Kardinal Wiseman
Fabiola oder Die Kirche der Katakomben
Kardinal Wiseman

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Zweites Kapitel

Der Sohn des Märtyrers

Dieser, ein Jüngling voll Grazie und Munterkeit und Offenherzigkeit, schreitet mit leichten, behenden Schritten durch das Atrium dem inneren Hofe zu. Wir werden kaum die Zeit haben, den Ankömmling flüchtig zu beschreiben, bevor er ihn erreicht. Er ist ungefähr vierzehn Jahre alt, aber groß für sein Alter, von vornehmer Gestalt und männlicher Haltung. Heilsame Leibesübungen haben seinen bloßen Nacken und seine Arme herrlich entwickelt; seine Gesichtszüge lassen auf ein warmes und offenes Herz schließen, während auf seiner hohen Stirn, um welche sich das braune Haar in natürlichen Locken legt, ein Heller, klarer Verstand thront. Er trägt das gebräuchliche Gewand der Jünglinge, die kurze praetexta, welche bis unter das Knie reicht, und eine goldene bulla oder hohle Sphäroide aus Gold, welche an seinem Halse hängt. Ein Bündel Papiere und Pergamentrollen, welche ein hinter ihm schreitender alter Diener trägt, zeigt uns, daß er gerade aus der Schule nach Hause kommt.Dieser Brauch giebt dem heiligen Augustin den schönen Gedanken ein, daß die Juden die paedagogi der Christenheit waren, – indem sie ihr die Bücher trugen, welche sie selbst nicht verstehen konnten.

Während wir ihn so beschrieben haben, hat er die Umarmung seiner Mutter entgegengenommen und sich zu ihren Füßen gesetzt. Lange blickt sie ihn schweigend an, als wollte sie in seinen Zügen die Ursache der ungewöhnlichen Verspätung entdecken, denn er ist eine Stunde länger ausgeblieben als sonst. Er begegnet ihrem Auge indessen mit einem so offenen, ehrlichen Blicke, daß jede Wolke des Zweifels schon im nächsten Augenblick verscheucht ist. Dann spricht sie zu ihm wie folgt:

»Was hat dich heute so lange aufgehalten, mein teurer Knabe? Ich hoffe, daß dir auf dem Wege kein Unfall begegnet ist?«

»Keiner, oh, süßesteDas besondere Epitheton der Katakombe, süß, dulcis Mutter; im Gegenteil, alles ist gar köstlich gewesen – so köstlich, daß ich kaum den Mut habe, es dir zu erzählen.«

Ein Blick voll lächelnder Entschuldigung entlockte dem offenherzigen Knaben ein reizendes Lachen; dann fuhr er fort:

»Nun, ich glaube doch, daß ich es thun muß. Du weißt, daß ich niemals glücklich bin und nicht schlafen kann, wenn ich es unterlassen habe, dir all das Böse und das Gute des verflossenen Tages über mich zu erzählen.«

Die Mutter lächelte wieder verwundert bei dem Gedanken an das »Böse«.

»Vor wenigen Tagen las ich, daß die Scythen an jedem Abend einen weißen oder einen schwarzen Stein in eine Urne warfen, je nachdem der Tag glücklich oder unglücklich gewesen war; wenn auch ich das thun müßte, so würde es dazu dienen, in schwarz oder weiß die Tage zu bezeichnen, an welchen ich die Gelegenheit dir alles zu erzählen, was ich gethan, gehabt oder nicht gehabt habe. Aber heute habe ich zum erstenmal einen Zweifel, eine Gewissensangst, ob ich dir alles sagen darf.«

Bebte das Herz der Mutter mehr als gewöhnlich vor Angst, oder war es noch eine tiefere Besorgnis, welche ihr Auge trübte, so daß der Sohn ihre Hand ergriff und sie zärtlich an die Lippen führte, während er entgegnete:

»Fürchte nichts, geliebteste Mutter, dein Sohn hat nichts gethan, das dir Kummer bereiten könnte. Sag mir nur, ob du alles hören willst, was mir heute geschehen ist, oder nur die Ursache meiner späten Heimkehr?«

»Sag mir alles, teurer Pancratius,« entgegnete sie, »nichts, was dich angeht, kann gleichgültig für mich sein.«

