Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
In Penang nahmen wir sechshundert Kuli an Bord, männlichen und weiblichen Geschlechts.
Wir waren gerade in unserer Kabine, im Begriff, uns zum Diner umzukleiden, als ein Getrippel von nackten Füßen erklang, ein Gemurmel von tiefen Stimmen, ein Rascheln längs der Kabinentüren.
Wir guckten hinaus. Durch den langen Gang von vorn nach achtern strömte in unabsehbarer Fülle eine lebendige Last mit schmutzigen Hüftentüchern, unförmige Bündel auf dem Rücken.
Es wollte kein Ende nehmen. Wir kamen zu spät zum Essen, weil wir uns nicht gegen den Strom hinauswagten. Wie viele lebende Krankheitskeime mochten die nicht in ihren Bündeln mit sich schleppen? Obgleich nach ihnen gespült wurde, blieb doch der eigentümlich ranzige Kuligestank von Sesam- und Ölkuchen, von Betel und durchschwitzten! Zeug die ganze Nacht im Gang stehen, ja, drang sogar durch die Ventilluken in die Kabine. Es war furchtbar. Die Passagiere beklagten sich am nächsten Morgen. Die Invasion aber war im letzten Augenblick auf Befehl der Reederei gekommen, so daß man das Fallreep achtern hatte benutzen müssen.
Die lebendige Last wurde im Lastraum des Vorderschiffes verstaut. Sie füllten alle Etagen und lagen auf Borden, die in aller Eile gezimmert wurden. Sobald wir aus dem Hafen kamen und mit voller Dampfkraft fuhren, verbreitete der Luftdruck den Gestank übers ganze Schiff und benahm uns jeglichen Appetit, bis wir uns daran gewöhnten.
Von dem Querdeck mittschiffs konnten wir zu dem Privatleben der Kulis hinabblicken. In der warmen Nacht lauschten wir ihrem Trommel- und Flötenspiel, das von wehmütigen Liedern begleitet wurde, die wie Seufzer von stummen Gefangenen klangen. Plötzlich aber hob sich der Ton, von einer einzelnen kühnen Stimme geführt. Eine dunkle, wilde Lebensfreude arbeitete sich durch die Kehllaute hindurch, lauter und lauter erklangen die Trommeln, in demselben ewig wiederkehrenden Rhythmus, bis der wachthabende Offizier die Geduld verlor und hinunter sagen ließ, daß man den Mund halten solle. Dann starb der Gesang langsam hin und endigte in Schnarchen.
Ich guckte hinunter, als sie sich für den Tag bereiteten. Sie wälzten sich aus ihren Lappen heraus, verrichteten ihr Gebet vor der Sonne. Das erste, was sie genossen, war ein Betelpriemchen. Einer von den Jungen machte es zurecht, streute Kalk darauf, wickelte es in ein grünes Blatt und reichte es der Reihe nach jedem Familienmitglied. Dann kamen die Stewarde mit ungeheuren Schüsseln von gekochtem Reis. Die Kuli strömten herbei, ließen sich ihre Kummen füllen und glitten in ihre Familienwinkel zurück.
Mütter legten die schreienden Säuglinge an die Brust. Ein achtjähriger Junge geriet außer sich, weil er nicht zuerst bekommen durfte, bis die Mutter, des lieben Familienfriedens wegen, den Säugling wieder auf die Lappen legte. Da warf der Bursche sich in seiner ganzen Länge über die Mutter und trank aus allen Kräften.
Nach der Mahlzeit standen die Männer in dichten Reihen längs der Reeling und blickten über das stille Wasser zu den mangrovebewachsenen Ufern der niedrigen Inseln hinüber.
In der blendenden Morgenluft konnte man deutlich die lotrechten Luftwurzeln, die den Sumpf einhegten, unterscheiden. Hier und dort öffnete die Küste sich einem Bach, der das Mangrovegebüsch ein Stück landeinwärts teilte. Hinter den Mangroven, wo die Insel anstieg, fächelten Palmen, mit ihren Blattzipfeln, fingen die Sonne mit Glanzlichtern und ließen sie wieder los, in einem ewig strahlenden Wechselspiel.
