Kardinal Wiseman
Fabiola oder Die Kirche der Katakomben
Kardinal Wiseman

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Achtzehntes Kapitel

Vergeltung

Der Präfekt der Stadt ging, um seinen Bericht über die widrigen Begebenheiten des Tages abzustatten und sein möglichstes zu thun, um seinen unwürdigen Sohn zu schützen. Er traf den Kaiser in der schlechtesten Laune an. Wenn Corvinus ihm während der ersten Morgenstunde dieses Tages in den Weg gekommen wäre, so hätte niemand für seinen Kopf stehen können. Und jetzt hatte das Resultat des Einfalles in das Cömeterium seine Wut von neuem angefacht, als Tertullus in das Audienzzimmer trat.

Es war Sebastianus gelungen, den Nachtdienst thun zu können.

»Wo ist dein Bube von einem Sohn?« war die erste Begrüßung, welche der Präfekt erhielt.

»Er wartet draußen demütig auf deine Befehle, göttlicher Kaiser, und wünscht nur deinen gottähnlichen Zorn über die Streiche, welche der verhängnisvolle Zufall seinem Diensteifer gespielt hat, zu besänftigen.«

»Zufall!« rief der Tyrann aus, »Zufall, in der That! Seine eigene Dummheit und Feigheit! Ein schöner Anfang, bei den Göttern! Aber er soll mir dafür büßen. Bring ihn herein.«

Winselnd und zitternd wurde das Ungeheuer hereingeführt; Corvinus warf sich dem Kaiser zu Füßen, der ihm einen Stoß versetzte und ihn wie einen gepeitschten Hund mitten in die Halle stieß. Dieser Anblick stimmte den kaiserlichen Gebieter lächerlich und half seine Wut besänftigen.

»Komm Bursche! steh auf,« sagte er, »und laß mich deine eigene Erzählung hören. Wie ist mein kaiserlicher Befehl verschwunden?«

Corvinus erzählte eine unzusammenhängende Geschichte, welche den Kaiser stellenweise belustigte, denn er sah bald die komische Seite des verübten Streiches. Dies war ein gutes Zeichen.

»Nun,« sagte er endlich, »ich will Gnade an dir üben. Liktoren, löst eure Äxte.«

Sie zogen ihre Äxte hervor und prüften deren Schärfe.

Corvinus warf sich wiederum zu Boden und schrie:

»Schone mein Leben; ich kann wichtige Mitteilungen machen, wenn ich leben darf!«

»Wer will denn dein armseliges Leben nehmen?« antwortete der sanftmütige Maximian. »Liktoren, legt eure Äxte aus der Hand; die Ruten sind gut genug für ihn.«

Im nächsten Augenblick waren seine Hände ergriffen und gebunden, die Tunika war von den Schultern gestreift und eine Flut von Rutenhieben fiel auf dieselben herab, bis er brüllte und sich vor Schmerzen wand und krümmte. Dieser Anblick gewährte dem kaiserlichen Herrn das größte Vergnügen.

Bluttriefend und gedemütigt stand der Gestrafte vor ihm.

»Nun Bursche,« sagte letzterer, »jetzt mach uns auch die wundersamen Mitteilungen, von denen du sprachst.«

»Ich weiß, wer gestern Nacht das Verbrechen an deinem kaiserlichen Edikt begangen hat.«

»Wer ist es gewesen?«

»Ein Jüngling Namens Pancratius, dessen Messer ich grade unter der Stelle fand, von welcher dein Befehl fortgeschnitten worden ist.«

»Und weshalb hast du ihn dann nicht ergriffen und der gerechten Strafe überliefert?«

»Zweimal fast habe ich ihn heute schon in Händen gehabt, denn ich habe seine Stimme gehört; aber beide Mal ist er mir wieder entschlüpft.«

»Dann laß ihn nicht zum drittenmal entwischen, oder du wirst seine Stelle einnehmen müssen. Woher aber kennst du ihn oder sein Messer so genau?«

»Er war mein Schulgefährte in der Schule des Cassianus, der sich später als Christ entpuppte.«

»Ein Christ, der es wagt, meine Unterthanen zu belehren, sie zu Feinden meines Landes zu machen, untreu ihrem Herrscher und Verächter der Götter. Ich vermute, daß auch er es gewesen, welcher den Pancratius, dieser jungen Viper, lehrte, unseren kaiserlichen Befehl herabzureißen. Weißt du, wo er sich aufhält?«

