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Durch die Levante

 


Der Kanarienvogel

Ich war allein im Kupee und hatte mich selbstverständlich über alle acht Plätze ausgebreitet; und bis jetzt war es mir gelungen, meine Nächsten von meinem Gebiet fortzuhypnotisieren. Ich wiegte mich in dem uralten Recht des Eroberers; bei Marasesti aber wurde meine Souveränität infam niedergetreten.

Während eines zwei Minuten langen Aufenthaltes wälzten zwei eingeborene Diener und zwei Gepäckträger eine Wagenladung von Gepäck ins Kupee.

Dann kam der Herr. Groß, dick, schwarzbärtig. Ohne Gruß, mit einer selbstverständlichen Munterkeit nahm er das Kupee in Besitz.

Dann kam die Frau. Klein, halb elegant, halb vornehm; Rassennase, große, ausdruckslose Augen, wie bei Frauen, denen das Leben sorglos zu Füßen gelegt worden ist.

Und dann ein kleines zehnjähriges Mädchen; blaß und hohlwangig, mit großen, kränklichen Augen, künstlichen Locken, künstlichem Lächeln, künstlicher Stimme. Einziges Kind. Die Hände tief im Muff. Frostig, mit gefütterten Pelzstiefeln über den Schuhen.

Nicht nur die Herrschaft wälzte sich auf mich; auch die Dienerschaft ignorierte mich so ausdrücklich, daß es mir klar wurde, daß ich es hier mit großen Leuten aus der Gegend zu tun hatte.

Im Handumdrehen hatten sie mich von den acht Plätzen vertrieben. Was sie nicht selbst besetzen konnten, wurde mit Gepäck, Pelzen und Decken belegt.

Im letzten Augenblick kamen noch drei Passagiere. Die Mamsell, bescheiden gekleidet, Schweizerin, Gouvernante oder Bonne. An der einen Hand führte sie einen Teckel, der sofort unter die Sitze kroch, soweit seine Kette reichen wollte. Und in der anderen hatte sie einen Kanarienvogel im Käfig.

Zur Ehre der Mamsell sei gesagt, daß sie nicht gleich den Mut hatte, den letzten Platz mir gegenüber am Fenster einzunehmen, wo ich Mantel, Hut und Reisedecke hingelegt hatte. Die Dame aber, die ihr Zögern sah, sagte mit der souveränen Ungeniertheit, die Damen, Handelsreisende und Leutnants auszeichnet:

»Am Fenster, ma chère!«

Sie sagte es auf Französisch und ihre ausdruckslosen Augen streiften mich prüfend, ob ich diese Sprache wohl verstünde.

Die Mamsell wartete höflich, bis ich Mantel, Hut und Reisedecke auf meinen Schoß genommen hatte. Dann setzte sie sich und stellte den Kanarienvogel vor sich auf die Erde, so daß ich meine Füße nicht rühren konnte.

Das kleine Tier betrachtete mich mißtrauisch mit seinen blanken Augen. Dann setzte es sich philosophisch auf seiner Stange zum Schlafen zurecht.

Diese Menschen aus einer unwahrscheinlichen Gegend regierten ungeniert in einer unverständlichen Sprache. Ich war nur ein Hindernis in einer Ecke.

Ich überlegte, ob ich gegen den Hund protestieren solle. Der Kanarienvogel genierte mich allerdings mehr. Aber ich bezweifelte, daß etwas über ihn in den Reisestatuten vorgesehen sei.

Als aber der Kontrolleur hereinkam, um die Billette zu stempeln, gab ich jeglichen Protest auf. An seinem devoten Lächeln sah ich, daß die Herrschaft Gutsbesitzer, Minister oder Steuererheber sein müsse.

Ich ergab mich in mein Schicksal und begann das rumänische Familienleben zu studieren.

Fürwahr, eine liebevolle und glückliche Familie. Das Kind nahm den Teckel auf den Arm und küßte ihn auf die Schnauze. Der Vater zog das Kind an seine Brust und küßte es auf den Mund. Die Mutter betrachtete den Vater und küßte ihn mit ihren ausdruckslosen Augen. Und die Bonne wurde freundlich nach ihrem Befinden gefragt.