Es waren die kleinen Klang-Inseln, hart an der Küste von Malakka. Sie bilden eine Reihe natürlicher Häfen. Viele von ihnen sind Landungsplätze für das reiche Hinterland, die Wald- und Erzgebiete der Halbinsel Malakka. Unsere lebendige Last war für einen derselben, für Port Swettenham, bestimmt.
Wir fuhren mit halber Dampfkraft zwischen den Inseln über die veilchenblaue Fläche, und zogen einen breiten, schaumgefleckten Kielwassergürtel hinter uns her, dessen Schlangenwindungen wir verfolgen konnten, soweit das Auge reichte.
Es war jetzt mit der Hitze ernst geworden. Sie stand wie eine graue Mauer am Horizont; sie fiel auf uns herab wie Glutkörper aus dem überfüllten Himmelskessel. Ohne Sonnenschirm war es auf Deck unerträglich und ohne Tropenhut wäre es tödlich gewesen.
Wir armen Weißen verkrochen uns, wo nur irgend ein Fleckchen Schatten zu finden war. Die erste Klasse war so überfüllt, daß noch die Hälfte von den Kabinen der zweiten Klasse für sie mit Beschlag belegt worden war. Der Deutsche und ich waren einer von denen, die sich mit einer solchen begnügen und noch dazu froh sein mußten, daß wir überhaupt mitgekommen waren. Aber die Folge davon war, daß alles, was Liege- und Sitzplätze auf dem Promenadendeck hieß, vom frühen Morgen an, ja sogar während der Nacht, besetzt war; viele der Passagiere, Herren sowohl wie Damen, schliefen auf Deck.
Man wurde mißgünstig in der Hitze, guckte die Glücklichen, die einen Easychair besaßen, scheel an, lauerte auf eine Gelegenheit und stürzte sich wie Bremsen auf einen Stuhl, der mit einem Seufzer von dem Besitzer verlassen wurde, wenn eine zwingende Notwendigkeit ihn forttrieb; er wußte, daß er ihn nicht mehr zu sehen bekommen würde, so lange die Sonne am Himmel stand.
Wie wurde getrunken! – Wer nicht in den Tropen gewesen ist, weiß nicht, was ein Lemon-squash für eine Gabe Gottes ist. Man trinkt ihn zu den Mahlzeiten, zwischen den Mahlzeiten und vorm Zubettgehen. Er setzt die Temperatur herab.
Ich hatte eine Ecke im Rauchsalon gefunden und versuchte zu lesen. Mir gegenüber saß ein amerikanischer Journalist, der für ein Syndikat von Missionszeitungen der Vereinigten Staaten reiste, und auf seiner Reiseschreibmaschine klapperte, mit einem grünen Schirm vor den Augen. Er erledigte sein Pensum, zweitausend Worte, vorm Lunch, und gebrauchte seine Augen und seinen Mund den übrigen Teil des Tages.
Eine echt amerikanische Karriere, als Setzerjunge bei einer Zeitung in Newyork begonnen und vorläufig als Globetrotter beendigt. Das erste Ende legte er mühsam zurück, indem er auf die Planke der Politik hinaufkletterte; dann erreichte er einen Ast des schattenspendenden Baumes der Mission, klammerte sich daran fest und schwang sich zu den Früchten hinauf. Jetzt hängt er in der weitverzweigten Krone und pflückt fröhlich drauflos. Wenn er genug Früchte hat, startet er ein Weltblatt und setzt Präsidenten ab und ein, mit dem Schwert der öffentlichen Meinung in seiner Hand.
Ich hatte gerade angefangen, mich in mein Buch zu vertiefen, als das Schiff einen Ruck gab. Der Rumpf bebte, daß die Fensterscheiben klirrten.
