Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Indien ist das Urland des Menschenlebens, das spürt man am Verhältnis zu den Elementen. Trotz Eisenbahn, Dampfschiff, drahtloser Telegraphie (alles dies geht am Bewußtsein der Eingeborenen vorbei) sind Wasser, Erde, Luft und Feuer dieselben absoluten Elemente wie von jeher, Götter, die blind regieren und durch Furcht zähmen.
Selbst die hochkultivierte Rasse der Parsen (die Indiens Großkaufleute, Bankiers und Philanthropen umfaßt), hat sich nie von dem heiligen Feuer, der reinen Luft, der jungfräulichen Erde und dem unbeschmutzten Wasser freimachen können. Ihr Priester nimmt ein Tuch vor den Mund, während er seine Andacht vor der Tempelflamme verrichtet, damit sein Atem das Feuer nicht verunreinige.
Wie der Parse seinen Glauben an die Reinheit der Elemente, so hat der Hindu den tiefen Respekt der Einfältigen vorm Leben bewahrt. Die Jainen, die orthodoxeste Sekte, nehmen auch ein Tuch vor den Mund, doch nicht der Elemente wegen, sondern damit sie beim Einatmen keins der kleinen beschwingten Tiere der Luft töten, ja, mancher Jain zündet sogar nach Sonnenuntergang kein Licht an, damit Insekten dadurch nicht in den Tod gezogen werden.
Und Seite an Seite mit diesem: die Leichenverbrennung der Hindu. Leichen, die geradewegs aus dem Pestbett kommen, werden mit dem heiligen Wasser aus dem Ganges gewaschen und auf dem Scheiterhaufen von demselben Feuer verzehrt, das ihre Verwandten, die Parsen, nicht mit ihrem Atem zu kränken wagen.
So groß sind die Gegensätze in diesem wunderbaren Lande, wo Hindu und Parse friedlich in derselben Stadt, in derselben Straße handeltreibend zusammen leben. Alles ist ursprünglich, selbstverständlich, ist Religion.
Aber um und durch die uralte Kultur unserer arischen Stammverwandten, spinnt der Brite das erst kürzlich gewebte Netz der europäischen Zivilisation, einer Zivilisation, die sich auf Überlieferungen aus dem Orient vorwärtsschmarotzt und Leben mit Leibhaftigkeit, tieforganisches Denken durch Formeln ersetzt hat.
Ein vollkommen modernes europäisches Hafenbild bietet sich dem Reisenden dar, der von Bombays langgestreckter Reede zum erstenmal die Augen zu Indien aufschlägt.
Blaues Wasser, über dessen ölglatter Opalfläche kleine braune Möwen ihre Schatten ziehen. Ein Himmel ohne Wolken, von weißem Sonnenlicht durchleuchtet. Hinter der hohen, schmutzigen Kaimauer ein moderner Jachtklub und die imponierende Fassade des Taj Mahal Hotels, aus rotem Ziegelstein mit grauen Sandsteinportalen, Hunderten von Erkern, kleinen gekuppelten Ecktürmen und einer großen Turmkuppel über den fünf Etagen.
Taj Mahal – sprich: Tadsch Mahal – ist das erste Hotel in einer Stadt von ungefähr 900 000 Einwohnern in allen menschlichen Schattierungen.
Durch die breiten, gutgehaltenen Straßen sausen Automobile. Schokoladenfarbige Paria, die zerlumpte Schärpe stramm um den Unterleib, fegen Tieren und Menschen den bleifarbigen Staub ins Gesicht. Die modernen Steinhäuser sind in einem merkwürdigen Mischstil von englischer Gotik, venezianischer Renaissance und indischem Bungalo gebaut, mit mattenverhängten Balkonen vor den Fenstern aller Etagen.
Offene, sonnenglühende Plätze mit Steinfontänen und Statuen von Königin Viktoria und ihrem Prinzgemahl wechseln mit breiten Alleestraßen, die mit alten, schattenspendenden Baumkronen gesegnet sind. Dahinter lugen Türme in Tropfsteinarchitektur hervor – die St. Johnskirche, die Universität und das College –, alle jene Gebäude, die alte Kulturstädte kennzeichnen.
