Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Das Herz von Indien

Ein roter Sandsteinkoloß mit haushohen Mauern, die von pilzförmigen Kuppeln gekrönt sind, – das ist das Lahore-Tor, der Haupteingang zu »the Fort«, das im Jahre 1638 zum Schutz für Delhis Königsburg vom Großmogul erbaut wurde.

Um dieses Tor raste der Kampf in den Tagen des Aufruhrs am heftigsten. The seapoys hatten die britischen Oberbefehlshaber, ihre Frauen und Kinder ermordet. Sie waren Herren im Fort. Delhi, das Herz von Indien, war erobert.

Da war es, daß Oberst Nicholson auf eigene Verantwortung seine kleine Streitmacht gegen die meterdicken Mauern führte. Eine Kugel traf ihn beim Ansturm. Während er fortgetragen wurde, rief er seinen Leuten zu, daß sie sich nicht um ihn kümmern sollten, und die Siegesrufe erreichten ihn noch, bevor er starb.

Indien war von den weißen Eroberern zurückgewonnen worden. Aber viel Hindublut flüstert an den Ufern des heiligen Flusses, in der schweigenden, indischen Nacht.

In vielen Seelen, die zu warten gelernt haben, qualmt das Feuer einer unlöschbaren Rache unter der Asche. Hin und wieder flackert es irgendwo in einer fernen Ecke des Reiches auf; aber es wird immer schnell von der Zentralregierung in Kalkutta gelöscht. Was sind Indiens zwölfhundert britische Beamte anders als ein ungeheures Feuerwehrkorps?

Durch das Lahore-Tor gelangen wir zu einem offenen Platz, von dessen hinterer Seite uns die Königsburg entgegenleuchtet.

Da ist zuerst die öffentliche Audienzhalle. Sie ist nach drei Seiten offen. Das Dach wird von roten Sandsteinsäulen und maurischen gezackten Rundbogen getragen; an der Wand der vierten Seite erhebt sich ein Marmorsockel, auf dem der edelsteingeschmückte Pfauenthron stand, den Schah Nadir raubte und mit nach Teheran nahm, wo er noch Dienste tut.

Tiefer drinnen liegt die private Audienzhalle, wo Fürsten und Gesandte empfangen wurden. Hier ist nichts geraubt. Jede Säule, jeder Rundbogen ist mit Mosaik von verschiedenfarbigem Marmor geschmückt, stilisierten Pflanzen mit Blumenblättern von Karneol. Die Decke ist mit Gold und Edelsteinen belegt. Über dem Dach leuchten vergoldete Marmorkuppeln. An einer Wand bezeugt eine persische Inschrift:

»Wenn es ein Eden auf Erden gibt, so ist es hier. Es ist hier. Hier!«

Golden und gedämpft gleitet das Licht durch vergitterte Fensterbogen. Das Mosaik unter der Decke wirft einen seltsam glühenden Ewigkeitsschimmer über die Welt von Bogen, Flächen und Linien in vollendeter Harmonie.

Zur Linken liegen Akabs Badesäle. Offene, säulengetragene Räume mit mosaikverzierten Versenkungen im Marmorboden, in denen das Wasser durch den ganzen Boden von Raum zu Raum fließen konnte. Mitten im Saal eine in Marmor gehauene Lotosblume, auf deren Blättern der Großmogul und seine Frauen saßen und sich von einem künstlichen Regen überrieseln ließen. Die Marmordecke über ihren Köpfen war mit Bildern von indischer Erotik geschmückt, die weit von der europäischen Schicklichkeitsgrenze entfernt waren. Das erste, was die britische Regierung tat, als sie das Schloß erobert hatte, war, diese Zeugen einer uralten Kulturauffassung des Verhältnisses der Geschlechter untereinander zu entfernen.

Man geht ungehindert durch alle diese Hallen. Keine verschlossenen Türen. Die Schönheit wogt wie ungebrochene Harfentöne unter den Bogen. Jetzt ist es hier öde; aber vor kaum hundert Jahren hingen hier noch Teppiche und trennten die Räume von einander, schwere indische Teppiche. Da saßen turbanbekleidete Diener mit untergeschlagenen Beinen hinter jedem Vorhang und bewachten Edelsteine und Frauentugend. Da erklang wiegende Musik zwischen den Säulen. Und das goldene Licht der Gitterfenster küßte die olivengelbe Haut der Frauen.

