste von Guinea; und mit allem Respekt vor Darwin und Haeckel finde ich, daß sehr vieles für diese Rückentwicklungshypothese spricht.
Auch die Hindu scheinen dieser Ansicht zu sein, wenn sie schlechten Personen damit drohen, daß sie als Kamel, Ratte oder Schlange wiedergeboren werden sollen.
Wenn es wahr ist, was die Brahminen lehren, daß der Mensch 3 888 000 Jahre gelebt hat, bevor die letzte der vier Lebensperioden, die, in der wir jetzt leben, begann, dann ist bis hinab zu den Infusionstieren, sowohl für das eine wie das andere reichlich Zeit gewesen. Sie behaupten, daß unsere Periode 3102 Jahre vor Christi begann und 432 000 Jahre dauern wird. Soviel haben wir also noch nach. Dann wird Wischnu sich zum zehnten- und letztenmal für die Erde gebären lassen, in Gestalt eines bewaffneten Kriegers auf einem geflügelten Pferd. Dann wird die Welt vollkommen verdorben sein, und er wird das Universum auflösen.
Heißt das, daß dann von dem Menschen, der in ursprünglicher Herrlichkeit die neugeschaffene Welt allein bevölkerte, nichts übrig bleibt, als die vierfüßigen Parodien und die Parodien der Parodien bis zur bloßen Einzelzelle herab?
Die Religion der Hindu endet dort, wo Darwin seine Hypothese beginnt. Das ist der Unterschied zwischen Pessimismus und Optimismus, zwischen Osten und Westen. In Wirklichkeit ist es ja nur ein optischer Betrug. Vom Gipfel aus gesehen, geht die Woge abwärts, vom Tal aus, aufwärts. Die Woge ist und bleibt dieselbe. Wäre Darwin Hindu gewesen, würde seine Entwicklungstheorie umgekehrt gewesen sein.
Was zuerst und was zuletzt ist, interessiert weniger, als wann wir das Ende erreicht haben. Darüber schweigt Darwin, die Hindu geben nur einen sehr unklaren Bescheid; und auch ich weiß nicht, was ich glauben soll.
Durch enge, schmutzige Straßen mit einem wimmelnden Pilgerverkehr gelangten wir zum »goldenen Tempel«, der Indiens heiligsten Lingam enthält, zu dem täglich Tausende wallfahrten. Leider ist er von Häusern und kleinen Tempeln eingeschlossen, so daß man keinen Überblick bekommt.
Der Großmogul ließ den alten Tempel niederreißen und baute eine Moschee auf dem Boden desselben, um zu zeigen, welcher Gott der wahre sei, Allah oder Siva; die Hindu aber errichteten einen Tempel daneben, und die Moschee liegt nun öde.
Als der Tempel fiel, warf der Priester Sivas Bild in einen Brunnen, der im Ganges mündete, um den Gott vor Entweihung zu retten. Der Brunnen existiert noch heute und wird Weisheitsbrunnen genannt. Siva wohnt auf seinem Grunde, und der Ganges strömt aus seinem Kopf. Durch ein Gitter in der mannshohen Mauer, die den Brunnen umgibt, kann man das Steindach sehen, das seinen Kopf bedeckt.
Ein Priester bewacht das Heiligtum, während ernste Pilger in einem ununterbrochenen Strom vorbeiwandern. Er schöpft durch das Gitter von dem heiligen Wasser und gießt es in ihre hohle Hand. Sie bestreichen sich damit Stirn und Augen und schlucken den Rest hinunter. Dann opfern sie Blumen. Sie selbst tragen Girlanden von der jasminduftenden Tempelblume um den Hals.
Barhäuptig und barfüßig treten sie von dem Boden der Tempelhalle über eine enge Passage in die Sonne.
Hier steht eine Statue von Ganesch, dem Glücksgott mit dem Elefantenkopf. Er sitzt in der Hucke, der Schnabel ruht auf seiner linken Hand und die Knie sind bis zu dem vergnüglichen Kugelleib heraufgezogen. Er ist halb so groß wie ein ausgewachsener Pilger, rotgemalt, Hände, Füße und Ohren aus Silber.