Um halb acht Uhr tauchte ein Mann mit einem Fes in der Tür zum Korridor auf. Es war der Diener. Er fuhr zweiter Klasse. Nicht, weil bei uns kein Platz war; er hätte ja meinen bekommen können. Auch nicht aus Lieblosigkeit, sondern nur, um den Rangunterschied zwischen ihm und der Gouvernante zu markieren, damit sie sich nicht gekränkt fühle.

Der Diener servierte zwei Eßkörbe. Und die Herrschaft begann zu dinieren.

Hors d'oeuvre – Fisch – Zwischengericht – kaltes Geflügel – Käse – Frucht und Dessert. Rotwein und Weißwein nach Belieben. Und Eau de Cologne zum Fingerspülen.

Bei der ersten Station wurde der Kaffee durchs Fenster serviert. Und der Diener holte die Eßkörbe mit den Resten und bekam den Teckel mit, aus natürlichen Gründen.

Was ist das menschliche Herz doch für ein edles Organ! Wie hoch muß die Bestimmung des Menschen sein, die ihren Ausdruck in der Familie, dieser sozialen Zelle, findet. Ja, das ist die Vervollkommnung des Menschentyps: der edle Vater, der treue Versorger.

Seht, wie sein Herz sie alle umschließt. Sein Auge gleitet bekümmert von Mutter zu Tochter, von Koffer zu Handtasche, selbst der kleine Hund hat Anteil an seinem Herzen, ja, ich traf sein Vaterauge sogar beim Kanarienvogel. Es forschte, ob er Samen im Napf und Wasser im Trinkgefäß habe.

O, wenn der Koffer über meinem Platz herunterfiele und mich auf den Kopf träfe, so daß ich über dem Kanarienvogel zusammenbräche, so würde er über den kläglichen Tod des kleinen Tieres weinen und nachsehen, ob der Koffer auch keinen Schaden gelitten habe. Mich würde er meinem Schicksal überlassen. Ich gehörte ja weder zur Familie, noch zur Gegend, ja nicht einmal zu seinem Lande. Was hatte ich überhaupt in seinem Familienkupee zu schaffen?

Ich fühlte mich von dieser wahren Menschenliebe aufs tiefste erniedrigt. Um mich wieder zu erheben, versetzte ich dem Käfig des Kanarienvogels einen Fußtritt.

Er hatte den Kopf unter den Flügel gesteckt; das eine Auge aber blinzelte durch die Federn. Und dieses Auge lachte.

 

Am Kai in Konstanzia lag das rumänische Postschiff zum Abgang bereit.

Nachdem die Familie glücklich an Bord gekommen war und vom Obersteward die besten Kabinen angewiesen bekommen hatte, stand der Abfahrt nichts mehr im Wege.

Ich spazierte in der stillen, milden Nacht auf Deck und sah zu, wie der Dampfer durch den engen Hafen manövrierte, zwischen grünen und roten Lichtern, ins Schwarze Meer hinaus.

Ich starrte übers Wasser, ich atmete tief und öffnete alle Sinne. Aber es wollte nicht kommen.

Das Schwarze Meer schien mir ein Wasser wie alle anderen, mit einer blanken Fläche, leisem Plätschern der Wellen am Steven und langen, zitternden Lichtstreifen von den Laternen. Je länger ich es betrachtete, desto bekannter erschien es mir.

Du mußt dich zusammennehmen, sagte ich mir. Bedenke, daß dieses Meer Rußlands und Asiens Küsten bespült. Bedenke, daß es ein historisches Meer ist, das alte Pontos euxeinos, das »gastliche«; im Krimkrieg war es das Schwarze Meer, das – und Gott weiß, ob es den Engländern auf die Dauer glücken wird, es wie einen Binnensee abzuschließen.

»Also Sie können auch nicht schlafen!« hörte ich da über meinem Kopf eine feine, aber deutliche Stimme.