Still, der Herrscher hat gerufen. Der Vorhang wird zur Seite geschoben. Die Favoritin erhebt sich aus dem Kreise seidengekleideter Odalisken, geht am Eunuchen vorbei zum Jasminturm, wo keine andere Stimme ertönen darf als die des Herrschers, der über Tag und Nacht, Licht und Glück gebietet, und sich nur vor dem Tode beugen muß.

 

Auf dem Platz vorm Schlosse wurden Erdarbeiten gemacht, Kabel oder Wasserrohre gelegt.

Und die, die gruben, daß der Schweiß ihnen den nackten Hals hinabrann – die, die Karren schoben, daß die Adern sich an den glatten Beinen spannten und die Knöchelringe rasselten, während die Sonne sich in den Plattenringen der Zehe brachen, – das waren Frauen. Nur Frauen.

Sie sangen zum Auftakt, sie schwatzten in der Sonne, sie lachten uns erstaunt blickenden Europäern zu. Alte, zerzauste Weiber mit runzliger Mumienhaut über hervorstehenden Knochen, und fünfzehnjährige mit wechselndem Mienenspiel, weichen Schultern, Kindermündern und geschmeidigen Gliedern.

Auf einem schmutzigen Tuch in der Sonne krabbelte etwas lebendiges Schwarzes, streckte sich und kollerte auf die Seite, richtete sich wieder auf und griff nach wundersamen Dingen im Raum. Bebende Menschensaat, kaum ein Vierteljahr dem Mutterleib entsprungen.

Es waren ihrer viele auf der gastfreien Erde. Eines lag im schmalen Schatten eines Steines, den die Mutter aufgestellt hatte, um dem Kleinen Schutz gegen die Sonne zu gewähren. Ein anderes zappelte mitten im Sonnenschein und schlug unbeherrscht wie ein alter Apoplektiker um sich, indem es sich abmühte, den Schatten seines eigenes Armes zu fassen.

Allen fiel es furchtbar schwer, die allzu großen Köpfe mit den blanken, feuchten Augen, die gleichzeitig lachten und weinten, im Gleichgewicht zu halten. Nackt waren sie, aber ein Amulett um den Hals und einen dünnen Silberring um das zarte Hand- und Fußgelenk, das hatten sie doch alle.

Die meisten schwiegen vertrauensvoll. Einige stöhnten und prusteten und zappelten beim Kampf ums Ziel – einem Stein, einem Erdkloß, einem lebendigen Schatten. Aber da war eines, das plötzlich alle zehn schwarzen Finger in den weit aufgerissenen Mund steckte und aus voller Lungenkraft Musik machte.

Eine Frau richtete sich von ihrem Spaten auf und antwortete, wie die Hindin ihrem Zicklein antwortet. Sie schlüpfte aus dem Graben, löste unterwegs ihre volle Brust aus dem Hemd, das auf der Schulter befestigt war und sich mannigfaltig um Lenden und Beine schlang, ihr einziges Kleidungsstück – erreichte das Kleine, beschwichtigte es mit zärtlichen Kehllauten, kniete nieder und legte den Mund unter der Lebensquelle zurecht, die über das hitzige Mäulchen rann und von ihrem Überfluß auf der Muttererde vergoß. Die Sklavin, die ihr Kind säugt, eine Statue in lebendigem schwarzem Menschenlehm, von einem größeren Künstler modelliert als Stephan Sinding.

 

Am nächsten Morgen machten wir einen Ausflug vor die Stadt, um die tote Herrlichkeit des Reiches zu besehen.

Unser erstes Ziel war Firozabad, die Überreste des alten Delhi, eine Millionenstadt, die sich bis zu dreißig Kilometern südlich von dem jetzigen erstreckt.

Wir fuhren an einem Gefängnis und einem Irrenhaus vorbei, dem unvermeidlichen Schmuck unserer vorgeschrittenen Zivilisation. Dann erreichten wir die Sandebene mit dem struppigen Dschungelgebüsch; kurz vor der Ruine des Feroz Schah Forts machte der Wagen halt.

Mit seinen zugestopften Türöffnungen durch drei Etagen, halb Mauergebäude, halb Steinhaufen, gleicht es einem riesenhaften Bibergehäuse. Oben drauf erhebt sich stolz die Asokasäule, ein Sandsteinmonolith von dreizehn Meter Höhe, mit einer Inschrift aus dem dritten Jahrhundert vor Christus.

