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Von Kalkutta zum Himalaja

Die Sonne glüht über Kalkutta. Ihre Strahlen dringen durch die Kalesche, so daß es einem vor den Augen flimmert und der Kopf schwer wird. Wo das Wagenverdeck nicht hinreicht, fühlt man das Licht wie durch ein Brennglas.

Die Luft ist mit Wasserdämpfen aus dem breiten Fluß gesättigt, der gelb und schmutzig unter der Hooghlybrücke fließt, auf der aller Verkehr stillsteht. Es ist Brückenzeit. Dampfer sollen passieren.

Das abgesperrte Stück ist gedrängt voll von Wagen, Ochsenkarren, Automobilen. Knochendürre Kuli sitzen auf ihren abgeladenen Warenbündeln, mit erloschenen Augen, und Händen, die vor Opiumhunger zittern.

Ein scharfer Geruch schlägt einem aus den verschwitzten Körpern entgegen, die mit Sesamöl eingerieben sind. Drüben, auf der anderen Seite des Flusses, wo die Exportspeicher sind, rasseln Ketten; Kisten und Warenballen werden in die Prahme hinuntergesenkt. Ein fauliger Dunst von getrockneten Häuten und staubigen Ölkuchen schwebt darüber.

Dann wird die Passage wieder freigegeben. Wagen donnern über die Brücke, unter Geschrei und Zurufen. Wir fahren längs der Speicher durch eine breite Straße. Da sind viereckige Baumwollenpakete, da ist Jute in Sackleinen, Reis, Teekisten, Opium und Öl.

Wir biegen um die Ecke und kommen an dem Palais des Vizekönigs vorbei, in einer alten, imposanten Anlage. Es ist weiß, vornehm, mit einem Säulenportal in englischem Schloßstil. Um Rasen und Statuen sind fürstliche Auffahrten. Vor dem hohen, schmiedeeisernen Tor zur Straße ist eine Königswache postiert. Es steht an Ansehnlichkeit hinter keinem europäischen Schloß zurück.

Wir biegen wieder um die Ecke und haben eine Stadtanlage vor uns, mit Chausseen und Rasenplätzen, Denkmälern und Bosketten, die so lang ist, daß wir ihr Ende nicht sehen können. Es ist die »Esplanade«, ein ungeheures Glacis um den militärischen Kern des Kaiserreiches: Fort William.

Gegen sechs Uhr nachmittags, wenn der Tag plötzlich schwindet und der Himmel einen Perlmutterschein bekommt, der von Dunkelviolett und Purpurn zu dem tiefsten Nachtschwarz übergeht, aus dem die Sterne hastig aufleuchten, dann wird diese sonnenversengte Anlage belebt.

Bogenlichter glühen auf, wie Riesenblumen an hohen Stengeln. Über den dunklen Granit der Chausseen rollen Wagen; man hört nur das weiche Geklapper der Hufe. Da sind tüchtige, englische Traber mit gestrecktem Hals und gespannten Lendenmuskeln; Engländer, mit hochthronendem Gentlemankutscher; Gespanne mit Herren und Damen ohne Hut. Nur das Licht schwand, nicht die Hitze.

Da fahren pensionierte Radscha mit einem Viererzug von hellen Vollblutpferden. Der Fürst sitzt zurückgelehnt in einem europäischen Gehrock, Blume im Knopfloch ohne Hut, unbeweglich wie eine Statue, mit einem Sekretär auf dem Rücksitz. Kutscher und Diener sind weißgekleidet mit farbiger Schärpe und Turban. Die beiden Läufer, die hinten drauf stehen, haben eine Feder in ihrem Turban und halten den Pferdeschwanzwedel zwischen ihren gekreuzten Armen.

Die Stadt jappt nach Luft, reckt sich und stöhnt. Die Straßenbahnen kreischen in den Kurven auf der festlich hellen Chowringhee Road, wo die Hotelfassaden mit den tausend Flammen ihrer großen Speisesäle strahlen.

Der Wagenzug schlängelt sich vom Gartengitter des Vizekönigs am Fort vorbei, zum Zoological Garden hinaus. Einige steigen aus und gehen in den Park, um der Regimentsmusik zuzuhören – es sind heut Hochlandsschotten, die marschieren, während sie ihre eintönigen Dudelsackmelodien pfeifen – andere bleiben im Wagen sitzen und lauschen unter Sternen.