»Nun denn,« begann er, »dieser letzte Tag, an dem ich die Schule besuche, scheint ein gesegneter für mich gewesen zu sein, und doch voll seltsamer Begebenheiten. Zuerst wurde ich als der siegreiche Mitbewerber bei einer feierlichen Rede gekrönt, welche unser guter Lehrer Cassianus uns als Aufgabe unserer Morgenlehrstunden gestellt hatte, und dies führte, wie du bald hören wirst, zu einigen seltsamen Entdeckungen. Der Gegenstand war: »daß der wahre Philosoph stets bereit sein soll für die Wahrheit zu sterben.« Niemals habe ich etwas so kaltes und albernes gehört (ich hoffe, daß es kein Unrecht ist, wenn ich dies sage) wie die Vorträge, welche meine Gefährten hielten. Aber es war nicht ihre Schuld! Die Armen! Welche Wahrheit könnten sie denn auch die ihre nennen, und welchen Beweggrund könnten sie haben, für irgend eine ihrer eitlen, nichtigen Meinungen zu sterben. Aber welch eine Fülle von herrlichen Eingebungen empfängt ein Christ aus diesem Thema. Wenigstens erging es mir so. Mein Herz glühte und meine Gedanken schienen zu brennen, als ich meinen Aufsatz niederschrieb, in dem vollen Bewußtsein der Lehren, welche du mir gegeben und des häuslichen Beispiels, welches ich vor Augen habe. Der Sohn eines Märtyrers konnte nicht anders empfinden. Als die Reihe an mich kam, meinen Vortrag zu halten, hätten meine Gefühle mich beinahe in der verhängnisvollsten Weise verraten. In der Erregung des Sprechens entschlüpfte das Wort »Christ« anstatt »Philosoph« und »Glaube« anstatt »Wahrheit« meinen Lippen. Bei meinem ersten Versehen sah ich Cassianus zusammenschrecken; bei dem zweiten erglänzte eine Thräne in seinem Auge und indem er sich liebevoll zu mir neigte flüsterte er: »Hüte dich, mein Sohn, gar scharfe Ohren lauschen dir!«

»Wie,« unterbrach ihn die Mutter, »ist denn Cassianus ein Christ? Ich wählte seine Schule für dich, weil sie in hohem Rufe steht wegen ihrer strengen Sittlichkeit und der außerordentlichen Gelehrsamkeit, welche junge Schüler dort sammeln können – und jetzt danke ich in der That Gott dafür. Aber in diesen Tagen der Furcht und der Gefahr sind wir gezwungen, wie Fremde in unserem eigenen Vaterlande zu leben. Wir kennen kaum die Gesichter unserer Mitbrüder. Gewiß, wenn Cassianus seinen Glauben bekannt hätte, so wäre seine Schule bald verödet gewesen. Aber fahr fort, mein teurer Sohn; waren seine Befürchtungen begründet?«

»Ich fürchte es; denn während die große Masse meiner Mitschüler, welche diese Sprachversehen überhört hatten, meinem aus dem Herzen kommenden Vortrage den reichlichsten Beifall zollten, sah ich, wie die Augen des Corvinus düster forschend auf mir ruhten und er in augenscheinlichem Mißmut sich die Lippen biß.«

»Und wer war es, mein Kind, der so erzürnt, und weshalb war er es?

»Er ist der älteste und stärkste, aber unglücklicherweise auch der dümmste Knabe in der Schule. Aber dies, wie du ja weißt, ist nicht seine Schuld. Nur hegt er, ich weiß nicht weshalb, stets einen Unwillen und einen Groll gegen mich, deren Ursache ich nicht begreifen kann.«

»That oder sagte er etwas gegen dich?«

»Ja, und das war die Ursache meiner Verspätung. Denn als wir aus der Schule auf die Wiese am Flusse hinaus gingen, redete er mich in Gegenwart unserer Gefährten in beleidigender Weise an und sagte: »Komm, Pankratius, wie ich höre, ist es das letzte Mal, daß wir uns hier treffen (er legte ein besonderes Gewicht auf das Wort »hier«); aber ich habe eine lange Rechnung mit dir abzuschließen. Du hast in der Schule stets danach gestrebt, deine Überlegenheit über mich und andere, die älter und besser sind als du, an den Tag zu legen; ich sah deinen hinterlistigen Blick auf mich, als du heute deinen hochtönenden Vortrag hieltest; ja, und ich fing Worte in demselben auf, welche du eines Tages – und zwar sehr bald – bereuen wirst; denn wie du wohl weißt, ist mein Vater Befehlshaber in dieser Stadt« – die Mutter schrak leicht zusammen – »und es bereitet sich etwas vor, das vielleicht auch dich nahe angeht. Ehe du uns verläßt, muß ich Rache an dir nehmen. Wenn du deines Namens würdig bist und wenn es nicht ein leeres Wort» Pancratium.« war die Leibesübung, in welcher alle anderen Kämpfe zusammengefaßt waren – Ringen, Faustkampf u. s. w. ist, so laß uns ehrlich streiten in einem männlicheren Kampfe als in dein des Griffels und der Tafel.Die Schreibwerkzeuge in der Schule. Die Tafeln waren mit Wachs überzogen, auf welchem die Schrift mit der spitzen Seite des Griffels eingegraben, mit der stumpfen Seite desselben wieder ausgelöscht wurde. Ringe mit mir oder versuche den cestusDie Handbandagen, welche bei Faustkämpfen angelegt wurden. gegen mich. Ich brenne vor Begierde, dich vor diesen Zeugen deiner frechen Triumphe zu züchtigen, wie du es verdienst!«

Die geängstigte Mutter beugte sich kaum atmend und angestrengt lauschend vorüber.

»Und was entgegnetest du, mein teurer Sohn?« rief sie endlich aus.