Von hier oben hat man eine herrliche Aussicht über Delhis Kuppeln und Mauerzinnen, über den Fluß Jumna, der seinen breiten Rücken durch die Ebene von Pendjabs schlängelt.

Von einer Ruine in der Nähe starrt uns ein Aasvogel an. Ein geduldiger Vogel, der zu warten gelernt hat, bis das Leben verrinnt. Er blinzelt mit den Augen beim Anblick unserer lebhaften Bewegungen. Er weiß, daß unsere Zeit auch kommt.

Wenn ein Kirchhof die Gestalt eines Vogels annimmt, mit seinem Totenkopf dasitzt und einen mit starren Augen anblickt, hin und wieder den Schnabel an seinen Eisenkrallen wetzend, mit dem Klang wie ein Spaten, dann läuft es einem eiskalt über den Rücken. Man zieht dennoch Buchsbaum, Trauerweide und Schmiedeeisengitter vor, obgleich der Sinn derselbe ist.

Wir erreichten Kutub Minar, einen Riesenturm, 76 Meter hoch, rund, kanneliert, durch fünf Etagen wie ein langgestreckter Kegel ansteigend, mit Galerie um jedes Stockwerk. Das ist das Minarett einer uralten Moschee, die als Ruine am Fuß desselben liegt.

Der Führer erzählte uns die Geschichte des Turmes.

Kutub, Delhis Beherrscher, hatte eine Tochter, die er über alles in der Welt liebte. Sie war verhätschelt und wollte ihr Morgenbrot nicht essen, bevor sie den heiligen Fluß Jumna nicht gesehen hatte. Der Fluß war aber zwölf englische Meilen von ihrem Heim entfernt. In Indien haben Fürstenkinder keine Unarten, folglich gibt es auch keine Mittel dagegen. Man richtete sich nach ihren Wünschen, und jeden Morgen führten acht auserwählte Diener ihre Herrscherin auf Pferderücken zum Ufer des Flusses. Natürlich wurde die junge Dame hungrig, wie sehr sie sich auch beeilten, und den Rest des Tages war sie gegen ihren unglücklichen Vater verdrießlich und mürrisch. Die acht Diener bekamen täglich Prügel, aber da die zwölf englischen Meilen dadurch nicht kürzer wurden, versprach der Herrscher von Hindustan demjenigen eine große Belohnung, der einen Ausweg finden konnte. Da meldete sich ein Weiser, ein Brahmine. Er schlug vor, daß man einen Turm bauen solle, so hoch, daß man von seiner Spitze den Fluß sehen könne. Der Brahmine wurde auf Lebenszeit versorgt. Der Turm wurde gebaut. Die junge Dame wurde jeden Morgen die 375 Stufen hinaufgetragen. Das gab ihr Appetit, ohne sie zu überanstrengen. Sie erblickte den Fluß, aß ihr Morgenbrot, ohne es hinunterzuschlingen, und es war wieder Friede im Reich.

Nach einer halbstündigen Fahrt erreichten wir die Ruinen von Indrapat, der ältesten indischen Festung, ein Bauwerk aus den frühesten arischen Einwanderungszeiten. Sie wird bereits in dem altindischen Werk Mahabharata genannt und ist der letzte Rest des ältesten Delhi. Das Fort selbst ist freilich jüngeren Datums.

Der Wagen hält auf der Landstraße. Rechts, einige hundert Schritt entfernt, liegt die Burg hinter einem längst zugewachsenen Graben, schwer und hoch, ihr verwitterter Mauergürtel buchtet sich zwischen runden Turmresten und gedeckten Laufgängen, durch deren meterhohe Schießscharten der Himmel lugt. Die tote Wehr um den geraubten Besitz unserer ältesten Vorfahren.

Die Mauer ist über vier Meter dick, eine Zyklopenmauer von aufeinander geschichteten, unregelmäßigen Steinblöcken. Dahinter führt ein Weg zwischen Mauergeröll, dessen Unebenheit längst von Sand gedeckt ist und aus dem Kaktus und Aloe ihre trockenen Lederblätter stecken.

Ein dunkler Kinderkopf guckt hinter einem Steinhaufen hervor. Ein struppiger Hund bellt uns an, als Beschützer einer menschlichen Wohnung. Wo ein Stück des Laufgrabens freiliegt, ist eine Bretterwand zwischen den Mauerresten aufgeschlagen. Im Halbdunkel hocken zwei Frauen und mahlen Mehl zwischen flachen Steinen.