Die Tiger drinnen im Garten stöhnten unter der Hitze und sahen gleichgültig zu, wie Krähen sich auf die Fleischstücke setzten, die unberührt zwischen den Sägespänen lagen. Alligatoren schwammen in ihrem tiefen Bassin, die Nasenlöcher überm Wasserspiegel. Für eine Rupie warf der Wärter lebende Ratten zu ihnen hinein. Die faulen Reptilien warteten, bis die Ratten sich auf eine Klippe gerettet hatten. Dann schwammen sie hin und schnappten sie. Die Schreie waren noch zu hören, nachdem das Maul sich über die Ratten geschlossen hatte, die ungekaut hinunterglitten. Der Alligator tauchte wieder ins Wasser, nichts verriet, daß eine Mahlzeit stattgefunden hatte.

 

Beim Mittagessen auf der Terrasse des Hotels machte ich die Bekanntschaft eines jungen Inders, dessen Vater ein kürzlich verstorbener Radscha aus dem Pendjablande war. Halb erwachsen wurde der Sohn nach Oxford geschickt, um auf englisch erzogen zu werden. Er legte Zeichentalent an den Tag, besuchte eine Malschule, reiste später nach Paris, lernte bei einem Meister von Weltruf, stellte aus und erlangte einen großen Erfolg, wovon ein Teil auf Rechnung seiner exotischen Herkunft zu schreiben ist.

Er ist schlank, schmal und geschmeidig, mit großen, leuchtenden, dunkelgrauen Augen in einem pfirsichgelben Gesicht, mit hoher Stirn und feingebogener Nase, deren Flügel beben, wenn er mit seiner nervösen, glashellen Stimme spricht und lacht. Er hat lange kräftige Zähne hinter schmalen, geschweiften Lippen, einen kleinen, gestutzten Schnurrbart, blankes, rabenschwarzes Haar, das in einer Locke an der hohlen Schläfe klebt und dem Gesicht ein schmerzliches Gepräge gibt. In seinem Evening-dress mit perlgrauer Seidenweste, ausgeschnittenen Lackschuhen und Schleifen über roten Seidenstrümpfen, glückt es seinem korrekten Gentlemanauftreten, den Gegensatz zwischen Rasse und Kultur zu dämpfen.

Er liebt London und Paris, würde sich nie in seinem Vaterlande aufhalten, wie er erzählt, wenn nicht die Bestellungen steinreicher Maharadscha ihn dazu zwängen; denn dieser Vaterlandsverleugner ernährt sich durch seine Kunst. Seine Mutter, die irgendwo weit draußen in der Ebene von Pendjab wohnt, weigert sich, den Abtrünnigen zu unterstützen. Die wenigen Male, wo er sie besuchte, wurde er erst empfangen, nachdem er Zylinder, Frack und Lackschuhe abgelegt und sich mit der Seidentoga und dem perlengeschmückten Turban bekleidet hatte.

Die einzige Erinnerung an seine Heimat ist sein indischer Diener, der ihn auf all seinen Reisen begleitet. Ein schlanker, schwarzbärtiger Hindu, mit Augen wie Kohlen in Milch; die treuen Augen eines Hundes, die dem Blick ihres Herrn folgen und sonst nichts in der Welt. Wie alle eingeborenen Diener schläft er auf einer Matte vor dem Zimmer seines Herrn im Hotel. Er ist wortkarg und leise und redet seinen Herrn mit »Himmelgeborener« an.

»Wenn ich ihm befähle,« sagt der Maler und seine Augen ruhen auf dem Diener, wie die eines Jägers auf dem treuen Hunde, dessen Lob er preist, »wenn ich ihm befähle, aus dem dritten Stockwerk hinunterzuspringen, dann würde er es ohne Zögern tun. Für diese Leute aus den Ebenen meines Vaterlandes bedeutet das Leben Gehorsam gegen den, der als ihr Herr geboren wurde, Gehorsam bis in den Tod. Mit ihm zur Seite fühle ich mich überall sicher. Er hat einen großen Kummer, über den er nie hinwegkommt: daß ich, ein Himmelgeborener, die Speisen esse, die von kastenlosen Engländern bereitet werden, und mich hier im Hotel von Eingeborenen bedienen lasse, die nicht hochgeboren genug sind, um die Schüsseln zu tragen, von denen ich esse. Er fürchtet, daß ich dieses Vergehen in einem zukünftigen Leben büßen werde.