Einige streuen Reis vor ihm aus, andere legen Blumen in seinen Schoß oder pressen den Saft von reifen Früchten über seiner Stirnschale aus.
Es sind Pilger aus Bombay, aus Kalkutta, ja, ganz von Madras und Madura her. Sie kommen in Gesellschaften mit Führern aus ihrer eigenen Heimat. Da sind alle Schattierungen vertreten, von den tamulschwarzen des Südinders, bis zu der europäisch weißen Haut des Nepalesers, die vom Schnee des Himalaja gebleicht ist. Da sind alle möglichen Bekleidungen, von weiten, faltenreichen Burnussen, die im Winter die Kälte und im Sommer die Wärme ausschließen, bis zu dünn gesponnenen Musselingewändern über nackter Haut. Ernst und andachtsvoll sind sie, wie Leute, die zur Beichte gehen, aber nicht schmerzlich gläubig, sondern festlich und freimütig, Kinder an der Mutter Hand.
Die treuherzigen Augen der jungen Frauen sind nicht gewohnt, in Spiegel zu blicken. Mit leise klimpernden Silberringen um Hand- und Fußgelenk, mit Blumen in dem blanken Haar, das in der Mitte gescheitelt ist, mit fein ziselierten Goldringen in dem rechten Nasenflügel und den hübschgeformten kleinen Ohren, wandert sie – die Hindufrau aus der Kaste der vielfach Geborenen – auf bloßen Füßen von Heiligtum zu Heiligtum, mit runden Schultern und festen Hüften, den stolzen Kopf ein ganz wenig gesenkt, wie eine Blume an ihrem Stengel.
Wir folgen dem Pilgerstrom durch eine enge Passage längs der Tempelwand. In der Wand ist ein Loch, wo zwei Steine herausgenommen sind. Der Führer fordert uns auf, in das Heiligtum hineinzugucken, das wir nicht betreten dürfen. Drinnen ist es dunkel von Weihrauch; wir sehen nur Schatten durcheinander gleiten!
Wo die Passage in die Straße mündet, erklingt eine teuflische Musik von Tam-Tam, Flöte und unkenntlichen Instrumenten. Das Orchester sitzt über dem Laden des Blumenhändlers, der der uralten Tempeltür, deren messingbekleidete Flügel weit offenstehen, schräg gegenüberliegt.
Vom Türrahmen blickt Ganeschs Elefantenkopf gemütlich auf die Eintretenden herab. Sie berühren die Türstufe mit ihren Fingern und führen sie darauf zur Stirn. Einige falten die Hände, bevor sie über die Schwelle treten. Andere machen einen Knix und eine Handbewegung, die an das Zeichen des Kreuzes erinnert.
Die Musik kreischt und schnarrt zu Ehren des Gottes, während die Tempelgäste vorm Laden verweilen und Opferblumen kaufen, bevor sie den Tempel betreten.
Plötzlich weicht der Strom zurück. Der heilige, kreideweiße Ochse des Tempels soll Luft schnappen. Er füllt die Türöffnung mit seinem trägen Körper, der feiste Buckelklumpen wackelt im Schreiten von rechts nach links.
Alle Hände strecken sich aus, um sein Fell zu berühren. Ohne sich um das Gedränge zu kümmern streicht er mit seinem Maul über den Laden. Der arme Blumenhändler hebt flehend abwehrend die Hände. Träge pflückt er sich ein grünes Blatt und schlendert weiter durch die Gasse.
Auf der anderen Seite der Tempeltür hängen Laden neben Laden zu beiden Seiten der Straße. Die Verkäufer hocken zwischen ihren Waren, ihr Lob preisend und ihre Preise singend. Da sind Götterbilder in Bronze und Gold, im Gürtel zu tragen. Da sind Lingamsymbole, von einer Lotosblume wie von einer Schale eingefaßt; da sind lange Rosenkränze aus großen Fruchtkernen. Da ist Spielzeug und Zuckerwerk für die Kinder.