Die Straßen werden um das Zentrum herum enger, dort, wo Blacktown, die Stadt der Eingeborenen, liegt und »the wonderfull smell of the East« in sich birgt, wie Kipling mit einem sehnsuchtsvollen Ausdruck die Wehmut bezeichnet, die ihm von dem Lande seiner Kindheit in der Nase geblieben ist.
Die Häuserreihen werden niedrig, unregelmäßig, bunt. Himmelblaue Fensterläden erinnern an die verflossenen portugiesischen Tage, flache Dächer über hochsitzenden, vergitterten Fenstern an die arabische Herrscherzeit. Dann gibt es Holzhäuser mit offenen, gähnenden Läden im Erdgeschoß, während schwere Matten den lichtscheuen Schlafraum unterm glühenden Dach verdecken, wo sich ein leeres und empfindliches Kastendasein abspielt.
Der Stiefelputzer mit seiner Stiefelbank an einem Riemen um den Hals, wendet sein schwarzes Gesicht unter der violetten Mütze nach dem Wagen um, der so dicht an ihm vorbeistreicht, daß der Radkasten sein Lendentuch streift. In seinen leeren Augen ist weder Zorn noch Angst, denn es sind ja Halbgötter, Weiße mit Tropenhüten und anderen göttlichen Attributen, die seinen Schatten überfahren haben.
Der Straßenverkäufer aus einer fernen Berggegend in Indien, mit unbekanntem Dialekt, dessen breitnasiges, dünnbärtiges Gesicht aus all dem Weißen, das er sich zum Schutz gegen die Sonne an seinen mageren Körper gehängt hat, herausguckt, bietet an der Straßenecke die unglaublichsten Zuckersachen in allen Regenbogenfarben feil, die er vor sich auf dem Leib trägt.
Ein Parsenpriester in einem langen, weißen Mantel, mit ausgeschnittenen Schuhen über blauseidenen Socken, kommt mitten in der Straße dahergeschritten, rein an Körper und Seele. Ein lebendiger Geist strahlt aus seinen klugen Augen und spricht aus dem hohen Streben hinter seiner schmalen Stirn. Ein Aristokrat, der von seinem seelischen Überfluß gibt.
Zwei dichtverhüllte Mohammedanerinnen in dunkelroten Gewändern tasten sich über die Straße, von dem Kopfschleier geblendet, der sie von der Umwelt trennt.
Ein prangender Hindu aus der Oberkaste der Brahmanen, ein Pandit, die weiße Toga über die Schulter geworfen, mit festem Fleisch, hervortretenden Augen, geht stolz erhobenen Hauptes, würdig, an uns vorbei. Aus seinen dunklen, weitgeöffneten Nasenflügeln, seinem hellbraunen, runden Nacken spricht uralte Rasse. Arisches Vollblut, das durch jahrhundertalte Kastengesetze rein erhalten worden ist. Obgleich er sich den Anschein gibt, uns nicht zu sehen, drückt sein vornehm zur Schau getragenes Selbstgefühl dennoch klar und deutlich aus, daß er uns fahrende Weiße für kastenlose Barbaren hält, die auf seiner Heimaterde schmarotzen.
Elektrische Straßenbahnen klingeln und kreischen wie in unseren eigenen Städten. Sie haben zwei Abteilungen, eine für bessere Leute und eine für die, die noch durch Millionen von Geburten von Nirwana getrennt sind.
Inmitten der Stadt der Eingeborenen, in Bhendi Basar, liegt das Viertel der arabischen Pferdehändler. Eine hohe Mauer schließt das Viereck ein, in dem sich Ställe, Reitbahnen und Wohnungen für die Beduinen befinden, die aus den arabischen Wüsten kommen, um Engländern und Indern ihre Pferde zu verkaufen.
Wenn man weiß, was das Pferd für einen Beduinen bedeutet, wie er und sein Pferd sich durch Blicke verstehen, einander ihre Sorgen anvertrauen, auf ihrer Wanderung durch die Wüste des Sandes und des Lebens zusammen weinen und lachen, dann begreift man, daß auf der Reitbahn hinter der Mauer, mitten im Sonnenlicht, Wehmut und Wüstensehnsucht brüten.
Jeder dieser Grauschimmel, dessen feines Fell unter deinem Blick bebt, während seine scheuen Augen blitzen und das Maul unter den rosenroten zitternden Nüstern zuckt, jeder einzige wittert, daß du ein Fremder bist, und fürchtet, daß du ihn seinem Herrn entführen willst, der in seinem groben Mantel, unbeweglich, mit stummen Augen in der Hucke dasitzt.