»Und Sie selbst – was glauben Sie?«

»Ich glaube ans Leben, my dear Sir – und an die Arbeit.«

Er hat zwei hübsche Zimmer im Turm des Hotels, Schlafstube und Studio. Wir besuchten ihn dort oben nach Tisch, rauchten von seinem Nargileh, den der schwarze Diener bereitete – er duftete nach Rosen, Honig, Shag – und tranken Whisky dazu. Wir saßen in Hemdsärmeln bei offenen Fenstern und sahen die Sterne in der warmen Nacht leuchten.

Große Gemälde standen an den Wänden, Porträte von Radschas in hellroten Gewändern, mit abenteuerlichem Turbanschmuck und dicken, ringbesetzten Fingern. Von einer Staffelei in der Ecke lächelte ein europäisches Ladygesicht, elfenbeinblaß auf einem Hintergrund von Samt, tief und dunkel wie der Nachthimmel.

»Wer ist das?«

»Mein Geheimnis!« antwortete er mit einem Lächeln, das ahnen ließ, was er in der Gesellschaft durch seine Herkunft und seine Kunst erreichte.

 

Von Kalkutta fuhren wir nach Darjeeling, einem beliebten Zufluchtsort in der heißen Jahreszeit, einer Villenstadt, die in den Vorbergen des Himalaja, dreitausend Meter überm Meeresspiegel, liegt.

Bis zum Ganges fährt man mit Salonwagen. Dort wird man von einer breitgebauten Fähre erwartet. Während der Überfahrt, die zwanzig Minuten dauert, wird auf Deck ein hastiges Mittagessen serviert.

Kaum hat die Fähre angelegt, als ein Grashüpferschwarm von Kulis aufs Deck niederschlägt und alles, was an Gepäck da ist, entführt. Man gebraucht Ellbogen und Augen und eilt hinter den Schwarzen her, die sich des Gepäcks bemächtigt haben. Indien ist so reichlich mit Menschenstoff gesegnet, daß jedes einzelne Gepäckstück seinen Träger hat. Man sucht die Wagentüren des wartenden Zuges ab, bis man seinen Namen gefunden hat; denn der Europäer bestellt seinen Platz telegraphisch, der ihm vom station master in eigener Person, nicht vom Zugführer, angewiesen wird.

Als wir in der bleichen Morgendämmerung bei der Station Siliguri erwachten, war es behaglich kühl. Nach einem hastig eingenommenen Frühstück bestiegen wir die schmalspurige Himalajabahn.

Auf dem Bahnsteig wimmelte es von kleinen Soldaten in schmutziggelben Khakiuniformen mit Feldausrüstung. Sie hatten Frauen und Kinder bei sich und wurden im Handumdrehen in eine andere kleine Bergbahn verstaut, die neben der unseren wartete. Es waren Leute aus den Assambergen, mongolischer Abstammung, mit flachen Nasen, schmalen Augenspalten, breitem Schädel und breitem Grinsen. Sie schwatzten vergnügt; sie sollten nach Hause.

Endlich ertönte die Dampfflöte und wir fuhren ab.

Die Eisenbahnspuren liefen längs der Landstraße, ohne Einfriedigung. Etwas weiter hin bog ein Weg nach rechts ab, der über die Bergpässe von Himalaja nach Lhassa, der Hauptstadt von Tibet, führte.

Wir hatten flaches, bebautes Land zu beiden Seiten, mit Dörfern und Höfen. Wir sahen Kühe, Schweine und Ziegen. Die Bevölkerung war stark gemischt, aber die Mongolrasse vorherrschend. Wir fuhren an ausgedehnten Teegärten vorbei. Die Dschungeln, die hier noch vor wenigen Jahren gestanden hatten, waren der Wohnort zahlreicher wilder Elefanten gewesen. Von dem dahinterliegenden Wald, wohin sie verdrängt wurden, kommen sie in mondhellen Nächten zu ihren alten Weideplätzen und zerstören voller Wut die neuangelegten Plantagen. Begegnen ihnen Menschen, greifen sie sie an. Im Jahre 1901 wurden gegen zweihundert Elefanten gefangen.