Ein vornehmer Pilger kommt aus dem Tempel mit seinem ganzen Haushalt. Sein entblößter Kopf ist fein frisiert und sein Schnurrbart auf europäische Weise gewichst. Er trägt seine cremegelbe Seidentoga mit der Würde eines römischen Konsuls und setzt seine nackten Füße vorsichtig zwischen den Abfall der Gasse. Er schreitet mit gesenkten Lidern an uns vorbei, Angehörige jeden Alters folgen ihm. Die Frauen bedecken ihr Gesicht mit den Kopftüchern, als sie uns sehen. Wo er vorbeigeht, beugen die Verkäufer sich zum Gruß und erheben die Stimme. Die Bettler strecken ihm ihre Hände bis unter die Augen entgegen und überschreien einander mit Bitten und Segnungen, während der Diener Kupfergeld unter sie verteilt. Die Bettler sind alte Graubärte, die ihre Frauen bei sich haben. Ihre Augen sind ganz blutgesprengt von der Anstrengung des Schreiens, als legten sie mehr Wert auf lautes Schreien als auf ein Almosen. Nicht ein einziger sieht aus, als sei er in Not.
»Es sind wohlhabende Leute,« erklärt der Führer, »die den Weg des Pilgers belagern, weil es zur Wallfahrt gehört, Almosen zu geben.«
Es ist ein Glied in dem heiligen Stoffwechsel.
Wir kommen an einer Lingamkapelle vorbei, mit Bronzeochsen, Gold und Skulpturen, die feinste, die wir noch gesehen haben. Das ist der Tempel der Bettlergilde. Sie haben ihn für ihr eigenes Geld erbaut.
Wir gingen denselben Weg zurück, kreuzten die Straße des goldenen Tempels, erstiegen einige Stufen zwischen den Mauern und standen auf einem Absatz, von dem wir in den Tempel der Fruchtbarkeit hinabsehen konnten, der von den Europäern Kuhtempel genannt wird, weil in seinem Bogengang heilige weiße Kühe eingestellt sind. Sie bewegen sich frei auf dem Tempelgebiet, nur an einem Festtag wie diesem, wo der Platz knapp ist, sind sie in ihren Ställen.
Die Göttin der Fruchtbarkeit hat ausdrücklichen Befehl von Siva, für die Einwohner von Benares zu sorgen. Auch der Nachkommenschaft nimmt sie sich an. Frauen, die keine Kinder bekommen – das größte Unglück, das einer Inderin passieren kann – suchen den Tempel mit den Kühen auf, opfern der Göttin und gehen gesegnet von dannen. Wir sahen einige der Priester. Es waren hübsche, gutgewachsene Männer in ihren besten Jahren.
Es war gedrängt voll im Hof und in der Halle. An jedem Säulenfuß saß ein Yogi und betete. Er zeichnet mit roter Kreide einen Kreis um seinen Sitzplatz, wodurch er sich von der Welt abschließt. Innerhalb dieses Kreises bringt er in der vorgeschriebenen Ordnung seine Bet- und Opfergefäße an. Dann spielt er auf seiner Flöte. Gesicht, Handfläche und Arme sind mit roter Farbe bestrichen. Das nie geschorene Haar hängt ihm in Strähnen den Rücken hinunter, wie die geflochtene Mähne eines Pferdes. Er ist mit Asche bestreut, wegen des Ungeziefers, wie der Führer sagt, aber er ist ja Mohammedaner und sieht den Yogi scheel an.
Unter der Tempelhalle liegt ein Ochse. Über ihm hängt ein Punka, der ihm in den Mittagsstunden Kühlung zufächelt, und jeden Abend wird eine Decke über seinen Rücken gebreitet, auf daß er sich in der kalten indischen Nacht nicht erkälte. Der Ochse ist aus Holz und vergoldet.
