Kardinal Wiseman
Fabiola oder Die Kirche der Katakomben
Kardinal Wiseman

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Zweites Kapitel

Der Fremde in Rom

Früh am nächsten Morgen ging der Pilger durch das Forum, als er eine Gruppe von Menschen um eine Gestalt versammelt sah, welche augenscheinlich von ihnen gequält und gehänselt wurde. Er würde einer solchen Scene an einem öffentlichen Orte wenig Beachtung geschenkt haben, wenn nicht plötzlich ein bekannter Name an sein Ohr geschlagen wäre. Deshalb trat er näher. In der Mitte stand ein Mann, der viel jünger war als er selbst. Aber wenn er älter aussah als er war, weil er krank und mager, so war dasselbe bei dem anderen aus ganz entgegengesetzten Gründen der Fall. Er war kahlköpfig und aufgedunsen; sein Gesicht war geschwollen und rot und mit Beulen und Geschwüren bedeckt. Die List der Trunkenbolde lauerte in seinem Blick, und Gang und Stimme waren die eines Mannes, welcher gewöhnlich betrunken war. Seine Kleidung war beschmutzt, und seine ganze Erscheinung zeugte von steter Vernachlässigung.

»O weh, Corvinus,« sagte ein Jüngling zu ihm, »wirst du jetzt nicht die verdiente Strafe bekommen? Hast du nicht vernommen, daß Konstantinus in diesem Jahr nach Rom kommt, und glaubst du nicht, daß dieses Mal die Christen an die Reihe kommen?«

»Nein, nein,« antwortete der Mann, welchen wir beschrieben haben, »dazu sind sie lange nicht schlau genug. Ich weiß noch, daß wir es ebenfalls fürchteten, als Konstantinus nach dem Tode des Maxentius sein erstes Edikt über die Freiheit der Christen bekannt machte; aber im nächsten Jahr schon nahm er uns alle Furcht, indem er alle Religionen für gleichberechtigt erklärte.«Eusebius ubi sup.

»Das mag für die allgemeine Regel recht schön sein,« warf hier ein anderer ein, welcher entschlossen schien, den Trunkenbold zu quälen, »aber man nimmt sicher an, daß er alle jene ermitteln lassen wird, welche einen thätigen Anteil an der letzten Verfolgung nahmen, um das lex talionisDas Recht der Wiedervergeltung, wie es auch im mosaischen Gesetz vorgeschrieben war »Aug um Auge, Zahn um Zahn« u. s. w. an ihnen vollziehen zu lassen; Schlag um Schlag, Verbrennen um Verbrennen und wildes Tier um wildes Tier!«

»Wer sagt das?« fragte Corvinus erblassend.

»Nun, das wäre doch nur natürlich,« entgegnete ihm hohnlachend einer.

»Und sehr gerecht,« fügte ein anderer hinzu.

»Ach, es schadet nichts,« sagte Corvinus, »sie lassen einen doch wieder laufen, wenn man selbst Christ wird. Und ich muß gestehen, ich bin bereit, lieber alles zu werden, als dort zu stehen –«

»Wo Pancratius stand,« warf ein dritter ein, der boshafter war.

»Haltet das Maul!« brüllte der Trunkenbold jetzt in schäumender Wut. »Nenne seinen Namen nur noch ein einziges Mal, wenn du den Mut hast!«

Dabei erhob er die Faust und blickte drohend nach dem Sprecher.

»Ach! weil er dir weissagte, wie du sterben würdest,« schrie der Bursche, indem er die Flucht ergriff. »Ho! ho! einen Panther her für Corvinus!«

Alles flüchtete vor dem Tier in Menschengestalt, welches jetzt zur Wut aufgestachelt war, als sei ein wildes Tier der Wüste hinter ihnen her. Er verwünschte sie und bewarf sie mit Steinen.

