Kardinal Wiseman
Fabiola oder Die Kirche der Katakomben
Kardinal Wiseman

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Einunddreißigstes Kapitel

ΔΙΟΝΥCΙΟΥ
ΙΑΤΡΟΥ
ΠΡΕCΒΥΤΕΡΟΥ

»(Das Grab des) Dionysius, Arzt (und) Priester«, vor kurzem beim Eingange zur Krypta des heiligen Cornelius im Cömeterium des Callistus gefunden

Die großen Gedanken, welche dieser Vorfall selbstverständlich in dem edlen Herzen Fabiolas erweckt haben würde, wurden durch die dringenden Forderungen, die der Moment an sie stellte, für den Augenblick unterdrückt. Ihre erste Sorge war, das strömende Blut mit dem, was ihr am nächsten zur Hand war, zu stillen. Der dumme Thürhüter hatte bereits begonnen, über das lange Verweilen des Fulvius (der Leser kennt seinen wahren Namen jetzt) unruhig zu werden, als er ihn wie einen Wahnsinnigen zur Thür hinausstürzen sah und Blutflecke auf seinen Gewändern wahrzunehmen glaubte. Augenblicklich alarmierte er den ganzen Haushalt.

Fabiola gebot den Hereindrängenden mit einer Handbewegung an der Thür ihres Zimmers Halt und forderte nur die alte Euphrosyne und die griechische Dienerin auf einzutreten. Letztere hatte sich unendlich liebevoll an Syra angeschlossen, seitdem sie dem Einflusse der schwarzen Sklavin entrückt worden und hatte ihren moralischen Lehren stets mit der größten Sanftmut gelauscht. Man sandte sofort einen Sklaven ab, um den Arzt zu holen, welcher Syra – wie wir sie vorläufig noch nennen müssen – in jeder Krankheit behandelt hatte. Es war Dionysius, welcher, wie wir bereits bemerkt haben, in Agnes' Hause wohnte.

Inzwischen hatte Fabiola mit namenloser Freude bemerkt, daß das Blut anfing langsamer zu fließen. Endlich schlug die Dienerin sogar die Augen auf, wenn auch nur für einen kurzen Augenblick. Für keine Schätze der Welt würde sie den dankbar lächelnden Blick eingetauscht haben, welchen Syra in diesem Moment auf sie richtete.

Nach kurzer Zeit langte auch der gütige Arzt an. Er untersuchte die Wunde außerordentlich sorgsam und gab die günstige Erklärung ab, daß für den Augenblick wenigstens nichts zu befürchten sei. Wenn jener Dolchstoß das beabsichtigte Ziel nicht verfehlt hätte, so würde er Fabiola grade ins Herz getroffen haben. Trotz des Verbotes hatte die treue Dienerin sich während des ganzen Tages unbemerkt in der Nähe ihrer Herrin aufgehalten; sie drängte sich ihr nicht auf, aber sie wartete ängstlich auf jede Gelegenheit, die sich darbieten könnte, um jene Eindrücke der Gnade, welche die Vorgänge des Morgens notwendigerweise auf sie gemacht haben mußten, nach Kräften zu unterstützen. Während sie sich in einem nahegelegenen Gemache aufhielt, vernahm sie plötzlich heftige Worte, deren Klang ihr leider nur zu bekannt war; geräuschlos eilte sie hinzu und verbarg sich hinter dem Vorhang, welcher die Thüröffnung zu Fabiolas Zimmer verdeckte. Im Dunkel verborgen stand sie an derselben Stelle, wo Agnes sie vor wenigen Monaten noch so liebevoll getröstet hatte.

Nicht lange hatte sie dort gestanden, als der letzte heftige Streit begann. Während der Mann ihre Herrin rückwärts vor sich herschob, folgte sie ihm, und als er den Arm hob, stürzte sie an ihm vorüber und deckte mit ihrem Körper den seines Opfers. Der Schlag fiel, aber durch den Stoß, welchen sie seinem Arm gab, verfehlte er das Ziel, er traf ihren Nacken, verursachte dort eine tiefe Wunde, welche indessen dadurch minder verhängnisvoll wurde, daß der Stahl auf das Schlüsselbein stieß. Wir brauchen nicht zu sagen, was es sie kostete, dieses Opfer zu bringen. Weder Furcht vor Schmerzen noch Angst vor dem Tode würde sie einen Augenblick zurückgehalten haben; es war nur das Entsetzen vor dem Gedanken, ihrem Bruder das Kainszeichen auf die Stirn zu drücken, ihn zum doppelten Brudermörder zu machen, welcher sie auf das qualvollste peinigte. Aber sie hatte ihr Leben für ihre Herrin gewagt. Mit dem Mörder, dessen Kraft und Gelenkigkeit sie kannte, zu kämpfen, wäre nutzlos gewesen; zu versuchen, das ganze Haus zu alarmieren, bevor noch der verhängnisvolle Schlag gefallen, erschien ihr hoffnungslos, so blieb ihr nichts übrig, als die Selbstaufopferung zu vollenden und sich für Fabiola hinzugeben. Doch aber wollte sie ihrem Bruder noch die Ausführung seines furchtbaren Verbrechens ersparen – und indem sie dies that, offenbarte sie Fabiola ihre verwandtschaftlichen Beziehungen und ihre wahren Namen.