Wir blieben so lange stehen, daß der Führer unruhig wurde. Ein heiliger Mann mit wilden Augen knurrte uns von seiner Säule an und streckte seine Knochenarme drohend in die Höhe. Wir störten die kreischende Andacht. Eine Kuh fing an zu brüllen. Dann nahmen wir einen letzten Überblick von der festlich geschmückten Halle: Bilder hingen in Rahmen vom Dachgesimse, und an Schnüren, die zwischen Halle und Arkaden gezogen waren, wehten kleine gelbe Wimpel, die wie Gebete auf die wirken, die sie bezahlt haben.
Wir fragten einen britischen Offizier, mit dem wir im Hotel zusammen speisten, wie es mit der Sicherheit der Europäer bestellt sei. Ob eine Wiederholung des Aufstandes von 1857 zu befürchten sei? Man liest so oft davon in den Zeitungen, besonders in deutschen.
»Nein,« meinte er, »dazu gibt es hier zu viele Rassen und Sekten, und Eingeborene verschiedener Kasten dürfen nicht miteinander in Berührung kommen. Aber im übrigen besteht eine Sicherheit gegen eine militärische Revolte schon darin, daß die Artillerie ausschließlich aus britischen Soldaten zusammengestellt ist, die über die Kanonen in ›the Cantonment‹ gebieten, einer Stadt für sich, die das europäische Viertel einschließt. Eingeborene werden nur gemeine Infanteristen und Kavalleristen und haben britische Offiziere.
In der Stadt ist nie ein Gewehrschuß zu hören; denn kein ziviler Eingeborener darf eine Schießwaffe besitzen, und militärische Schießübungen werden außer Hörweite der Stadt vorgenommen. Wenn dennoch eines Tages ein Schuß ertönt, dann weiß man sofort, daß er Aufruhr bedeutet. Der Europäer wird seine Beschäftigung unterbrechen und den Atem anhalten. Erfolgt ein zweiter Schuß, dann wird er seine Familie, seine Papiere, seine Kostbarkeiten sammeln und sich so schnell wie möglich zu den Baracken begeben, wo für alle Platz ist.
Wenn man bedenkt, daß jede weiße Familie ungefähr ein Dutzend eingeborener Diener hat, dann begreift man, daß es gefährlich wäre, die Entwicklung der Dinge abzuwarten.«
Wir nähern uns dem Ganges.
In dem weißen Sonnenschein kommt uns ein wohlhabender Hindu mit seinen Anverwandten und seiner Dienerschaft auf dem weiten Platz entgegen. Er ist am Flusse gewesen, um Siva seinen Erstgeborenen vorzustellen – ein fünfjähriges Bürschchen, das rittlings auf seiner Schulter sitzt, unter einem großen Sonnenschirm. Sie sind beide in gelbe Seide gekleidet und so fest gegen die Sonne verpackt, daß wir ihre Gesichter nicht sehen können. Sie kommen von weit her, um ein Gelübde zu erfüllen, das bei der Geburt des Kindes gegeben wurde: falls er gut gedeihe, wolle man zum Ganges reisen und Siva große Opfer bringen. Jetzt ist es geschehen und die Familie kehrt beruhigt heim.
Wir sehen den Fluß schimmern, er ist schmutzig und gelb. Geradezu auf den breiten Stufen, die zum Wasser hinunterführen, sehen wir einen mächtigen gelben Sonnenschirm und in seinem Schatten einen Brahminen, der eine Schar Neuangekommener unterweist. Er lehrt sie die vorgeschriebenen Bet- und Badezeremonien und empfängt eine junge Kuh als Belohnung. Sie steht neben ihm und schnüffelt nach Gras auf dem steinigen Boden.
Wir besteigen einen Prahm, der von sechs Kastenlosen gerudert wird, und nehmen auf Deck in Korbstühlen Platz. Dann geht es langsam erst flußauf-, dann flußabwärts, bis wir sämtliche heiligen Gats, das heißt: Treppen zum Fluß, passiert haben. Es sind einige fünfzig.
Nicht ein Fleckchen zwischen den Häusern längs der hohen Küste ist ungenützt. Tempel mit schlanken Kegeltürmen liegen Seite an Seite mit Palästen. Alle Radscha Indiens haben hier ein Schloß. Die meisten sind geschlossen; Fenster und Balkone mit Läden zugedeckt; aber die breiten Treppen sind voll Dienerschaft. Blitzende Messinggefäße werden in dem gelben Wasser gespült. Weiße Stoffe werden gewaschen und auf den Treppenabsätzen zum Bleichen und Trocknen ausgelegt.