Die Frauen betrachten uns scheu ohne Gruß und ziehen die schmutzigen Hemden fester um den Körper. Der Hund folgt uns aus der Entfernung. Ein Zebuochse, dessen eines Horn abgebrochen ist, kommt zwischen den Sandhaufen angetrottet, bleibt einen Augenblick stehen, betrachtet uns stumpf und schlendert weiter. Ein spindeldürrer Paria flickt ein Eisengerät über einem Steinamboß, während zwei nackte Jungen mit großen Köpfen ihm dabei helfen.

Es sind die ärmsten von Delhis Armen, die hier hausen. Sie bezahlen weder Miete noch Steuer, erklärt unser Führer und hebt verächtlich die Füße hoch, damit nichts von dem, was ihr ist, an ihm kleben bleibt.

Dann deutet er auf eine achteckige Sandsteinruine zwischen den haushohen Sandhaufen. Dort starb der Großmogul Humayan. Er hatte den Turm bestiegen, um den Abendstern zu beobachten, wenn er am Horizont aufstieg. Er trat zurück, um besser zu sehen, stürzte die Treppe hinunter und starb an den Folgen des Falles.

Auf dem Heimwege begegnete uns ein einsamer Wandersmann, der unserem Wagen auswich und von dem Staub der Räder überpudert wurde.

Seine gelbe Toga war über die linke Schulter geworfen. Er hielt einen flachen Sonnenschirm über seinen glattrasierten Kopf, in seinem Gürtel trug er ein Messinggefäß, Löffel und viele andere Dinge, die ich nicht unterscheiden konnte. Seine Haltung war hoheitsvoll, seine weitgeöffneten, bleichen Augen, die uns im Vorbeigehen streiften, ohne unseren Gruß zu erwidern, blickten fest.

Es war ein Yogi, ein heiliger Wandersmann, der seine väterliche Erde von den Ufern des Indus und Ganges bis zum Hochland von Dekan und wieder zurück durchwandert. Der Himmel ist sein Dach, die bloße Erde sein Bett. Er wandert, um die Befreiung seiner Seele zu erlangen. Das Ziel ist Nirwana.

Der Führer beugt seinen Kopf vor ihm; er kann an dem unbeschreiblichen Frieden in den Augen des Inders erkennen, daß das Ziel nicht mehr weit ist. Die Flamme seiner Seele zuckt über dem letzten Rest des Öls. Bald wird das Licht verlöschen.

Dieser Wandersmann ist alles, was von der Größe übriggeblieben ist. Das Volk beugt sich vor ihm und liebt ihn. Er ist so reich, wie ein Mensch werden kann, eine Seele, die gesiegt hat. Seine Kraft ist unüberwindlich.

 

Zwei heilige Ochsen standen sich mitten auf der Straße gegenüber und betrachteten sich mit bösen Blicken. Der eine war alt und dick, der andere hatte ein schiefes Horn von einem Liebeskampf.

»Wenn ich solch schiefes Horn hätte,« sagte der Alte mit nachlässiger Verachtung, »würde ich mich durch eine Seitenstraße drücken und mich nicht einem älteren Kollegen in den Weg stellen.«

»Wenn ich solchen Fettbeutel auf meinem Rücken baumeln hätte, würde ich mich auf einem Misthaufen zum Sterben legen,« erwiderte der Junge.

Er wandte den Kopf zur Seite und schloß die Augen, als vergehe er vor Ekel und Verachtung.

»Ich hab' seit achtundzwanzig Jahren meiner Heiligkeit hier in der Stadt gelebt. Nie hab' ich eine Arbeit getan oder ein Bündel Heu beschnuppert, das mir nicht als Opfer von meinen Untertanen gereicht wurde, und dann kommt da so eine schiefgehörnte Mißgeburt daher, Sohn eines Ziegenbockparias, und will Streit mit mir anfangen.«

Er hob den Kopf und beschnüffelte das schiefe Horn verächtlich. Der andere aber stemmte die Beine fest auf die Erde und senkte den Kopf.

»Ich will dir zeigen, du fauler Dicksack, wer von uns beiden der Heiligste ist.«

Dann senkten sie die Hörner und prallten zusammen. Stirn gegen Stirn standen sie, auf gespreizten Beinen, unbeweglich. Jedesmal, wenn der eine abgleiten wollte, um dem Feind seine Hornspitze in die Brust zu rennen, gleich folgte der andere nach und stemmte ihm sein Horn entgegen.

