Kardinal Wiseman
Fabiola oder Die Kirche der Katakomben
Kardinal Wiseman

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Achtzehntes Kapitel

Versuchung

Sehr früh am nächsten Morgen kam ein Maultier mit seinem Führer an die Thür der Villa des Chromatius. Es trug zwei Satteltaschen von bescheidenem Umfange, das ganze bekannte Besitztum des Torquato. Viele Freunde hatten ihr Lager verlassen, um ihm Lebewohl zu sagen und von ihm den Friedenskuß zu erhalten, ehe er abreiste. Möge er sich nicht erweisen wie jener auf Gethsemane! Einige flüsterten ihm ein gütiges, sanftes Wort ins Ohr und beschworen ihn, den Gnaden, welcher er teilhaftig geworden, treu zu bleiben; und er versprach dies ernstlich, wahrscheinlich auch in der festen Absicht, sein Versprechen zu halten. Andere, welche um seine Armut wußten, schoben ihm ein kleines Geschenk in die Hand und stehlen ihn an, seine alten Bekannten und Schlupfwinkel zu meiden. Polycarp indessen, der Leiter und Lehrer dieser Genossenschaft rief ihn auf die Seite und mit innigen Worten und strömenden Thränen beschwor er ihn, die vielleicht kleinen aber gefährlich drohenden Unregelmäßigkeiten und Ausschweifungen, welche in seinem Lebenswandel zu Tage getreten waren, zu besiegen und zu unterdrücken, die Leichtfertigkeit, welche seinem Betragen anhaftete, abzulegen, und alle christlichen Tugenden Mehr zu üben. Torquatus, ebenfalls in Thränen, versprach strengen Gehorsam, kniete nieder, küßte die Hand des guten Priesters und empfing seinen Segen; dann nahm er Empfehlungsbriefe für seine Reise von ihm in Empfang und eine kleine Summe Geldes für seine bescheidenen Ausgaben.

Endlich war alles bereit; das letzte Lebewohl war gesprochen, dem letzten frommen Wunsch waren Worte gegeben, und Torquatus auf seinem Maultier sitzend, den Führer am Zügel desselben, ritt langsam die gerade Allee hinunter, welche an das Parkthor führte. Lange, nachdem alles ins Haus zurückgekehrt waren, stand Chromatius noch an der Thür und blickte ihm traurig mit thränenden Augen nach. Solch ein Blick muß es gewesen sein, den der Vater des verlorenen Sohnes seinem von dannen eilenden Kinde nachsandte.

Da die Villa nicht an der großen Heerstraße lag, war dieses bescheidene, vierfüßige Beförderungsmittel gewählt worden, um ihn quer durch das Land nach Fundi (dem jetzigen Fondi), dem nächsten Orte, wo er jene erreichen konnte, zu schaffen. Dort sollte er sich des ersten besten Mittels, dessen er habhaft werden konnte, bedienen, um seine Reife fortzusetzen. Fabiolas Börse indessen hatte ihm die Sache in dieser Beziehung bedeutend erleichtert.

Die Straße, welche er einschlug, war in ihrer Schönheit sehr verschiedenartig. Zuweilen wand sie sich an den Ufern des Liris dahin und war mit schönen Landhäusern und freundlichen Hütten übersäet. Dann senkte sie sich wieder an den Ausläufern der Appenninen entlang in Miniaturabgründe, war von Felsen eingeschlossen, auf denen wilder Wein, Aloen und Myrtenbäume wuchsen und werdende Ziegen wie kleine Schneeflächen glänzten, während ein kleiner Bach sich rieselnd am Pfade entlang schlängelte und sich in den wilden, prächtigen Wahn hineingearbeitet zu haben schien, daß er ein Gebirgsstrom sei; so groß war der Lärm und die Geschäftigkeit, mit welcher er sich vorwärts drängte und vorgab zu schäumen und sich zu beglückwünschen schien, daß er einen Wasserfall zu Stande gebracht habe, weil er über zwei Steine zu gleicher Zeit sprang und sich in einen Abgrund stürzte – welchen ein großes Acantusblatt verdeckt hatte. Dann trat die Straße wieder aus dem Felsen heraus und gestattete einen weiten Blick auf den großen Garten des glücklichen Campanien mit der blauen Bai von Cajeta im Hintergrunde, auf welcher die weißen Segel ihrer Barken schimmerten und in der Ferne aussahen wie Scharen hellgefiederter Wasservögel, welche sich sonnend auf einem See umherflatterten.