»Wir stoppen!« sagte der erfahrene Amerikaner, nahm seinen Augenschirm ab und sah zu den Fenstern hinaus.
Wir fuhren mit voller Kraft back. Die Mangroveküste, kaum eine halbe Meile entfernt, lag bereits still, als wir zu der Reling hinaustraten.
Dort vor uns in dem blauen Wasser standen zwei menschliche Wesen und winkten uns aus allen Kräften. Sie standen auf dem glatten, runden Kiel eines gekenterten Bootes. Zwischen dem Schilf und unserem Dampfer entdeckten wir einen schwarzen Kopf. Es war ein Mensch, der auf uns zugeschwommen kam.
Das Wasser war spiegelblank, die Küste ganz nah und einige hundert Meter entfernt glitten einige eingeborene Schiffe mit schlaffen Segeln.
Anfangs konnten die Schiffbrüchigen auf einer sonnenbeschienenen Spiegelfläche unsere Teilnahme nicht recht erwecken. Selbst wenn sie die ganze Nacht über auf dem Kiel gesessen hatten, so waren die eingeborenen Boote doch ganz in der Nähe: Trotzdem winkten die beiden draußen um ihr Leben, das war nicht zu verkennen.
Der Dampfer legte sich ganz auf die Seite; denn alle sechshundert Kuli hingen über die Reling und machten ihren Gefühlen Luft. Sie riefen und winkten dem Schwimmenden zu, um ihn bei Mut und Kräften zu erhalten.
Jetzt war er ganz nah. Ein Tauende wurde hinausgeworfen. Er machte noch einige krampfhafte Züge, ergriff es dann und enterte mit den Füßen die Schiffswand hinauf, bis er an Bord war. Es war ein Chinese.
Wir hatten inzwischen das Rettungsboot klargemacht. In diesem Augenblick stürzte sich der eine von den beiden, die noch auf dem Kiel des gekenterten Bootes standen, ins Wasser. Viele Stunden mußten sie rittlings auf dem Wrack gesessen haben, denn die Chinesen sind zäh wie die Katzen; er aber war erschöpft und machte den Sprung in der Ungeduld der Verzweiflung. Da schlug plötzlich die atemlose Spannung über uns alle zusammen – hier galt es Leben und Tod. Die Ruder bogen sich unter den Kraftgriffen der Matrosen, und der halbtote Schwimmer versuchte mit fuchtelnden Armen den Abgrund zwischen Leben und Tod zu überwinden.
Er kam nicht vorwärts. Er tauchte unter. Uns machtlosen Zuschauern stand das Herz still. Da kam sein dunkler Kopf wieder zum Vorschein, mit einer letzten Kraftanstrengung hatte er sich von seiner Jacke befreit.
Ein alter Chinese war allein auf dem Kiel zurückgeblieben; er wollte sich nicht von seiner Dschunke trennen, die wahrscheinlich alles enthielt, was er besaß; er rief dem Schwimmer zu, um ihn zu ermuntern; und als er sah, daß er auf der Stelle herumpatschte, ohne vorwärtszukommen, während das Boot jetzt ganz nah war, schleuderte er mit Aufgebot aller Kräfte und obgleich die Gefahr nahelag, daß er den Kopf des Sohnes treffen könne, seinen langen Staken zu ihm hinaus, damit er sich daran festhalten konnte.
Der Schwimmer sah es nicht. Er fuchtelte noch einmal mit den Armen durch die Luft, schrie und sank unter. Im selben Augenblick war unser Boot bei ihm. Zwei Matrosen beugten sich über den Rand, ergriffen den Staken und folgten dem sinkenden Körper durch das kristallklare Wasser. Der eine streifte seine Jacke ab, sprang über Bord, tauchte unter und wurde seiner habhaft. Einen Augenblick später war er im Boot, während die Spannung der Kuli sich in einem lauten Freudengeheul Luft machte.