»Ja, mein Gebieter! Torquatus, welcher dem christlichen Aberglauben entsagte, hat es mir gesagt!«

»Und wer ist dieser Torquatus?«

»Ein Mensch, der sich während einiger Zeit mit Chromatius und einer Gesellschaft von Christen auf dem Lande aufgehalten hat.«

»Nun, dies kommt ja schlimmer und schlimmer. Ist denn auch der Expräfekt Christ geworden?«

»Ja. Und er lebt mit vielen anderen dieser Sekte in Campanien.«

»Welcher Verrat! Welche Treulosigkeit! Ich weiß kaum mehr, wem ich noch trauen soll. Präfekt, schicke sofort jemand aus, der augenblicklich all diese Leute und den Schulmeister und auch den Torquatus gefangen nimmt.«

»Herr, er ist kein Christ mehr,« unterbrach ihn der Richter.

»Nun, was kümmert das mich?« erwiderte der Kaiser verdrießlich, »nimm so viele gefangen als du kannst, und schone keinen, und verursache ihnen so viel Qual als möglich. Verstehst du mich? Und nun fort mit euch allen! Es ist Zeit, daß ich zur Nacht speise.«

Corvinus ging nach Hause; und trotz schnell herbeigerufener ärztlicher Hilfe lag er die ganze Nacht im heftigen Fieber und in den brennendsten Schmerzen. Am nächsten Morgen bat er seinen Vater, an der Expedition nach Campania teilnehmen zu dürfen, damit er seine Ehre wiederherstellen, seinen Rachedurst befriedigen, und der Schande und dem Spott entgehen könne, mit welchem die römische Gesellschaft ihn ohne Zweifel überhäufen würde.

Als Fulvius seine Gefangene vor dem Tribunal abgeliefert hatte, eilte er nach Hause, um wie gewöhnlich dem Eurotas seine Erlebnisse mitzuteilen. Der alte Mann lauschte der nackten Erzählung mit unerschütterlichem Ernst und sagte endlich kalt:

»Sehr wenig Profit bei all diesem, Fulvius.«

»Kein augenblicklicher Profit, in der That, aber die Aussicht auf eine nutzbringende Zukunft wenigstens.«

»Wie das?«

»Nun, die stolze Agnes ist in meiner Gewalt. Jetzt weiß ich endlich mit Sicherheit, daß sie eine Christin ist. Ich kann sie nun notwendigerweise entweder gewinnen oder sie vernichten. In beiden Fällen gehört ihr Besitztum mir.« »Nimm die zweite Alternative an,« sagte der alte Mann mit unheimlichem Funkeln seiner Augen ohne die Züge zu verändern; »es ist der kürzere und weniger mühsame Weg.«

»Aber meine Ehre steht auf dem Spiel; ich kann mich nicht in der Weise verhöhnen und verspotten lassen, wie ich dir erzählt habe.«

»Man hat dich verhöhnt und verspottet, und das schreit nach Rache. Du hast mit Narrenspossen keine Zeit zu verlieren, vergiß das nicht. Deine Gelder sind fast verbraucht und frische Einkünfte sind ausgeblieben. Du mußt jetzt einen entscheidenden Streich führen.«

»Eurotas, gewiß wirst du doch wünschen, daß ich diese Reichtümer lieber auf ehrliche (hier lächelte Eurotas, das Wort war ihnen sonst unbekannt) Weise erlange, als durch niedrige Mittel.«

»Erlange ihn, erlange ihn nur auf irgend einem Wege, vorausgesetzt, daß dieser sicher und schnell zum Ziele führt. Du kennst unseren Vertrag. Entweder wird der alte Glanz und Reichtum der Familie wieder hergestellt, oder sie geht mit dir zu Ende. Sie soll nicht länger in Schande, das heißt in Armut leben.«

»Ich weiß es, ich weiß es, ohne daß du mich täglich an diese bittere Bedingung erinnerst,« sagte Fulvius indem er die Hände rang und von Kopf bis zu Füßen bebte. »Laß mir nur Zeit, und alles kann noch ein gutes Ende nehmen.« »Ich lasse dir Zeit bis alle Hoffnung geschwunden ist. Augenblicklich ist unsere Lage keine angenehme. Aber Fulvius, jetzt ist der Tag gekommen, an dem ich dir sagen muß, wer ich bin.«