Ich sah in die Höhe. Es war der Kanarienvogel. Sein Käfig war unter der Kommandobrücke aufgehängt. Er saß auf seinem Futternapf und guckte mit schrägem Kopf auf mich herab.

» Meine Schlaflosigkeit,« fuhr er fort, »ist rein zufällig, indem nämlich Mamsell vergessen hat, mich zuzudecken.«

»Macht der Gewohnheit,« sagte ich höflich und wollte das Tuch, das zusammengerollt in dem Griff des Bauers steckte, lösen.

»Ach nein, die milde Nachtluft tut mir gut, und ich bin nicht müde. Wenn Sie nichts Besseres vorhaben, können wir ein wenig zusammen plaudern. – Sehen Sie, meine Gesundheit ist etwas angegriffen; ich habe diesen Winter an einer hartnäckigen Bronchitis gelitten. Wir reisen jetzt nach dem Süden, damit ich meine Stimme wiederbekomme.«

»Ach, darum!« sagte ich und betrachtete ihn ironisch.

Ironie aber ist scheinbar eine menschliche Erfindung; denn der Kanarienvogel verstand sie nicht.

»Ja, warum sonst?« sagte er. »Zu Haus ist es doch am schönsten.«

»Und Sie nehmen die ganze Familie mit?«

»Man möchte ja ungern jemand von seinen Lieben entbehren. Das heißt, der Hund hätte meinetwegen nicht mitzukommen brauchen, sein Platz ist im Hause. Und Sie, mein Herr, Sie reisen wohl auch Ihrer Gesundheit wegen?«

»Nein, ich will eine Reise um die Welt machen, um fremde Länder und fremde Menschen kennen zu lernen.«

»So, so. Ja, das hab' ich schon früher gehört. Das ist auch so ein Selbstbetrug von den Menschen. Es gibt ja im Grunde gar keinen Unterschied. Ein Berg ist ein Berg, und ein Fluß ist ein Fluß. Nehmen Sie es mir nicht übel, aber Menschen haben die Angewohnheit, alles komplizierter zu machen, als es ist. Das erscheint uns Vögeln, die wir über den Dingen stehen und die Einheit des Lebens kennen, etwas komisch. Menschen reden immer so viel, anstatt ihre Augen zu gebrauchen. Und dann haben sie etwas, was sie Phantasie nennen, die geht mit ihnen durch. Ha, ha, entschuldigen Sie, da ist nun zum Beispiel das Schwarze Meer und das Rote Meer. Das eine ist nicht schwärzer und das andere nicht röter als ein anderes Wasser. Ihr Menschen aber habt eine wahre Angst, Wasser Wasser und Luft Luft zu nennen. Sie werden begreifen, daß andere das etwas sonderbar finden.«

Ich wollte protestieren, aber er ließ mir keine Zeit. Es war ein vornehmer Vogel, der keinen Widerspruch gewöhnt war.

»Und was hat das Herumreisen eigentlich für einen Zweck?«

Jetzt wurde ich ernst.

»Ich studiere den Menschen, den nackten Menschen. Ich will einen Blick hinter die Verkleidung tun, um das ursprünglich Menschliche zu entdecken.«

»Ha, ha – entschuldigen Sie, Verehrtester, aber das ist zu komisch. Der nackte Mensch – das ist ja die reine Phantasie. Ebenso gut könnte ich Kanarienvögel ohne Käfige studieren. Gibt es gar nicht, Verehrtester. Ich hab' mal von einem gehört, der seinen Käfig verließ und ihn nicht wiederfinden konnte. Vor Abend war er tot. Ich habe viele Kanarienvögel gekannt; ich bin nämlich viel gereist, bevor ich mich in der Familie zur Ruhe setzte; und ich kann Ihnen sagen, es gibt keinen anderen Unterschied, als daß der eine etwas gelber ist als der andere, einer hat eine gefleckte Brust, ein anderer einen gefleckten Schwanz, und einer ißt etwas mehr und hat es besser als ein anderer. Und was kann mir diese Erfahrung nützen? Ich ärgere mich höchstens, wenn ich sehe, daß andere es besser haben als ich.«

»Sie können Ihre Kanarienvögel-Erfahrungen nicht ohne weiteres auf Menschen übertragen. Ich möchte Sie darauf aufmerksam machen, daß –«

»Ums Himmels willen, nur keinen Streit. – A propos, mein Herr, haben Sie den Mann dort hinter der Taurolle gesehen. Das ist ein echter Alttürke, – er trägt einen Turban.«

»Ja, wirklich, – das ist der erste Turban, der mir auf meiner Reise begegnet.«

Ich ging etwas näher, um ihn im Mondschein zu betrachten.