Er hockt im Kreise mit seinen Wüstengenossen, die gleich ihm schweigen und sich sehnen. Sie sitzen auf der bloßen Erde vor dem niedrigen Hause. Dieser und jener hat seine Lehmpfeife angezündet und läßt den Rauch zwischen den halbgeöffneten, dicken, unbeweglichen Lippen hindurchschlüpfen. Er rührt sich nicht, blinzelt nur mit den Augen, wenn du vorbeigehst. Ob er nicht trotz Armut und Not, die ihn von fern hierher getrieben haben, im Innersten davor zittert, daß du gerade vor ihm haltmachen und ihn mit klingender Münze von seinem teuersten Gut trennen willst?
Aus der langen Reihe der Bambusställe, wo die Tiere an den Hinterbeinen angebunden stehen, damit sie ihren Grimm nicht an den Besuchern auslassen sollen, ertönt leises Gewieher und Halftergerassel. Es ist das flüsternde Leben vieler bekümmerter Pferdeseelen, die mit der Seele ihres Herrn Zwiesprache halten und sie bei allen gemeinsamen Wüstenerinnerungen beschwören, diese öde Stadt doch mit ihnen zu verlassen.
Sieh – da kommen zwei Pferde angesprengt, mit fliegenden Mähnen, erhobenen Köpfen, das Maul vor Aufregung bebend. Zwei Jungen von höchstens zwölf Jahren reiten sie auf ungesatteltem Rücken, die Hand tief in die Mähnen vergraben, reiten sie unter lauten Zurufen, die nur sie verstehen. Die Pferde rasen in gestrecktem Lauf um die lange, schmale Bahn, so daß der Staub in Wolken aufwirbelt.
Am Ende der Bahn steht ein vornehmer Hindu. Sein Bart ist auf Radschaart am Kinn in Büschel geteilt. Hinter ihm steht sein Diener mit dem Pferdeschwanzwedel, dem Abzeichen seiner Würde. Neben ihm ein Beduine, ein Häuptling an Wuchs und Miene, dessen Augen an den Tieren und Jungen hängen, die ihm gehören.
Jedesmal, wenn die erregten Tiere an ihm vorbeikommen, flüstert er ihnen einige Worte zu, die sie im Vorbeijagen mit ihren spitzen Ohren auffangen, eine Ermunterung, eine Zärtlichkeit.
Es ist ein Stück Heimatleben, das sich hier abspielt; eine Stimmung vom Wüstensaum, die zu denen hinüberweht, die dort in der Hucke sitzen. Einer nach dem anderen erhebt sich und blickt gespannt zu der Vorführung hinüber; dann gehen sie näher, bilden eine Gruppe, wechseln vereinzelte kurze Bemerkungen, nicken und flüstern den Pferden zu.
Aus den Bambusverschlägen tauchen Stallknechte auf, mit verschlafenen Augen. Sie schlafen neben den Pferden auf einer Pritsche. Wenn sie ihre Morgenarbeit getan haben, verschlafen sie den halben Tag, um die Zeit in dieser Wüste ohne Sand, ohne Luft und Weiten hinzubringen. Sie kommen heran, genießen den Anblick und vergessen die Sonne, die auf ihren entblößten Köpfen brennt.
Ich weiß nicht, wie die Sache endete. Als die Pferde schließlich ihren Rundlauf beendigt hatten und bebend und trippelnd von der fürsorglichen Hand ihres Herrn abgetrocknet wurden, sah ich, wie der Radscha mit seinem Diener abseits ging, während die Beduinen sich in einem düsteren Haufen um den Besitzer der Pferde scharten, als wollten sie ihn warnen, sich des elenden Mammons wegen von seinem teuersten Gut zu trennen.
Die Geschichte schien langwierig zu werden, wir hatten noch viel zu sehen und der Wagen wartete draußen.
Wir fuhren durch eine Seitenstraße, die mit der hinteren Mauer der Stallgebäude parallel lief. Sie war menschenleer und hatte keine Läden. Fenster und Balkone waren von Matten zugedeckt. Der frische Stallgeruch vermischte sich mit den unbeschreiblichen Gerüchen, die einem im Orient aus bevölkerten Vierteln entgegenschlagen.