»Wie? Warst du denn nicht der treue Diener meines Vaters, dessen Fürsorge er selbst mich anvertraute?«

»Ich war der ältere Bruder deines Vaters, Fulvius, und ich bin das Haupt der Familie. Ich habe nur einen Gedanken, nur ein Ziel im Leben gehabt: unserem Hause die alte Größe und den früheren Glanz, den es durch die Verschwendung und die Nachlässigkeit meines Vaters verloren, wiederzugeben. Da ich glaubte, daß dem Vater, mein Bruder, größeres Geschick für die Ausführung dieses Zwecks besäße, trat ich ihm unter gewissen Bedingungen meine Rechte und Vorteile ab; eine dieser Bedingungen war die Vormundschaft über dich und die ausschließliche Bildung deines Geistes und deiner Fähigkeiten. Du weißt, wie ich dich gelehrt habe, dir keine Gewissensbisse über die Mittel zu machen, welche wir in Anwendung bringen müssen, um unseren großen Zweck zu erreichen.«

Fulvius, dessen Blicke wie gebannt voll tiefer Aufmerksamkeit und Verwunderung an dem Sprecher hingen, sank vor Scham fast in die Erde, als er das Innerste der beiden Herzen so vor sich aufgedeckt sah. Aber der düstere alte Mann hielt seine Blicke mehr denn je gebannt und fuhr fort.

»Du erinnerst dich des schweren und verwickelten Verbrechens, durch welches wir die geteilten Überbleibsel eines Familienvermögens in deiner Hand vereinigten.«

Fulvius bedeckte das Gesicht mit den Händen, ein Schauder erfaßte ihn, dann sagte er flehend:

»O, erspare mir das, Eurotas, um des Himmels willen, erspare mir das!«

»Gut denn,« fuhr der andere unbewegt wie immer fort: »ich will mich kurz fassen. Vergiß nicht, Neffe, daß derjenige, welcher nicht vor einer glänzenden Zukunft zurückschreckt, die nur durch Schuld zu erringen ist, auch nicht vor dem Rückblick auf eine Vergangenheit schaudern darf, welche sie durch mehr als ein Verbrechen vorbereitet hat. Denn die Zukunft wird eines Tages ebenfalls Vergangenheit sein. Laß unseren Vertrag daher ehrlich und gradsinnig sein, denn auch die Sünde hat ihre Ehrlichkeit. Die Natur hat dir ein Übermaß von Selbstsucht und Verschlagenheit gegeben, und mir gab sie die Kühnheit und die Gewissenlosigkeit, jene zu leiten und auf die rechte Bahn zu führen. Unser Schicksal ist durch denselben Wurf entschieden – wir werden reich – oder wir sterben zusammen.«

Fulvius verwünschte innerlich den Tag, an welchem er nach Rom gekommen war, und jenen, an dem er sich an seinen strengen Gebieter gebunden hatte, dessen geheimnisvolles Band so viel stärker war, als er bis dahin geahnt hatte. Aber er fühlte, daß er an ihn festgebannt sei, und ebenso machtlos wie das Lamm in den Tatzen des Löwen. Mit schwererem Herzen denn je warf er sich auf sein Lager, denn eine düstere, furchtbare Ahnung lastete mit jeder neuen Nacht drückender auf seinem Herzen.

Vielleicht ist der Leser jetzt begierig zu erfahren, was aus dem dritten Mitgliede unseres würdigen Trios, dem abtrünnigen Torquatus, geworden ist. Als er bestürzt und verwirrt fortlief, um das Grab zu suchen, das ihm als Führer dienen sollte, geschah es, daß sich grade an der Galerie, in welche er eintrat, eine vernachlässigte Treppe befand, welche in den Sandstein gehauen war und in ein niedrigeres Geschoß des Cömeteriums führte. Die Stufen waren durch die Benutzung glatt und schlüpfrig geworden, und der Abstieg war steil. Torquatus, welcher sein Licht vor sich hielt und achtlos weiter lief, fiel kopfüber in die Öffnung hinein und blieb dort unten noch lange nachdem seine Gefährten fortgegangen waren, betäubt und bewußtlos liegen.