»Ich erklärte ihm sanft, daß er im Irrtum sei; denn niemals hätte ich mit Vorsatz irgend etwas gethan, das ihm oder einem meiner Mitschüler Ärger oder Kummer hätte verursachen können, und niemals hätte ich geträumt, eine Überlegenheit über sie geltend machen zu wollen. Und was deinen Vorschlag anbetrifft, Corvinus,« fügte ich hinzu, »so weißt du, daß ich mich stets geweigert habe, mich in persönliche Kämpfe einzulassen, welche mit einem kühlen, besonnenen Erproben der Kraft und Geschicklichkeit beginnen und mit einem wütenden Streit, mit Haß und Rachedurst endigen. Und wieviel weniger könnte ich jetzt auf solche eingehen, wo du selbst eingestehst, daß du den Kampf schon mit den bösen Gefühlen beginnen willst, welche gewöhnlich erst sein trauriges Ende sind?« Jetzt hatten unsere Schulkameraden bereits einen Kreis um uns gebildet, und gar deutlich gewahrte ich, daß sie alle gegen mich waren, denn sie hatten schon auf die Freuden gehofft, welche ihre grausamen Spiele ihnen stets bereiten. Deshalb fügte ich fröhlich hinzu: »Und jetzt, meine Gefährten, lebet wohl. Möge alles Glück bei euch weilen. Wie ich mit euch gelebt habe, so scheide ich von euch – in Frieden!«

»Nicht so,« entgegnete Corvinus, dessen Gesicht jetzt blaurot vor Wut war, »sondern – – «

Das Gesicht des Knaben wurde feuerrot, seine Stimme bebte, sein Körper zuckte, und mit von Schluchzen halb erstickten Tönen rief er aus: »Ich kann nicht fortfahren, ich kann das übrige nicht erzählen.«

»Ich bitte dich um Gottes willen und um der Liebe willen, welche du für das Andenken deines Vaters hegst, verheimliche mir nichts,« sagte die Mutter, indem sie ihre Hand auf das Haupt des Sohnes legte. »Ich werde niemals wieder Ruhe finden, wenn du mir nicht alles sagst. Was that oder sagte Corvinus sonst noch?«

Nach einem stillen Gebet und einer minutenlangen Pause erholte der Jüngling sich und fuhr dann fort: »Nicht so,« schrie Corvinus, »nicht so wirst du mir entkommen, du feiger Anbeter eines Eselskopfes!Eine der vielen Verleumdungen über die Christen, welche unter den Heiden verbreitet waren. Du hast deine Wohnung vor uns verheimlicht, aber wir werden dich ausfindig machen; bis dahin trage dieses Zeichen meines festen Vorsatzes, Rache an dir zu nehmen.« Und mit diesen Worten versetzte er mir einen heftigen Schlag ins Gesicht, der mich zurücktaumeln machte, während ein Schrei wilden, tierischen Entzückens sich den Kehlen der Knaben entrang, die in weitem Kreise umherstanden.«

Hier brach er in einen Thränenstrom aus, welcher ihm indessen Erleichterung schaffte und dann fuhr er fort:

»Oh, wie ich mein Blut in diesem Augenblick kochen fühlte! Wie mein Herz in mir zu zerspringen drohte! Eine Stimme schien mir verächtlich das Wort »Feigling« ins Ohr zu raunen! Es war gewiß ein böser Geist. Ich fühlte, daß ich stark genug war – die Wut, welche sich in mir aufbäumte, machte mich stark – meinen ungerechten Angreifer an der Kehle zu packen und ihn keuchend zu Boden zu werfen. Ich vernahm schon die Beifallsrufe, welche meinen Sieg begleiten und das Blatt gegen ihn wenden würden. Es war der härteste Kampf meines Lebens; niemals bäumten Fleisch und Blut sich so heftig in mir auf! O Gott, möchten sie niemals Macht über mich gewinnen!«

»Und was thatest du dann, mein geliebter Knabe?« keuchte die zitternde Matrone hervor.

Er entgegnete: »Mein guter Engel besiegte den Dämon, welcher mir zur Seite stand. Ich dachte an meinen gottgesegneten Herrn im Hause des Caiphas, wie er von tobenden Feinden umgeben war, einen Backenstreich empfing, und doch sanft und milde und vergebend war. Und konnte ich wünschen, anders zu sein? Ich streckte Corvinus meine Hand entgegen und sagte: »Möge Gott dir vergeben, wie ich es von ganzem Herzen und aus freiem Willen thue, und möge Er dir seinen Segen in reichem Maße zu teil werden lassen.« In diesem Augenblick kam Cassianus heran, welcher alles aus der Ferne mit angesehen hatte, und die jugendliche Menge stob auseinander. Ich bat ihn bei unserem gemeinsamen Glauben, welchen wir einander jetzt bekannt hatten, Corvinus für das, was er gethan hatte, nicht zu verfolgen, und er gab mir sein Versprechen. Und jetzt, süße Mutter,« murmelte der Knabe in leisem zärtlichem Ton am Halse der Matrone, »meinst du nicht, daß ich das Recht habe, dies einen glücklichen Tag zu nennen?«


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