Der Pilger hatte diesen Vorfall aus der nächsten Nähe mit angesehen; dann ging er weiter. Corvinus bewegte sich langsam auf derselben Straße entlang, welche nach der lateranischen Basilika, jetzt der Kathedrale von Rom, führte. Plötzlich ertönte ein heiseres Brüllen und zu gleicher Zeit ein durchdringender Schrei. Als sie beim Colosseum an den Höhlen der wilden Bestien vorüberkamen, näherte sich Corvinus, getrieben von der krankhaften Neugierde jener Menschen, die sich für das Opfer irgend eines Verhängnisses halten, das mit einem besonderen Gegenstande in Zusammenhang steht, dem Käfig, in welchem sich ein prächtiger Panther befand, der dazu bestimmt war, an den großen Tierkämpfen teilzunehmen, welche zu Ehren der bevorstehenden Ankunft des Kaisers in Rom stattfinden sollten. Er trat nahe an das Gitter und reizte die Bestie durch Bewegungen und Worte indem er sagte: »Wahrscheinlich wirst du mein Tod sein! Ha, ha! du sitzest sicher genug in deiner Höhle!« – In diesem Augenblick machte das wütende Tier einen Satz gegen ihn, packte ihn zwischen den Eisenstäben durch an Hals und Kehle und brachte ihm eine fürchterliche Wunde bei.

Der unglückliche Mensch wurde von Herbeieilenden emporgehoben und in seine in der Nähe liegende Wohnung getragen. Der Fremde folgte ihm und fand die Behausung im höchsten Grade armselig, schmutzig und unbehaglich; zu seiner Bedienung hatte er nur einen alten, kränklichen, krüppelhaften Sklaven, der augenscheinlich ebenso einfältig und tölpelhaft war wie sein Gebieter. Diesen sandte der Fremde fort, um einen Wundarzt herbeizuholen, der indessen sehr lange auf sich warten ließ; inzwischen that er selbst sein bestes, um das heftig aus der Wunde quillende Blut zu stillen.

Während er noch damit beschäftigt war, heftete Corvinus einen Blick auf ihn, der entweder Wahnsinn oder Delirium verriet.

»Kennst du mich?« fragte der Pilger mit sanfter Stimme. »Dich kennen? Nein – ja. Laß mich sehen! Ha – der Fuchs! Mein Fuchs? Denkst du noch daran, wie wir miteinander Jagd auf die verhaßten Christen machten? Wo hast du dich denn seitdem versteckt gehalten? Wie viele von ihnen hast du erlegt?« Und dabei lachte er frech und höhnisch.

»Ruhig, ruhig Corvinus,« entgegnete der andere. »Du mußt dich sehr ruhig verhalten oder du bist rettungslos verloren. Überdies quält es mich, wenn du jener Zeiten erwähnst, denn wisse, ich selbst bin jetzt Christ geworden.«

»Du Christ geworden?« brüllte Corvinus mit wilder Stimme. »Du, der du mehr von ihrem besten Blute vergossen hast, als irgend ein anderer Mensch auf dieser Welt? Und ist dir dies alles vergeben worden? Oder hast du ruhig darauf schlafen können? Haben dich nicht die Furien während der Nacht gepeitscht? Haben keine Gespenster dich heimgesucht? Hat keine Viper dir das Herzblut ausgesogen? Wenn nicht, so sage mir, wie du all diese Schreckbilder in die Flucht geschlagen hast, auf daß ich hingehe und thue wie du! Wenn du es mir nicht sagst, so werden sie kommen! Ha! ha! Sie werden kommen! Rache und Wut! Warum hast du denn nicht dieselben Qualen erdulden müssen wie ich?«

»Sei ruhig, Corvinus, sei ruhig! Ich habe gelitten, wie du leiden mußt. Aber ich habe Hilfe gefunden, und ich will sie auch dir bringen, sobald der Arzt dich gesehen hat. Er kommt soeben.«

Der Doktor untersuchte ihn und verband die Wunde; aber er gab wenig Aussicht auf Genesung bei diesem Kranken, dessen Blut durch Unmäßigkeit und Völlerei bereits gänzlich vergiftet war.