Wo war all das Leben, nach dem es hier roch? Schlief man dort oben noch hinter den Matten?
Eine Tür wurde geöffnet. Aus der Dunkelheit des Rahmens hob sich eine weiße Frauengestalt ab. Ein Araber, wie die Stallknechte gekleidet, die ich eben gesehen hatte, trat ins volle Sonnenlicht, reckte die sehnigen Glieder, sandte der verweilenden Frau ein Lächeln liebkosender Verachtung und schlenderte an der weißen Mauer entlang, während die Tür zufiel.
Da wurde mir die Bedeutung der öden Straße hinter den Ställen der Araber klar.
Der Wagen fuhr durch einen Trichter von Lehm- und Holzhäusern, ärmlich und baufällig, durch eine hohe Toröffnung, hinter deren Flügel sich Frauen, Kinder und Krüppel drängen. Armstummel werden mir entgegengestreckt, weitgeöffnete Augen mit blinden Pupillen richten ihren grinsenden Tod auf die meinen. Offene, eiternde Wunden werden gezeigt. Die Not, so phantastisch und selbstbewußt, wie man sie nur in Indien findet, schreit in einem vielstimmigen Chor nach Almosen.
Es ist unmöglich. Gebe ich einem, fallen zehn über mich her. Entweder allen oder keinem.
Aus der offenen Tempeltür kommen seidengekleidete, ringrasselnde Hindufrauen, deren schwarzglänzende Haare glatt um das edle Oval des Kopfes liegen. Sie bleiben auf dem Wege zum Tor stehen und geben ihren schwarzen Dienerinnen Geld, damit sie es zwischen den ausgestreckten Händen verteilen.
Mitleid leuchtet aus den betrübten Augen der vornehmen Hindufrau, obgleich diese schreienden Lebensüberreste, die sie umdrängen, nur Seelenlose ohne Kaste sind, die ihre Hand nicht berühren, ihr Auge kaum streifen darf. Aber die ringgeschmückten Frauen der obersten Kaste wissen, daß auch sie sterben müssen.
Seite an Seite mit dem Tempel, hinter demselben Tori, liegt Pinjrapol, Bombays berühmtes Tierasyl, das seine Existenz dem Respekt zu verdanken hat, den der Jain vor allem Lebenden nährt. Die Philanthropen dieser Sekte haben es gestiftet und unterhalten es.
In einem großen Hof, der durch Gitter in kleinere Abteilungen eingeteilt ist, befinden sich gichtschwache Ochsen, mißgestaltete Kühe und Ziegen. Pferde, die wegen Altersschwäche abgedankt haben, genießen hier das Gnadenbrot in Gemeinschaft mit verkrüppelten Hunden, feuerbeschädigten Katzen, Schweinen auf Krücken. Ob es auch eine Abteilung für Singvögel gibt, die ihre Stimme verloren haben, weiß ich nicht; aber ich sah einen Hahn, der mit einem roten Lappen um das eine Bein herumhinkte.
Inmitten des Hofes liegt ein niedriges Gebäude. Der Pförtner nannte es das Hospital. Aber sein englischer Wortvorrat reichte leider nicht aus, um mir Aufklärung darüber zu geben, wie die Arbeit eingeteilt sei, wieviel Betten, Ärzte, Krankenpflegerinnen da wären, und die Tür war vor Fremden verschlossen. Die Sterblichkeit ist sicher nicht gering. Ich sah einen Aasgeier hoch oben im blauen Himmel kreuzen, der seinen kahlen Kopf spähend auf den Hof gerichtet hielt.
Auf der anderen Seite der Backbucht erstreckt sich die Spitze des Malabar-Höhenzuges ganz bis ins Meer hinein, mit grünen Palmenhainen, weißen Villenmauern, braunen Bungalos und roten Dächern.
Hoch hinter dieser bunten, lebendigen Riviere liegt der Tempel der Parsen mit dem heiligen Feuer, das niemals ausgeht, und die Türme des Schweigens.
Man fährt über einen makadamisierten Zickzackweg mit prachtvollen Blumenrabatten zu beiden Seiten zur Anhöhe hinauf. Sobald man das Tempelgebiet erreicht hat, wird der Weg von schlanken Zypressen und untersetzten Palmen verdüstert. Lautlos gleiten die Räder über die feuchtweiche Erde, und Kirchhofsstimmung legt sich aufs Gemüt, obgleich keine irdischen Menschenreste in der jungfräulichen Erde der Parsen ruhen dürfen.