Endlich kam er wieder zu sich, und lange Zeit war er noch so verwirrt, daß er nicht wußte, wo er sich befand. Er erhob sich und tastete umher, bis sein Bewußtsein endlich wiederkehrte und er sich erinnerte, daß er in der Katakombe sei. Wie es aber zuging, daß er allein und im Dunkeln, begriff er noch immer nicht. Da fiel es ihm plötzlich ein, daß er noch einen kleinen Vorrat von Wachskerzen bei sich habe und ebenso das Mittel, um sie anzuzünden. Er machte Gebrauch hiervon und war froh, endlich wieder Licht um sich zu haben. Aber er entfernte sich von der Treppe, an welche er keine Erinnerung mehr hatte, und ging weiter und weiter, sich immer unrettbarer in dem unterirdischen Labyrinth verirrend.

Er hoffte bestimmt an irgend einen Ausweg zu gelangen, bevor noch seine Kerzen und seine Kraft erschöpft sein würden. Aber nach und nach begann doch eine gräßliche Furcht sich seiner zu bemächtigen, seine Stärke begann zu erlahmen, denn er hatte bereits seit dem frühen Morgen gefastet, und nachdem er anscheinend schon stundenlang umher gewandert war, kehrte er immer wieder an dieselbe Stelle zurück. Anfangs hatte er nur nachlässig umhergeblickt und gedankenlos die Inschriften auf den Gräbern gelesen. Als er aber matter und matter, und seine Hoffnung auf Erlösung schwächer wurde, begannen jene feierlichen Monumente zu seiner Seele zu reden, in einer Sprache, der er sein Ohr nicht verschließen, welche nicht zu verstehen er nicht behaupten konnte. »In Frieden beigesetzt« war der Bewohner des einen Grabes, »in Jesum entschlafen« war ein anderer, und sogar die tausend Namenlosen all umher lagen hier in tiefem Frieden, jede einzelne Ruhestätte trug das Siegel der mütterlichen Fürsorge der Kirche. Und drinnen lagen die gesalbten Überreste und harrten auf den Ruf der himmlischen Posaunen, welche sie zur seligen Auferstehung erwecken würde.

Und in wenigen Stunden würde er tot sein wie jene! Jetzt zündete er seine letzte Kerze an und sank dann auf einem Schutthaufen zusammen. Aber würde er wie sie von frommen Händen zur Ruhe gebettet werden? Allem, unbetrauert, unbekannt, unbeweint würde er auf dem kalten Erdboden sterben. Hier würde er verwesen und zerfallen. Und wenn in späteren Jahren seine Gebeine, denen das christliche Begräbnis versagt geblieben, einmal gefunden wurden, so sprach die Tradition die Vermutung aus, daß es die verfluchten Überreste eines Apostaten seien, welcher sich in der Katakombe verirrt habe. Und dann würden auch diese, wie er, von der Gemeinschaft dieser heiligen Stätte ausgestoßen werden.

Es ging schnell zu Ende; er konnte es fühlen; ihm begann zu schwindeln; sein Herz fing an zu zucken. Die Kerze wurde zu kurz für seine Finger und er stellte sie neben sich auf einen Stein. Vielleicht hätte sie noch drei Minuten brennen können; aber ein Tropfen, welcher durch die Decke sickerte, fiel auf sie herab, und sie erlosch. So geizig war er mit jenen drei Minuten mehr des Lichts, so angstvoll hütete er jenen kleinen Kerzenrest wie das letzte Glied, das ihn mit den Freuden dieser Erde verband, so begierig war er, noch einen allerletzten Blick auf äußere Dinge zu werfen, damit er nur keinen in sein Inneres zu thun brauche, – daß er Feuerstein und Stahl hervorzog und sich länger als eine Viertelstunde abmühte, um dem Zunder, der durch den kalten Angstschweiß seines Körpers feucht geworden war, einen Funken Lichts zu entlocken. Und als er dann den Rest seiner Kerze wieder angezündet hatte, nützte er ihren Schein nicht, um noch einmal umherzublicken, sondern er heftete den Blick mit blödem Ausdruck auf dieselbe, als sei sie der Zauber, an welchem sein Leben hinge und dieses müsse mit ihr verlöschen. Bald schimmerte der letzte Funke wie ein Glühwurm – dann ward es Nacht.

War er ebenfalls tot? fragte er sich. Weshalb nicht? Immerwährende vollständige Nacht hatte sich auf ihn herabgesenkt. Er war für immer von jedem Verkehr mit den Lebenden abgeschnitten; keine Nahrung würde je wieder über seine Lippen kommen, kein Laut mehr an sein Ohr schlagen, seine Augen würden kein Licht, keinen Menschen, keinen Gegenstand mehr sehen. Er war den Toten zugesellt, nur war sein Grab viel größer als das ihre, aber trotzdem war es dunkel und einsam und geschlossen für ewig. Was ist der Tod denn anderes?