Es ist zeitig am Morgen. Der Fluß ist voll von Badenden. Sie sitzen auf den untersten Stufen, die Beine im Wasser, oder stehen bis an die Brust im Fluß, waschen Gesicht, Arme, spülen den Mund und heben die gefalteten Hände zum Himmel. Einige schöpfen Wasser mit der hohlen Hand und schleudern es aufwärts zur Sonne. Andere beten mit geschlossenen Augen, den Kopf in den Nacken gelegt, während sie dem Herrn der Welt ihre Handflächen entgegenstrecken. Wo der Zulauf am größten ist, sind Brücken ins Wasser hinausgebaut. Hier sitzen fromme Männer in langen Reihen in der Hucke, einige unbeweglich in schweigendem Gebet, andere mit lauter Stimme und erhobenen Armen betend.
An dem äußersten Ende einer Planke steht ein alter weißbärtiger Mann. Er ist nur mit einem Hüftentuch bekleidet. Der Führer kennt ihn wohl. Er ist jeden Morgen zwei Stunden an derselben Stelle. Langsam und feierlich nimmt er Reiskörner aus seiner hohlen Hand, hebt sie segnend mit zwei Fingern empor und schleudert sie gegen die leuchtende Sonnenkugel, in die er unbeschützt hineinstarrt, während seine Lippen sich im Gebet bewegen.
Ein weißes Leinenzelt, das bis an die Erde reicht, wird vorsichtig von vier Dienern die Treppe hinuntergetragen, während alles zur Seite weicht, Gefolge vorn und hinten. Es ist eine Rani, Frau eines Radschas, die baden will. Keiner darf sie sehen. Das Zelt wird wie ein Badehaus um sie gehalten, während sie im Wasser ist und wieder hochgehoben, wenn sie fertig ist. Nicht den kleinsten Schimmer ihres Pantoffels bekommen wir zu sehen. Ganz in ihrer Nähe schwimmt ein toter Körper im Wasser. Ein Hund oder –?
Die Leichen von Kindern unter drei Jahren werden in den Fluß geworfen.
Wir gleiten langsam an der Gat der Leichenverbrennung vorbei. Auf einer Bambusbahre wird eine frische Leiche die Treppe hinuntergetragen, so fest in weiße Tücher eingewickelt, daß man die Form des Körpers deutlich erkennt. Die Tücher werden abgewickelt. Zwei Leichenträger heben die Leiche von der Bahre, so daß der Kopf auf die Schulter rollt, tauchen sie in den heiligen Fluß und ziehen sie einige Male durchs Wasser, wie man ein Stück Zeug spült.
Auf einem breiten Absatz, etwas höher oben, stehen drei Feuer. Das eine raucht mit verkohlten Resten; die Leiche wird mit Klafterholz bedeckt, zwischen dem es rot leuchtet und knistert. Ein Priester betet zu Häupten der Leiche. Der nächste Anverwandte des Verstorbenen steht dabei, bis an den Gürtel entkleidet. Über Brust, Schultern und Rücken trägt er eine weiße Schnur; das ist die Brahmanenschnur, die ihn nie verläßt, das Abzeichen seiner Kaste.
Er bereitet den Toten zu der langen Reise, legt Blumen und Reiskörner auf seine Stirn, tropft Milch auf seinen Mund. Die Leichenträger reichen ihm ein brennendes Holzscheit. Er bückt sich und zündet den Scheiterhaufen an. Es ist seine Pflicht und sein Recht.
Dicht daneben, aber von der Verbrennungsstelle durch eine Mauer getrennt, sitzt die Witwe des Verstorbenen. Sie ist jung, ganz in Weiß gekleidet. Ihr Kopf ruht auf ihren Knien, sie trauert. Auf dem Absatz über ihr erheben sich einige Steinsäulen. Es sind Denkmäler für Witwen, die ihrem Gatten auf den Scheiterhaufen folgten. Die englische Regierung hat hiergegen schon lange Verbot eingelegt. Dennoch kommen heutzutage sowohl heimliche Verbrennungen wie Witwenselbstmorde vor.