Welcher Art waren die Gedanken des Reisenden inmitten dieser abwechselnden Scenen in einem neuen Akte des Dramas, welches er sein Leben nannte? Unterhielten sie ihn? Entzückten sie ihn? Erhoben sie ihn oder bedrückten sie ihn? Sein Auge bemerkte sie kaum. Es war weit über alles das, was vor ihm lag, fortgeschweift, hin zu den schattigen Säulengängen und lärmenden Straßen der Hauptstadt. Der staubige Garten, der künstliche Brunnen, das Marmorbad und die gemalten Hallen waren in seinen Augen weit schöner als frische, herbstliche Weingärten, krystallhelle Bäche, blaues Meer und durchsichtig-klarer Himmel. Nicht auf einen Augenblick verweilten seine Gedanken bei den bösen Thaten und gottlosen Bräuchen, dem Luxus, den Ausschweifungen, der Ruchlosigkeit, der Unehrlichkeit, den Verleumdungen, dem Verrat, der Unreinheit der Stadt – natürlich nicht! O nein! was könnte er, ein Christ, auch jemals wieder mit diesen Dingen zu thun haben? Zuweilen – wie seine Gedanken mehr und mehr abschweiften – sah er in einem dunklen Winkel der Halle in den Thermen einen Tisch, um welchen sich finstere aber eifrige Spieler gelagert hatten und würfelten; er fühlte, wie sich seiner eine zitternde Erregung bemächtigte, die er lange Zeit hindurch bemeistert hatte; aber hinter dem Tische her schienen sich ein paar milde Augen, wie jene des Polycarp, auf ihn zu richten und ihn aufzurütteln. Dann sah er sich wieder in seiner Phantasie an einem hölzernen Tische sitzen, vor ihm stand ein goldener Pokal, angefüllt mit funkelndem, rubinrotem Falernerwein; die Trunkenheit hatte alle Zungen gelöst und unzüchtiges Geschwätz ging mit dem goldenen Becher im Kreise herum. Plötzlich aber erschien ihm das mahnende Gesicht des Chromatius und seine gerunzelte Stirn schien ihm sowohl den Pokal wie das Geschwätz zu verbieten.

Er kehrte ja nur in der That zu den unschuldigen Genüssen und Belustigungen der Kaiserstadt zurück, zu ihren Spazierwegen, ihrer Musik, ihren Malereien, ihrer Pracht, ihrer Schönheit. Er vergaß, daß alles dies nur dazu beitrug, die Leidenschaften einer keuchenden, lebenden Masse menschlicher Geschöpfe anzufachen und zu entflammen, ihre bösen Lüste zu erwecken, ihrem Ehrgeiz zu schmeicheln, ihre guten Entschlüsse zu vernichten, ihre Gemüter zu entnerven.

Armer Jüngling! er glaubte, er würde imstande sein, durch dieses Feuer zu gehen ohne sich zu verbrennen! Arme Motte! sie glaubte durch diese Flamme flattern zu können, ohne ihre Flügel zu versengen!

In dieser zerstreuten, weit abschweifenden Stimmung kam er durch ein enges, von Felsen eingeschlossenes Defilée, und als er sich am Ausgange desselben befand, sah er sich plötzlich vor einer Bucht, welche das Meer hier bildete. Und in ihrer Mitte ragte eine einsame, regungslose Klippe empor.

Dieser Anblick rief ihm eine Geschichte aus seiner Kindheit ins Gedächtnis zurück; ob wahr, ob unwahr, das kümmerte ihn wenig. Aber er glaubte fast, den Schauplatz derselben vor sich zu sehen.

Es war einmal ein kühner, junger Fischer, welcher an der Küste des südlichen Italiens lebte. An einem stürmischen, finsteren Abende fand er, daß sein Vater und seine Brüder nicht den Mut hatten, sich in ihrer schmalen, festen Schmacke hinauszuwagen. So beschloß denn er trotz aller Ermahnungen, allein in einer kleinen Nußschale, welche an das größere Fahrzeug gebunden war, ins Meer hinauszugehen. Ein frischer, starker Wind wehte, aber er Widerstand ihm in seiner winzigen, schwimmenden Barke, bis die Sonne warm und klar aufging und ihre Strahlen auf eine ruhige, klare See hinabsandte. Müdigkeit und Hitze überwältigten ihn und er schlief ein; gleich darauf weckte ihn ein lauter Schrei, welcher aus der Ferne an sein Ohr zu dringen schien. Er blickte umher und gewahrte das Boot seiner Familie, dessen Besatzung laut schrie und mit den Händen winkte, um ihn zur Umkehr zu bewegen; sie machte jedoch keine Anstrengung, um ihn zu erreichen, Was konnten sie von ihm wollen? Was beabsichtigten sie? Er ergriff die Ruder und begann mit aller Kraft ihnen zuzurudern, aber bald gewahrte er mit Bestürzung, daß das Fischerboot, dem er das Vorderteil seines Nachens zugewandt hatte, jetzt an seinem Hinterschiff lag, und gleich darauf, obschon er die Barke herumlegte, sah er es wieder an der entgegengesetzten Seite. Augenscheinlich hatte er einen Bogen gemacht, aber das Ende desselben befand sich innerhalb seines Anfangs – er beschrieb eine spiralförmige Kurve – und jetzt machte er einen zweiten und noch engeren. Ein furchtbarer Argwohn blitzte in seinem Hirn auf; er warf seine Tunika ab und arbeitete mit seinen Rudern wie ein Wahnsinniger. Aber obgleich er den Kreis hie und da ein wenig unterbrach, so beschrieb er doch fortwährend einen Bogen und kam dem Mittelpunkt desselben, in welchem er einen Trichter nach unten zischenden und schäumenden Wassers gewahrte, immer näher. Da warf er seine Ruder in Verzweiflung hin, richtete sich auf und streckte die Arme wie rasend empor. Ein Meervogel, welcher nahe an seinem Haupte laut aufkrächzte, hörte ihn aufschreien: »Charybdis«!Charybdis – ein Strudel zwischen Sicilien und Italien.