Nein, es konnte der Tod noch nicht sein. Auf den Tod mußte doch irgend etwas folgen. Aber auch dies kam. Der Wurm begann an seinem Gewissen zu nagen, und er wuchs schnell und ward so groß wie eine Schlange und wand sich um sein Herz. Er versuchte an freundliche Dinge zu denken, und sie zogen an seiner Seele vorüber: jene stillen Stunden in der Villa mit Chromatius und Polycarpus, ihre gütigen Worte, ihre letzte Umarmung. Aber aus dieser friedlichen Vision zuckte ein jäher, versengender Blitz auf: er hatte sie verraten, er hatte von ihnen gesprochen – und zu wem? Zu Fulvius und Corvinus. Die verhängnisvolle Saite war berührt wie der empfindliche Nerv eines Zahnes, der seinen wühlenden Schmerz bis in das Centrum des Gehirns sendet. Das wüste Trinkgelage, das unehrliche Spiel, die niedere Heuchelei, der gemeine Verrat, der fürchterliche Abfall, die qualvollen, marternden Sakrilegien der letzten Tage, der mörderische Überfall des heutigen Morgens: alles dies tanzte wie ein Kreis von Dämonen Hand in Hand in der Dunkelheit vor ihm, und sie schrieen und lachten und pfiffen und stöhnten und weinten und fletschten die Zähne, und sprühende Funken, welche vor seinen Augen erzitterten, schienen rauchenden Fackeln in ihren Händen zu entsteigen. Er sank um und bedeckte die Augen.

»Vielleicht bin ich doch tot,« sagte er vor sich hin, »denn die Hölle kann nichts fürchterlicheres als dies in sich bergen.«

Sein Herz war zu matt, um Wut empfinden zu können; in der Ohnmacht der Verzweiflung schwand jede Hoffnung. Seine Kraft ging schnell zu Ende – da glaubte er plötzlich in einiger Entfernung Laute zu vernehmen. Aber er wies diesen Gedanken von sich. Doch wieder schlugen ferne Harmonien an sein Ohr. Er erhob sich. Die Töne wurden klarer. Sie klangen so süß, so ganz wie ein Chor von Engelsstimmen, daß er zu sich selbst sagte:

»Wer hätte geglaubt, daß der Himmel der Hölle so nahe ist! Oder kommen sie mit dem furchtbaren Richter einhergeschwebt, um mich zu verurteilen?«

Und jetzt drang aus derselben Entfernung, aus welcher die süßen Töne kamen auch ein klarer Lichtschimmer. Deutlich hörte er die Worte, welche der Gesang begleitete:

» In pace, in idipsum, dormiam et requiescam»In Frieden werde ich schlafen und ruhen.« Psalm 4, V. 9.

»Diese Worte sind nicht für mich. Sie würden für das Begräbnis eines Märtyrers passen; aber nicht für das eines Verlorenen!«

Der helle Schein kam näher; es war, als wenn die Dämmerung in helles Tageslicht übergeht. Er drang in die Galerie und glitt durch dieselbe; er zeigte dem Unglücklichen ein Bild, welches zu deutlich war, um nicht wirklich zu sein. Zuerst kamen Jungfrauen in weißen Gewändern und trugen Lampen, darauf folgten ihrer vier, welche eine in ein weißes Tuch gehüllte Gestalt trugen, auf deren Haupt eine Dornenkrone ruhte; nach ihnen der jugendliche Acolyth Tarcisius, welcher einen Rauchkessel trug, dem duftender Weihrauch entstieg; und hinter der übrigen Geistlichkeit schritt der ehrwürdige Papst, ihm zur Seite Reparatus und ein anderer Diakon. Diogenes und seine Söhne mit trauerndem Antlitz, und viele andere, unter denen er auch Sebastianus erblickte, schlossen die Prozession. Da viele von ihnen Lampen und Kerzen trugen, schienen sich die Gestalten in einer unveränderlich milden Atmosphäre des Lichts zu bewegen.

Als sie an ihm vorüber gingen, sangen sie den nächsten Vers des Psalms:

» Quoniam Tu Domine singulariter in spe constituisti me»Denn Du, o Herr, hast mich ganz besonders im Vertrauen stark gemacht.« Psalm 4, V. 9.