Die Straße war voll von Menschen und der Verkehr stockte; denn keiner wagte die heiligen Tiere zu berühren.

Da trat plötzlich der Alte zurück, blickte sich in der Versammlung um und rief sie zum Zeugen auf, daß der Junge ein infamer Lümmel sei, kehrte darauf seinem Kollegen sein Achterteil zu und spazierte heilig und unangefochten in die entgegengesetzte Richtung von dannen. Die Menge jubelte ihm Beifall zu, während der Junge mit gebeugtem Kopf dastand und beschämt hinter dem Weisen herschielte.

Die Passage war wieder frei. Wir fuhren durch die Straße »der bunten Lumpen«, wo wir noch ein Abenteuer hatten.

Der Führer zeigte auf einen zerlumpten Burschen mit einem Sack auf dem Rücken. Er stand und handelte vor einem Laden, wo ein halbnacktes Knochengestell zwischen einer Auslage von überreifem Obst hockte.

»Ein Schlangenbändiger!«

Wir ließen den Wagen halten und riefen ihn an. Er drehte seinen geschwollenen Kopf um, und als er sah, daß es Weiße waren, nickte und wieherte er, ließ das Knochengestell mit seinen verfaulten Melonen im Stich und begann die Vorstellung auf offener Straße.

Der Verkehr stockte. Alte und Junge schlössen Kreis um unseren Wagen. Der Obsthändler guckte von seinem erhöhten Sitz zu. Ein rundbärtiger Schutzmann kam herbei und folgte der Vorstellung.

Der Schlangenbändiger öffnete seinen Sack, zog einen schmutzigen Strohkorb heraus und hob den Deckel. Augen, Backen, Lippen, alles an ihm war bis zum Platzen geschwollen. Er setzte die Flöte an den Mund, eine Art Okarina aus Lehm, kniete nieder und begann zu blasen.

Die Töne brodelten und platzten mit einem heiseren Schrei. Es klang, als ob er Messer schleife, mit Griffeln auf einer Tafel kratze, ein Stemmeisen gegen einen Stein schlug. Hitziger und hitziger stieß er die Töne heraus. Sie kamen wie verängstigte Ratten angejagt, stolperten übereinander. Es war nicht zum Aushalten.

Die Schlange konnte auch nicht mehr als ein Mensch vertragen. Sie hob ihren geteilten Kopf aus dem Korb und breitete den Hinterkopf wie einen Fächer aus. Während der Schwanz wie ein Kranz auf der Erde lag, schüttelte sie sich, erst langsam und verdrießlich, als winke sie der Musik ab. Dann erhob sie sich auf ihrem Schwanzende, gereizt, vor Wut zitternd, duckte sich wieder, verquält und taumelnd, indem sie eine Freistatt vor dieser unleidlichen Teufelsmusik suchte.

In der ersten Reihe stand ein dreizehnjähriger Bursche, eine aufgeschossene Straßenpflanze, geschmeidig, langhalsig, auf elastischen Beinen, mit spitzem Kopf und großen Augen. Skeptischer als die Erwachsenen stand er da und verhöhnte den schmutzigen Schlangenbändiger. Mit der übermütigen Verachtung seiner dreizehn Jahre prahlte er vor der verschüchterten Schlange mit seiner Furchtlosigkeit. Aber es dauerte nicht lange, bis die beiden seiner gewahr wurden. Die blutdurchschossenen Augen des Mannes suchten ihn, während er blies, und gleich zischte die Schlange in dieselbe Richtung.

Sie fuhr dem Burschen um den Leib und kitzelte ihn mit ihrem zitternden Körper an seinem nackten Arm. Ein gellender, unfreiwilliger Schrei, ein Fuchteln mit den Armen durch die Luft, und der Schweiß trat ihm auf die Stirn.

Da faßte der Künstler sein Geschöpf unter dem Arm des Knaben, schwang es mit einer boshaften Beschwörung in die Luft, fing es mit beiden Händen auf und stopfte es in den Korb.

Er trocknete sich den Schweiß von der Stirn, verbeugte sich mit einer ellenlangen Anrede vor der Wagentür, bekam seine Rupie und wir rollten weiter.