»Ich hab' meine Jugend in der Türkei verlebt, darum weiß ich Bescheid. Sehen Sie, sein Turban ist grün, – obgleich Sie es bei Nacht nicht erkennen können. Menschen sehen ja nicht so gut, wie sie reden. Wissen Sie, warum er grün ist? Weil er in Mekka gewesen ist. Dann wird er Hadschi genannt und hat das Recht, einen grünen Turban zu tragen. Ist das nicht interessant?«

Das interessierte mich wirklich sehr, und ich hätte es sofort notiert, wenn es nicht zu dunkel gewesen wäre.

»Was sagen Sie dazu – Mekka!« wiederholte der Kanarienvogel und guckte mit schiefem Kopf auf mich herab.

»Die heilige Stadt des Propheten!« sagte ich.

»Und einen grünen Turban, nicht?«

»Ja – sagten Sie nicht Hadschi?«

»Hadschi, ja – notieren Sie sich das nur lieber gleich. Und daß er einen grünen Turban trägt und einen eigenen Namen hat –, ist das nicht furchtbar interessant?«

»Gewiß,« sagte ich etwas zurückhaltend.

»Denn sonst wüßte ja keiner, daß er in Mekka war, weil er genau derselbe ist, wie vorher. Und wollen Sie mir jetzt bitte sagen, Verehrtester, welchen Nutzen haben Sie von der Kenntnis dieser Dinge, abgesehen davon, daß Sie ein neues Wort zum Zwitschern bekommen haben.«

»Jede neue Erfahrung ist eine Bereicherung für den kultivierten Menschen,« sagte ich belehrend, »es ist ja möglich, daß Kanarienvögel –«

»Welche Erfahrung: Hadschi oder der grüne Turban?«

»Ich meine, daß der Mann in Mekka gewesen ist.«

»Aber Sie können doch nicht mit ihm darüber sprechen – und Sie sind ja selbst nicht dagewesen.«

»Das wäre natürlich das beste. Aber das läßt sich leider nicht machen. Die Intoleranz der mohammedanischen Religion – –«

»Und wenn Sie dagewesen wären, Verehrtester, würden Sie dadurch auch nicht im geringsten verändert sein. Es ist überhaupt eine lächerliche menschliche Einbildung, daß es merkwürdige und interessante Dinge gibt. Sobald Sie in der Fremde sind, sehen Sie, daß das Merkwürdige und Interessante ganz einfach und natürlich ist. Aber um diese Erfahrung zu machen, hätten Sie nicht so weit zu reisen brauchen, das hätten Sie sich im voraus sagen können, wenn Sie ein Kanarienvogel gewesen wären. Das ist eben die unglückselige Veranlagung, die alles schwerer macht, als es ist, die Menschen nennen es Phantasie. Glauben Sie mir, mein Herr, wie weit Sie auch herumreisen, Sie kommen doch nie aus Ihrem Käfig heraus. Das ist das einzig Sichere hier in der Welt. Ich hab' mal was von einem Menschen in einer Tonne gehört. Das war ein vernünftiger Mann, der war beinah so klug wie ein Kanarienvogel. Die höchste Weisheit in der Welt ist, sich in seinem Käfig zurechtzufinden und nicht nach dem anderer auszuschauen. Das hab ich getan und darum bin ich vergnügt und zufrieden. Und wär' es nicht meiner Bronchitis wegen – aber jetzt will ich schlafen. Wollen Sie bitte so freundlich sein, mich zuzudecken? Danke. Gute Nacht und auf Wiedersehen morgen.«


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