Ich hatte versäumt, mir eine Eintrittserlaubnis vom Sekretariat zu verschaffen, weil ich nicht wußte, daß man sie brauchte. Ich machte meinem Kutscher Vorwürfe, daß er mich nicht darauf aufmerksam gemacht habe, er zuckte seine schwarzen Schultern und war so unschuldig wie ein neugeborenes Kind.
Der Pförtner kam aus seinem Pavillon und gab mir auf Malabar-Englisch zu verstehen, daß ich warten solle. Es sei Gottesdienst im Tempel, drüben, hinter jenem freistehenden Portal, am Ende der weißen Steintreppe. Einer von den Priestern sei sein Bruder, er würde auf dem Rückwege hier vorbeikommen. Dann wolle er sehen, was er für mich tun könne. Seine Hand rundete sich auf eine Weise, die nicht mißzuverstehen war.
Ich setzte mich auf die Gartenbank hinterm Pavillon und blickte in den veilchenblauen Himmel hinauf. Da hörte ich weiche Fußtritte von zahlreichen Füßen; hinter der niedrigen Mauer arbeitete sich ein Leichenzug aus der Stadt die breite Treppe herauf.
Voran zwei weißgekleidete Priester, von denen der eine ein Band hielt, das von der Bambusbahre herabhing, die vier Tempeldiener leicht und frei auf ihren Schultern trugen. Ich konnte die Kopfform und den gewölbten Brustkasten unter dem weißen Leichentuch unterscheiden. Es schien der Körper eines jungen schmächtigen Weibes zu sein. Gleich hinter der Bahre gingen zwei schwarzgekleidete Parsen mit hohen, schwarzlackierten Hüten und Sonnenschirmen. Der eine weinte. Dann folgte paarweise ein Zug von Weißgekleideten.
Alle gingen mit gesenkten Köpfen; keiner sprach. Hoch oben in der Luft kreisten zwei Aasvögel auf großen Schwingen, legten den kahlen Kopf auf die Seite und maßen mit ihren scharfen Augen Form und Größe des Frühstücks, das ihrer wartete.
Kurz darauf erschien der Bruder des Pförtners. Als er von meinem Anliegen hörte, nickte er und forderte mich in gutem Englisch auf, ihm zu folgen.
Er hatte ein mildes Gesicht mit tiefen Runzeln; die klaren, grauen Augen waren von einem Schleier bedeckt, als hätten sie kürzlich geweint; der weiße Bart war lang, als hätte ihn nie eine Schere berührt. Er sprach vorsichtig und tastend, wie ein Mönch, der im Schweigen geschult ist; nach und nach aber kam seine Zunge in Schwung, und seine Stimme wurde laut und eindringlich.
»Wir Parsen,« sagte er, »glauben nur an einen Gott!«
Ich sah seinen Augen an, daß er an die christliche Dreieinigkeit und die Trimurtie der Hindu dachte.
»Wir sind ein konservatives Volk und glauben das, was unsere Vorfahren vor Jahrtausenden geglaubt haben, und wir leben in unserem Glauben.«
Seine Augen sagten: »Wir sind nicht wie Christen, die etwas bekennen und nicht danach leben.«
»Wir Parsen sind Brüder.«
Seine Augen fragten: »Ihr Christen aber, die ihr mit Feuer, und Schwert im Namen der Zivilisation über die Welt geht, was seid ihr?«
Er führte mich zum Vorhof des Tempels hinauf, einem viereckigen Gebäude, ernst und würdig, ohne Schmuck, ohne Turm. In dem Hof, der von weißen Fliesen leuchtete, saßen fromme Männer längs der Mauer in der Hucke, in Anbetung der Sonne versunken. Sie achteten unserer nicht, und es gab hier keine Bettler wie in den Hindutempeln.
Die Tür zum Heiligsten stand offen. Der Eintritt war mir versagt; drinnen im Halbdunkel aber sah ich ein hohes Gitter mit goldenen Ornamenten; dahinter stieg aus einem Becken auf einer mannshohen Vase ein weißlicher Rauch in die Höhe. Das war das heilige Feuer.