Wir bogen in eine enge Straße ein, ohne Läden und ohne Leben. Ein ergrauter Torwächter saß unbeweglich und eckig, seine Wasserpfeife rauchend, vor einer blaugemalten Tür, die in ihrem Schmutz einen vornehmen und ehrwürdigen Eindruck machte. Indem mein Blick den seinen traf, spuckte er in weitem Bogen aus. Ich weiß nicht, ob es Verachtung oder Tabak war.

Weiterhin stand ein Gitterfenster offen. Im Halbdunkel des Raumes sahen wir Frauen in der Hucke sitzen. Ein altes Zitterweib lag auf den Knien und stopfte einen Teppich, während eine junge Frau uns mit weitgeöffneten Augen nachstarrte, verblüfft, daß man sie entschleiert ertappt hatte.

Eine Frau kam aus einer Straßentür. Sie blieb stehen und sah uns nach, unbekümmert um die alte Dienerin, die sie bewachte und vor unseren Augen zu verbergen suchte. Die junge Frau war in einen hellblauen Schleier gehüllt, so flordünn, daß er die Linien des dunklen Körpers zeigte. Ihre dunklen Augen lachten uns über dem Nasenschleier zu, indem wir vorbeifuhren, während die Alte mit gerunzelter Stirn Verwünschungen zu unserem Kutscher hinauf murmelte.

»Das ist die Braut eines Brahminen!« sagte der Führer zu uns herab und grinste mit seinen gelben Zähnen.

Dann kamen wir wieder in die Verkehrsstraße und hielten vor der größten Moschee der Welt.

Ein quadratischer Vorhof, von niedrigen Bogengängen eingeschlossen. Dahinter der Marmorkoloß der Moschee mit Mosaik von rotem Sandstein verziert. Eine prachtvolle Freitreppe, und über dem Koloß drei weiße Marmorkuppeln mit schwarzen Streifen. Zu jeder Seite der Moschee ein freistehendes, turmhohes Minarett, mit der Glut der Abendsonne unter dem Kuppelhut, wo der Muezzin die Arme hob und zum Gebet rief.

Wir waren müde und wollten schnell weiter. Ein Tempeldiener aber winkte uns mit entsetzten Gebärden, als seien wir im Begriff, unserer Seelenrettung zu entfliehen.

»Er will seine Heiligtümer zeigen!« sagte der Führer nachlässig, denn er war Hindu.

Vor einem Pavillon in einer Ecke des Bogenganges verbeugte der Tempeldiener sich feierlich, mit der Hand auf der Brust. Dann öffnete er eine Doppeltür hinter einem Gitter und kam mit einem Schrein zurück. Er knixte, küßte den Glasdeckel und zeigte uns den Inhalt.

Da lag ein hübscher grüner Lederpantoffel, mit weißer Seide gefüttert. Mohammeds Pantoffel. Ein zierlicher, schmaler Fuß – derselbe, der eine Religion, ein Heer und ein Weltreich aus der Erde gestampft hat.

Dann durften wir einen Sandstein betrachten, in dem ein Fußstapfen des Propheten eingeprägt war. Wir blickten verstohlen zu dem feierlichen Gesicht des Tempeldieners auf. Kein Muskel bebte darin; auch unseren Führer schien das Wunder nicht aus der Fassung zu bringen: der Fußstapfen war doppelt so groß wie der Pantoffel.

In einem Reagensglas sahen wir ein steifes, rotes Haar – aus Mohammeds Bart.

Wir zahlten nach Belieben; der Tempeldiener aber war enttäuscht. Es funkelte boshaft in seinen Augen – diese ungläubigen Hunde, wenn er könnte, wie er wollte –

Die Bedeutung des Islams in Indien kann nicht an der Zahl seiner Bekenner gemessen werden. Was in den Freitagsandachten in den Moscheen gemurmelt wird, bekommt kein Europäer zu wissen. An dem Tage, wo Scheik-ul-Islam den heiligen Krieg entzündet, wird es der britischen Herrschaft in Indien schlecht ergehen.

Es liegt in Englands Interesse, den Frieden der Diener Allahs zu wahren, und Deutschland ist der Freund der Türkei, weil die alten Karawanenwege zwischen Skutari und Indien noch befahren werden. Mohammed hat Lesseps großes Werk nie anerkannt. Es werden nicht allein Waren und Waffen über die Grenze von Afghanistan geschmuggelt, wo die Briten ihre allerbesten Leute postiert haben, sondern auch Gedanken und Worte, Gelübde und Flüche. Sie sind zollfrei und stumm und können nicht von Bajonetten aufgespießt werden.


 << zurück weiter >>