Und jetzt war der Zirkel, welchen sein Nachen beschrieb, nur noch um wenige Klafter breiter als dieser selbst; er warf sich stach zu Boden, verdeckte Augen und Ohren mit den Händen und hielt den Atem an, bis er fühlte, wie das Wasser bereits über ihm rauschte und er in den Abgrund hinabgezogen wurde.

»Ich möchte wissen,« sagte Torquatus zu sich selbst, »ob irgendjemand jemals auf diese Weise umgekommen ist? Oder ist es eine bloße Allegorie? – und wenn dem so ist – was bedeutet sie? Kann ein Mensch nach und nach auf diese Weise in geistigen Untergang hinabgezogen werden? Sind meine augenblicklichen Gedanken vielleicht schon ein äußerer Kreis, der mich erfaßt hat – und – mich – – «

»Fundi!« rief der Maultiertreiber aus, indem er auf eine vor ihnen liegende Stadt zeigte; und gleich darauf betrat das Maultier die breiten Fliesen des Straßenpflasters.

Torquatus sah seine Briefe durch und zog einen derselben hervor, welchen er für diese Stadt brauchte. Dann wies ihn sein Führer, welcher gut entlohnt wurde und sich darauf brummend und fluchend über den Geiz des Reisenden entfernte, vor ein armseliges Wirtshaus. Hier erfrug er den Weg nach dein Hause Cassianus, des Schulmeisters, fand es und übergab seinen Brief. Ihn empfing ein so herzliches Willkommen, als wäre er in seine Heimat zurückgekehrt; er nahm teil an der einfachen Mahlzeit seines Wirtes und vernahm während desselben die Geschichte des Gastgebers.

Ein Eingeborener von Fundi, hatte er eine Schule in Rom gegründet, deren Bekanntschaft wir bereits im Anfange unserer Erzählung gemacht haben. Er hatte einen außerordentlichen Erfolg gehabt. Als er jedoch eine Christenverfolgung nahe bevorstehend und sich selbst als Christen entdeckt sah, hatte er anderweitig über seine Schule verfügt und war in seine kleine Vaterstadt zurückgekehrt, in welcher die hervorragendsten und wohlhabendsten Bewohner versprochen hatten, ihm nach den Ferien ihre Kinder zum Unterricht anzuvertrauen. In einem Christen sah er nur einen Bruder; und deshalb sprach er stets frei und ohne Rückhalt von seinen früheren Erlebnissen und Aussichten für die Zukunft mit ihm. Ein seltsamer Gedanke, daß die Kenntnis von diesen Dingen eines Tages zu Golde gemacht werden könne, durchzuckte Torquatus' Hirn.

Es war noch früh, als Torquatus sich verabschiedete und indem er vorgab, noch verschiedene Geschäfte in der Stadt zu haben, wollte er seinem Wirt nicht gestatten, ihn zu begleiten. Er kaufte sich einen feineren Anzug, ging in das beste Gasthaus und bestellte einen Postillon mit zwei schnellen Pferden; denn um Fabiolas Auftrag auszuführen, war es notwendig, schnell zu reiten, die Pferde auf jeder Station zu wechseln und die ganze Nacht hindurch zu reisen. Dies that er auch, bis er Bovillae an den Ausläufern der albanischen Hügel erreichte. Hier ruhte er aus, wechselte seinen Reiseanzug und ritt fröhlich jene Gräberstraße entlang, welche ihn an die Thore der Stadt führte, innerhalb deren Mauern mehr Gutes und mehr Böses zu finden war, als in irgend einer Provinz des Kaiserreichs.


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