Der Parse erklärte mir, wie die Andacht verrichtet wird. Der Priester nähert sich dem Feuer mit einem Tuch vorm Mund, kniet nieder, schöpft mit einem silbernen Löffel glühende Kohlen aus dem Becken; auf die Glut im Löffel legt er dann das wohlriechende Sandelholz, das die Gemeinde opfert.
Vom Tempel gingen wir in den Garten, der wie ein südfranzösischer Klostergarten angelegt ist, mit niedrigen Rabatten in geometrischen Formen, durch kleine Kieswege voneinander getrennt. Da war ein Reichtum an Blumen, Pelargonien, Hibisken, Drazenen, Bougainville. Er trat leise und feierlich auf, und die Kirchhofsstimmung verließ mich keinen Augenblick. Wir erreichten die Gartenmauer. Dort, keine hundert Schritte von uns entfernt, lag der größte von den Türmen des Schweigens.
So hoch wie ein zweistöckiges Haus, rund wie ein Gaswerkbehälter und ohne Dach. Er liegt auf dem höchsten Punkt des Hügels, von schlanken Palmen umgeben.
Neben der Mauer steht unter Glas ein Modell von der inneren Einrichtung des Turmes. Der Boden fällt zur Mitte schräg ab und umfaßt drei Ringe, die durch radiale Scheidewände in viele kleine Räume eingeteilt sind. Der äußere Ring ist für männliche Leichen bestimmt, der mittlere für weibliche, in dem innersten, dessen Abteilungen kleiner sind als die anderen, werden nur Kinderleichen aufgenommen. In jedem Raum ist eine Abflußrinne, durch die Blut und Regenwasser über die schräge Fläche zu einem tiefen, runden Behälter in der Mitte des Bodens abfließen können. Der Behälter geht bis zum Fuß des Turmes durch und entleert seinen Inhalt durch Seitenrohre, die mit Kohlen gefüllt sind, wodurch die Flüssigkeit filtriert wird, bevor sie sich mit dem Grundwasser vermischt.
In dem offenen Turm sind die Leichen Sonne, Luft und Regen ausgesetzt; da aber die Aasgeier sie in weniger als zwei Stunden verzehren, bleibt keine Zeit zur Verwesung. Selbst in der wärmsten Zeit kommt es nicht vor, daß man Leichengeruch in der Nähe spürt.
Links liegt ein zweiter, niedrigerer Turm. Dort kommen die hin, die durch Selbstmord, Unglücksfall oder Operation ums Leben kamen – alle die, deren Gesichter nach dem Tode von anderen als den Nächsten gesehen worden sind, denn das ist eine Verunreinigung.
Der Parsenpriester erzählte mir, daß die Geier sich um das rechte Auge der Leichen reißen, warum, wußte er nicht; aber er glaubte fest daran. Er erzählte ferner, daß, als vor einigen Jahren die Pest in Bombay wütete, die Vögel nicht imstande gewesen wären, die Arbeit allein zu verrichten, und daß mit großem Kostenaufwand Geier aus ganz Indien hergeschafft werden mußten.
Die mächtigen Aasvögel saßen Seite an Seite auf der Mauerzinne. Ich zählte über dreißig. Einige kreisten über dem Turm, andere saßen in träger Erwartung und starrten in ihren noch leeren Freßtrog. Es waren übernährte, feiste Tiere, die ihre kahlen Totenschädel hin- und herdrehten und die Füße abwechselnd hoben, wenn sie müde vom Sitzen waren. Sie unterhielten sich von Wind und Wetter, während sie auf ihr Frühstück warteten.
Da kamen die Tempeldiener mit der Bahre, die ich eben gesehen hatte. Sie trugen die Leiche über eine Brücke zu einer Luke im Turm, der einzigen Öffnung. Sie verschwanden in der Dunkelheit des Raumes. Noch bevor sie mit der leeren Bahre zurückgekehrt waren, wurde die Luft von Flügelschlag und häßlichem, lüsternem Geschrei erfüllt. Der Vogelschwarm hatte sich vom Mauerrand erhoben, schwebte einen Augenblick mit ausgebreiteten Flügeln und offenen Schnäbeln über dem Turm und verschwand dann in der Tiefe desselben.
Der Parsenpriester senkte die Lider und den Kopf wie zum Gebet. Ich bekam Herzweh und wandte mich ab.