Es ist verboten, sie zu schießen. Nur wenn sie einen Menschen getötet haben, dürfen sie niedergemacht werden. Europäern gehen sie am liebsten aus dem Wege, der Tropenhut und die übrige Aussteuer flößt ihnen Furcht ein. Ein Forstmann erzählte uns, daß er vor einigen Wochen des Nachts von seinen eingeborenen Arbeitern aus dem Bett geholt worden sei, um beim Schein des Mondes einen alten Elefanten zu töten, der in den Anpflanzungen herumstampfte und vor einigen Tagen eine eingeborene Frau buchstäblich der Erde gleichgemacht hatte.

Jetzt begann der Wald. An seinem Saum sahen wir hier und dort einen von Menschen gefällten Baum, einen Stapel Brennholz, eine Schutzhütte für Holzfäller. Dann fingen wir an zu steigen und in Kurven zu fahren – und dort war der Urwald, die ganze ursprüngliche Fülle aus der Hand Gottes.

Palmen kämpften mit mächtigen Laubbäumen um Licht. Lianen hingen wie Klettertaue und Strickleitern von den Kronen herab. Dort stand ein Skelett von einem Baum, durch den ganzen Stamm hohl, grau und bleich, schon lange abgestorben, aber noch von dem Gewebe zäher Lianentaue, das ihn mit der Umwelt verschnürte, hochgehalten. Wenn er stürzte, würde er viel mit sich reißen in seinem Fall. Ein anderer Baum lehnte sich im Tode gegen die Brust eines Riesen.

Es ging beständig in Kurven aufwärts, mit einer Steigung von ungefähr 300 Metern in der Stunde. Hin und wieder lichtete das Dickicht sich etwas und der Blick glitt über waldbewachsene Abgründe, wo Tiger und Bären hausen. Dann verdunkelte die undurchdringliche Fruchtbarkeit wieder alles. Von neuem wurde es hell; dort drüben breiteten sich die Riesenwogen sonnenbeleuchteter Bergrücken unter dem flimmernden Himmel.

Es ging im Zickzack, in so kühnen Kurven, daß wir uns erschrocken festhielten: steil und jäh fiel der waldbewachsene Abhang vor unseren Augen in die Tiefe. Die Bahnlinie machte eine Schleife, so daß man an einer Stelle den ganzen »loop« übersehen konnte. Wir guckten längs der Bergwand auf die Spur hinunter, die wir vor einer halben Stunde befahren hatten.

Geier und Adler schwebten von Felsspitze zu Felsspitze über den Abgrund. Und immer kälter wurde es. Die Bananen wurden klein und verkommen, hörten schließlich ganz auf. Farnen und Rhododendren versagten auch. Zuletzt wurde es ganz heimatlich, denn Eichen und Birken, Tannen und Fichten tauchten auf, und jetzt wehte eine Temperatur, wie ich sie seit Monaten nicht mehr gespürt hatte. Da wir vor der Kälte gewarnt worden waren, hatten wir unsere Wintermäntel zur Hand. Meine Reisedecke, die seit Palästina kein Tageslicht erblickt hatte, wurde aus ihrem Riemen gelöst. Und als wir schließlich Darjeeling erreichten, war es nordischer Vorfrühling geworden, mit Krokus, Veilchen und Primeln in den Gärten.

Die blühende Villenstadt, die eine Garnison von zweitausend Mann hat, war emsig mit den Vorbereitungen für die bevorstehende Saison beschäftigt. Die Wege wurden makadamisiert, die Häuser geweißt; alle Arbeit wurde von untersetzten, schiefäugigen Tibetanerinnen ausgeführt. Die große Walze wurde von zwanzig Frauen unter Aufsicht eines männlichen Wegassistenten gezogen, und das Gepäck wurde vom Bahnhof zum Hotel von weiblichen Trägern transportiert.

Die Stadt liegt auf einem Kamm des südlichen Himalajavorgebirges. Der Horizont ist nach allen Seiten von Bergriesen eingeschlossen, die sich ineinanderschieben. Auf den entferntesten leuchtet ewiger Schnee.

Wir sind über den Wolken, die das Tal vor unseren Blicken verhüllen. Gegen Norden sehen wir die Sikkimhöhen, gegen Westen sperren die Gipfel des Nepal, gegen Osten die des Bhutans den Blick; alles zusammengenommen ist es die gewaltigste Bergkette der Welt. Die Aussicht ist ähnlich wie die, die man von einer Touristenstadt in den Hochalpen hat, nur weiter und majestätischer.