» Das,« rief er aus, indem er sich erhob, » das ist für mich!«

Mit diesem Gedanken hatte er sich auf die Knie geworfen; und wie durch eine Eingebung der göttlichen Gnade fielen ihm Worte ein, die er früher gehört hatte; Worte, welche für diesen Augenblick paßten; Worte, die er wie ein Echo sprechen mußte. Schwach und matt kroch er vor, wandte sich in die Galerie, durch welche die Prozession schritt und folgte ihr unbemerkt in einiger Entfernung. Sie trat in eine Kammer, welche so erleuchtet wurde, daß ein Bild des guten Hirten gütig und freundlich auf ihn herabsah. Doch er wollte nicht über die Schwelle treten, er blieb draußen stehen und schlug sich vor die Brust und flehte um Gnade.

Die Leiche war auf die Erde gelegt worden; weitere Psalmen und Hymnen wurden gesungen und Gebete gesprochen, alles in dem fröhlichen hoffnungsvollen Ton, in welchem die Kirche stets vom Tode spricht. Endlich wurde die Leiche in das unter einem Bogen für sie bereitete Grab gelegt. Während dies geschah, näherte Torquatus sich einem der Zuschauer und flüsterte ihm die Frage zu:

»Wessen Begräbnis ist das?«

»Es ist die Beisetzung der seligen Cäcilia, einer blinden Jungfrau, welche heute Morgen in die Hände der Soldaten gefallen ist, während sie in diesem Cömeterium weilte. Und jetzt hat Gott ihre Seele zu sich genommen, antwortete ihm der Gefragte.

»Dann bin ich ihr Mörder!« rief er laut jammernd aus, und indem er sich taumelnd bis vor die Füße des heiligen Papstes schleppte, fiel er dort zu Boden. Es verging geraume Zeit, bevor er seinen Gefühlen in Worten Luft machen konnte. Als er diese endlich fand, waren es jene, welche er zu sprechen beschlossen:

»Vater, ich habe gegen dich und den Himmel gesündigt, und ich bin nicht wert, daß du mich dein Kind heißest!«

Der Papst hob ihn sanft empor, drückte ihn an seine Brust und sagte: »Ich heiße dich wieder willkommen, mein Sohn, in deines Vaters Hause, wer du auch sein magst. Aber du bist schwach und matt und bedarfst der Ruhe.«

Schnell wurden einige erquickende Tränke herbeigeschafft. Aber Torquatus wollte nicht ruhen, bevor er nicht öffentlich seine ganze Schuld bekannt und die Verbrechen dieses Tages eingestanden hatte (denn man war noch am Abend desselben Tages). Alle freuten sich und jubelten über die Rückkehr des verlorenen Sohnes, über die Wiederauffindung des verirrten Lammes. Agnes warf einen letzten liebevollen Blick auf das Leichentuch der blinden Jungfrau und sah dann zum Himmel empor. Ihr war es fast, als sähe sie sie zu den Füßen des himmlischen Bräutigams sitzen, lächelnd, nicht mehr blind, die Augen weit geöffnet und eine Handvoll Blumen auf das Haupt des Büßers herabwerfend – die erste Frucht ihrer Fürbitte bei dem allmächtigen Vater.

Diogenes und seine Söhne nahmen sich seiner an. Ganz in der Nähe wurde ihm in einer christlichen Hütte eine bescheidene Unterkunft besorgt, damit er sich weder in dem Bereich der Versuchung noch in dem der Rache befände, und er wurde in die Liste der Büßer eingetragen. Jahre der Bußübungen, welche durch die Fürbitte von Bekennern – das heißt von künftigen Märtyrern – abgekürzt wurden, sollten ihn darauf vorbereiten, wieder in den Vollgenuß all der Gnaden und Rechte zu treten, deren er verlustig gegangen war.Das Bußsystem ist in einem Werke beschrieben, welches von der zweiten Periode der Geschichte der Kirche handelt. Es ist ganz bekannt, besonders durch die Schriften des heiligen Cyprianus, daß diejenigen, welche sich während einer Verfolgung schwach erwiesen und einer öffentlichen Buße unterworfen wurden, eine Verkürzung derselben durch die Fürbitte von Bekennern und solcher Personen, welche um des Glaubens willen eingekerkert wurden, erlangen konnten.


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