Obgleich diese sechshundert Hinterinder die Chinesen hassen, die von weither kommen, auf ihrem Boden schmarotzen und sie unterbieten, so schrien sie doch vor Freude, weil diese Beute dem Tode entrissen war. So ist der Mensch. Diese innerste Gemeinschaft der Seelen ist der Triumph des Lebens.
Das Boot erreichte das gekenterte Schiff. Der Chinese verließ sein irdisches Eigentum weinend, wurde in das Boot gehoben, das zurückgerudert und mit seiner Beute in die Höhe gehißt wurde. Er konnte selbst heraussteigen; der Sohn aber wurde mit halbgebrochenen Augen aufs Deck getragen, wo man ihn rollte, bis das Wasser seinen Körper verließ. Der indische Schiffsarzt flößte ihm Whisky ein. Noch vor Abend saß er aufrecht auf dem Vorderdeck in einem Kreis schweigsamer Kuli, und aß Reis mit seinem Vater und Bruder.
Es ergab sich, daß das gekenterte Boot wirklich das gesamte Besitztum der Familie enthielt. Das erzählte jedenfalls der Alte in seinem Pidgin-Englisch allen, die es hören wollten. Der Offizier, der das Rettungswerk geleitet hatte, zuckte skeptisch die Achseln und murmelte etwas von der Chinesenbank in Singapur. Denn so ist der Mensch: Ist erst das Leben gerettet, dann soll mehr gerettet werden; auch aus der Todesgefahr kann ein Geschäft gemacht werden.
Der Amerikaner, der für Missionszeitungen reiste, veranstaltete eine Sammlung. Wir gaben alle, und als die drei Chinesen am nächsten Morgen mit den sechshundert Kuli vor Port Swettenham in Prahme umgeladen wurden, überreichte der Amerikaner den Schiffbrüchigen eine Börse mit 300 Strait-Dollar (ungefähr 700 Mark).
»Ich kenne die Chinesen,« sagte der Offizier mißbilligend, »wenn dies ruchbar geworden ist, wird es eine beliebte Einnahmequelle werden, den Kiel eines alten, modrigen Schiffes nach oben zu kehren, wenn die Paketdampfer im Fahrwasser sind.«
Hinterher besprachen wir die Begleitumstände. Wie war es möglich, daß die Schiffbrüchigen nicht schon gerettet worden waren – bei windstillem Wetter, so nah der Küste und mit Booten ringsherum?
Der Amerikaner meinte, daß die Malaien die Chinesen mit Gemütsruhe ertrinken ließen. Dagegen aber sprach die lebhafte Anteilnahme der Kuli.
Der Deutsche gab der Ansicht Ausdruck, daß es religiöser Aberglaube sei. Wenn die arglistigen Meergötter sich diese Chinesen als Beute ausersehen hatten, so war es, weil sie hungrig waren; und die Menschen, die sich in diese persönliche Angelegenheit mischten, setzten sich der Gefahr aus, daß die Götter die Ausersehenen fahren ließen und sich statt dessen der Retter bemächtigten.
Der Offizier aber, der diese Fahrwasser schon manches Jahr befahren hatte, entschied die Frage:
Wer einen anderen Menschen vom Tode errettet, macht sich, nach Vorstellung der Eingeborenen, zu dessen »Vater und Mutter«, nimmt die Verantwortung für sein Leben auf sich. Der Gerettete wird seinen Retter nie aus dem Auge verlieren; stößt ihm später mal ein Unglück zu, wird er ihn wie seinen Erzeuger verantwortlich machen und Hilfe von ihm fordern.
Ich erinnerte mich Kiplings Erzählung von dem Bettler, der seinen Laden im Schatten des Gartenzaunes eines himmelgeborenen Sahibs errichten durfte, den er schließlich unter Anrufung seiner Vater- und Mutterwürde aus seiner Villa vertrieb.