Nördlich von der englischen Stadt liegt ein tibetanisches Dorf, Bhutia Busti, mit einem alten Dalai-Lama-Begräbnis. Auf dem Wege dorthin begegneten uns Mongolen mit dunklen, faltenreichen Röcken und viereckigen, chinesischen Hüten mit aufgebogenem Rand. Es waren Leute aus dem Gefolge des Dalai-Lamas. Er war kürzlich aus Lhassa geflüchtet, von den Chinesen vertrieben, und ist jetzt Gast der Engländer irgendwo nördlich von der Stadt, in einer Burg, die seinen Vorfahren gehört hat. Hier hält er Hof mit fünfhundert Mann.

Das Dorf besteht aus einer Anzahl ärmlicher Hütten, die an der Bergwand hängen. Die Bewohner sind Buddhisten. Wir sahen ihren Tempel, ein viereckiges Holzgebäude von zwei Stockwerken, mit einem Strohdach. Es hatte keinen äußeren Schmuck, nur stand an jeder Seite des Eingangs eine vier Meter hohe Betmühle.

Auf einer dicken Rolle sind die vorgeschriebenen Gebete eingeprägt. Man zieht an einem Handgriff. Die Rolle dreht sich; jede Umdrehung ist ein Gebet. Ein armes Weib drehte kräftig, bis alle acht an der Reihe gewesen waren, während sie die Einleitungsworte murmelte: »Om mani padme hum'« »O du Lotoskleinod, Amen!« Die alte Mühle rasselte und knarrte und verrichtete eine Unmasse von Gebeten für ihre Seelenrettung.

Drinnen im Halbdunkel wurde Gottesdienst gehalten. Wir unterschieden zwei Reihen Mönche, die hintereinander hockten. Sie murmelten und hielten die Messe, während einer von ihnen gedämpfte Schläge aus einem hölzernen Gongong hervorlockte. Hinter der Tür saßen arme Kuli und ihre Frauen auf der Erde.

Am nächsten Morgen wurden wir um drei Uhr geweckt. Nach einer hastig genossenen Tasse Kaffee stiegen wir zu Pferde. Unter einem goldenen Vollmond ritten wir im Zickzack die Bergwand hinauf nach Tigre hill, ein zweistündiger Ritt.

Es war so kalt, daß wir hin und wieder von den Pferden steigen mußten, um uns warm zu gehen. Es ging an steilen Abgründen entlang, durch Wald und über kahlen Granitboden, bis wir ein grasbewachsenes Plateau erreichten mit einem Holzschuppen; auf dem Dach war ein Schafott errichtet, das wir bestiegen, um den Sonnenaufgang abzuwarten.

Wir froren, daß uns die Zähne im Munde zusammenschlugen. Windstöße aus Osten, wo der Himmel zu verblassen begann, rissen Fetzen von den nassen Wolken los, die das Tal verhüllten, schleuderten sie uns ins Gesicht, wo sie sich verdichteten und wie Tränen die Wangen hinabliefen.

Dann wurde es ernstlich hell. Der Morgennebel lichtete sich, trieb auseinander und blieb an tiefergelegenen Berggipfeln hängen. Der Himmel klärte sich auf, wurde grau und blau. Die Sonne glühte hinter dem östlichen Bergrand auf; aber gen Norden und Westen, wo die Bergriesen lagen, ruhte die Wolkendecke noch dicht und schwarz. Da plötzlich zerriß sie, und hinter dem Schleier erhoben die fernen, weißen Gipfel sich zum Himmel.

Kichinjanga, der nächstgrößte Berg der Welt, reckte seine lotrechte Gipfelwand zum Licht hinauf, weiß von ewigem Schnee, mit scharfen Konturen und den Reliefen zarter Schatten in der blauen Luft. Die ganze zackige Kette entschleierte sich, Gipfel nach Gipfel, mit der Wolkendecke wie einem schaumigen Teppich von weißer Wolle unter sich.

Die Vögel begannen unten im Walde, den wir eben durchritten hatten, zu singen. Die Pferde wieherten ungeduldig hinter uns. Dann wichen die Wolken auch einen Augenblick im Westen. Und wir bekamen einen schneeweißen Schimmer des Mount Everest zu sehen, fern hinter Nepals Bergen.

Ein einziger Schimmer von dem größten Riesen der Welt, der fünfundzwanzig Meilen von dem Ort, wo wir standen, seinen Kopf gegen 9000 Meter hoch in den Weltraum erhebt.


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