In diesem Augenblick liefern einige Eingeborene auf dem obersten Absatz der Treppe eine frische Leiche ab. Es ist eine alte Frau. Der Führer, der sich erkundigt, erklärt, daß sie vorgestern mit dem Pilgerzug von weit hergekommen und vor einer Stunde an Pest gestorben sei.
Ganz oben auf der Treppe sitzen vier Heulweiber in Weiß, die Arme um die Knie verschlungen. Sie warten auf die Chance einer besseren Leiche.
Es ist viel zu tun heut bei der Verbrennung. Die Angestellten schnaufen und schwitzen, wissen nicht, wie sie Platz schaffen sollen. Sie räumen den rauchenden Scheiterhaufen, der am weitesten heruntergebrannt ist, beiseite. Glut, Asche, halbverkohlte Knochen, alles wird in den Fluß geworfen und treibt mit dem Strom langsam bis zur nächsten Gat, wo es voll von Badenden ist, die ihren Mund mit dem heiligen Wasser spülen und es trinken.
Etwas weiter fort sackt das Ufer unter dem Druck eines neuerbauten Tempels. Er steht mit seinem Fundament im Wasser und senkt sich nach rechts. Wenn einst eine starke Regenzeit den Fluß stärker anschwellen läßt, wird er sich losreißen und auf den Grund sinken. Aber angerührt wird er nicht. Siva hat es so gewollt, Siva hat ihn genommen.
In einem Steinkäfig, der zum Fluß offen ist, hockt ein nackter Mann, unbeweglich. Es ist ein buckliger Yogi, der sein Nest nie verläßt. Er ist sehr heilig und bekommt große Almosen.
Schließlich erreichten wir die unterste Gat, die dicht neben einer modernen Eisenbahnbrücke liegt, die über den Fluß führt. Hier, an einer Vorstadtstation, hielt ein eben angekommener Zug von Pilgern. Sie wimmelten wie weiße Ameisen aus den Waggonen und stürzten geradewegs auf den Fluß zu. Am Ziel ihres Lebens angelangt, konnten sie keine Minute länger warten.
Dann ruderten wir zurück. Vor dem Palais des Maharadscha von Nepal machten wir halt und stiegen aus, um den Tempel zu besehen, den er Siva geschenkt hat. Auf einem Plakat über der Landungsbrücke steht: »Ladies no admittance.« Und in Wahrheit: etwas so Unanständiges wie den Fries, der das Gesims des Tempels schmückt, wird man selbst in Pompejis heimlichem Raum vergeblich suchen. Der Führer erklärte entschuldigend, daß die Bilder als Blitzableiter dienten; denn selbst das Feuer des Himmels geniere sich, sie zu berühren.
Als wir an Land stiegen, kamen uns zwei Schlangenbändiger strahlend entgegen. Der eine trug eine Kobra, die er solange neckte, bis sie zischend mit gespreiztem Nackenkamm nach seiner Hand hackte. Der andere hatte seine Brust mehrfach mit einer Riesenschlange umwickelt und atmete so beschwerlich, als sei er dem Ersticken nahe.
Auf einem Treppenabsatz saß ein Yogi in einem kleinen Wagen, dessen Boden mit Nägeln gespickt war, die ihre Spitze nach oben kehrten. Er hockte auf den Eisennägeln, die Knie bis an die Brust gezogen und die Sohlen gegen die Spitzen gestemmt. Er war über und über mit Asche beschmiert, hatte langes Haar und einen Sonnenschirm überm Kopf, zum Schutz gegen die Sonne. Ein nackter Kollege reichte ihm seine Wasserpfeife aus Lehm. Er lutschte daran, daß es in der Pfeife gurgelte, und jeder, der vorbeiging, warf eine Münze in seinen Nagelkasten.