Jetzt nahm der Fremde seinen Platz an der Seite des Lagers wieder ein und sprach von der Gnade Gottes und Seiner Bereitwilligkeit, auch dem elendesten und letzten aller Sünder zu vergeben; er nannte sich selbst als den lebenden Beweis hierfür. Der unglückliche Mann schien in einem Zustande der Betäubung zu liegen, denn obgleich er aufhorchte, schien er die Worte, welche zu ihm gesprochen wurden, nicht zu verstehen. Nachdem der gütige Lehrer ihm die wichtigsten Lehren des Christentums erklärt hatte – mehr hoffend als mit Bestimmtheit voraussetzend, daß der Kranke ihm seine Aufmerksamkeit schenke – fuhr er fort:

»Und jetzt, Corvinus, wirst du mich fragen, wie die Vergebung der Sünden denjenigen erteilt wird, der alles dies glaubt? Es geschieht durch die Taufe, durch die Wiedergeburt aus dem Wasser und dem heiligen Geist.«

»Was?« brüllte der kranke Mann.

»Indem der Sünder mit dem wiedergebärenden Wasser benetzt wird.«

Hier wurde er durch ein konvulsivisches Stöhnen, das mehr einem Brüllen glich, unterbrochen.

»Wasser! Wasser! Kein Wasser für mich! Fort damit! Fort damit!« Und ein Krampf schien die Kehle des Kranken zusammenzuschnüren.

Der Pilger wurde von lähmendem Entsetzen gepackt, aber dennoch suchte er, den Unglücklichen zu beruhigen.

»Du mußt nicht glauben, daß man dich in deinem gegenwärtigen Fieberzustand forttragen, und in fließendes Wasser tauchen wird« (der Kranke stöhnte und wurde von kalten Schauern gepackt), »bei den Taufen der SterbendenDie Taufe der Sterbenden oder Bettlägerigen wurde auf die Weise vollzogen, daß man ihr Haupt mit einigen Wassertropfen besprengte. – Siehe Bingham, Buch 11. Kap. 11. genügen wenige Tropfen, nicht mehr als sich hier in diesem Napf befinden.«

Und er zeigte ihm das Wasser in einem kleinen Gefäß. Beim Anblick desselben wand und krümmte der Verwundete sich, der Schaum trat ihm vor den Mund, und heftige Krämpfe schüttelten seinen Körper. Die Töne, welche er von sich gab, glichen mehr denen eines wilden Tieres, als Lauten, welche sich menschlichen Lippen entringen.

Der Pilger sah sofort, daß die Wasserscheu mit all ihren fürchterlichen Symptomen bei dem Kranken durch den Biß des wilden Tieres zum Ausbruch gekommen war. Nur mit großer Mühe gelang es ihm und dem Diener, ihn auf dem Lager zurückzuhalten. Zuweilen stieß er die entsetzlichsten Blasphemien gegen Gott und Menschen aus. Und wenn diese Anfälle wieder vorüber waren, pflegte er zu stöhnen und zu klagen:

»Wasser wollen sie mir geben! Wasser! Wasser! Nein, kein Wasser für mich! Feuer! Feuer! Feuer habe ich, sonst nichts! Ich brenne schon, innen und außen! Seht nur, wie es näher und näher kommt! Jeden Augenblick näher! Die Flammen züngeln schon an mir empor!«

Und er blies nach allen Seiten in die Flammen, welche er in seinen Fieberphantasien zu sehen meinte. Dann wandte er sich wieder zu seinem tiefbetrübten Krankenpfleger und schrie: »Weshalb löschest du sie nicht aus? Du siehst doch, daß ich schon brenne!«

So ging der traurige Tag zu Ende, und die unheimliche Nacht kam. Das Fieber nahm zu und mit ihm das Delirium und die heftigen Anfälle von Tobsucht. Der Körper wurde schwächer und schwächer. Endlich richtete der Sterbende sich im Bette auf und mit stieren Augen grade vor sich hin blickend, rief er mit von Wut halb erstickter Stimme aus: »Hinweg, Pancratius, fort mit dir! Du hast mich jetzt lange genug angestarrt. Halte deinen Panther zurück! Halte ihn fest: er will mir an die Kehle springen. Er kommt! O!«

Und mit einem konvulsivischen Griff, als wolle er die wilde Bestie von seiner Kehle abwehren, riß er den Verband von seiner Wunde. Ein Strom von Blut ergoß sich über ihn, und er fiel auf das Lager zurück, ein grauenerregender Leichnam.

Sein Freund hatte gesehen, wie verstockte Sünder sterben.


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