In seiner blinden Wut wollte er ihr nicht Glauben schenken; als sie ihm aber die Worte zurief, welche in ihrer Muttersprache bedeuteten: »Gedenke meines Tuches, das du hier gefunden,« da kehrte eine so furchtbare Geschichte häuslichen Elends in sein Gedächtnis zurück, daß er, wenn die Erde sich in diesem Augenblick vor seinen Füßen geöffnet hätte, mit Freuden in den Abgrund hinabgesprungen wäre, um so seiner Schande und seinen marternden Gewissensbissen ein Ende zu machen.

Es war doch seltsam, daß er dem Eurotas niemals gestattet hatte, sich dieses Familienkleinodes, dieses Heiligtums aus glücklicherer Zeit zu bemächtigen; wie eine Reliquie hatte er es aufbewahrt seit dem Augenblick, wo es wieder in seinen Besitz gelangt war, und als jeder, auch der geringste Gegenstand eingepackt oder beseitigt wurde, hatte er es sorgsam zusammengefaltet und auf seinem Herzen verborgen. Als er hier in Fabiolas Gemach seinen orientalischen Dolch hervorgezogen, hatte er auch das Tuch herausgerissen, und beides wurde nun auf dem Fußboden gefunden. Gleich nachdem Dionysius die Wunde verbunden und die nötigen Wiederbelebungsmittel angewandt hatte, um das Bewußtsein zurückzubringen, sprach er den Wunsch aus, daß man der Kranken vollkommene Ruhe gönne und so wenig Personen wie möglich in ihre Nähe kommen lasse, um jede Aufregung zu vermeiden; im übrigen sollte man ihr auf das genauste die von ihm vorgeschriebene Behandlung angedeihen lassen und zwar bis Mitternacht.

»Ich werde morgen in aller Frühe wiederkehren,« fügte er hinzu, »und muß meine Patientin dann allein sehen.«

Er flüsterte ihr einige Worte ins Ohr, die ihr wohler zu thun schienen als alle Arzeneien und Tränke, denn ein engelhaftes Lächeln kam über ihre Züge.

Fabiola hatte sie in ihr eigenes Bett gelegt, und indem sie ihre Dienerschaft in das äußere Gemach wies, wahrte sie sich selbst das Vorrecht – denn dafür hielt sie es – die Dienerin pflegen zu dürfen, welcher sie noch vor wenigen Monaten kaum dankbar gewesen, als diese sie während einer ansteckenden Fieberkrankheit allein bedient hatte. Den anderen hatte sie mitgeteilt, auf welche Weise die Wunde beigebracht worden; die Verwandtschaft zwischen dem Mörder und ihrer Retterin hatte sie jedoch verschwiegen.

Obgleich sie sich selbst erschöpft und fieberkrank fühlte, war sie nicht zu bewegen, sich auch nur für einen Augenblick von dem Lager der Kranken zu entfernen; und als Mitternacht vorüber war und keine Arzeneien mehr angewandt werden sollten, sank sie auf einem niedrigen Ruhebett neben der Patientin zusammen.

Welcher Art mochten ihre Gedanken sein, als sie ihnen jetzt in dem trüben Licht eines Krankenzimmers den Einzug in ihre Seele und ihr Herz gestattete? Sie waren einfach und ernst. Plötzlich sah sie die Wahrheit und Wesenheit alles dessen ein, was ihre Sklavin ihr jemals gesagt. Als sie zuletzt mit ihr gesprochen, waren ihr die Grundsätze, denen sie mit Entzücken gelauscht hatte, wie etwas überirdisches erschienen – wunderherrliche Theorien, die niemals zur Ausführung gebracht werden konnten. Als Mirjam eine Sphäre der Tugendhaftigkeit beschrieben hatte, in welcher man keinen Lohn, keinen Beifall von Menschen erwarten durfte, sondern nur von dem gütigen Auge Gottes gesehen werde – da hatte sie diesem Gedanken, welcher mächtig auf ihre empfängliche Seele gewirkt hatte, ihre staunende Bewunderung gezollt; aber sie hatte sich dagegen aufgelehnt, ihn zum zwingenden Maßstab ihrer stündlichen Handlungsweise zu machen. Und doch – wenn der Dolchstoß, dem die Sklavin sich entgegen geworfen, um ihn von ihrer Gebieterin abzuwenden, verhängnisvoll geworden, wie es leicht möglich gewesen – welches wäre ihre Belohnung gewesen? Was konnte also ihr Beweggrund gewesen sein, wenn nicht jene Theorie der Verantwortlichkeit einer höheren, unsichtbaren Macht gegenüber?

Und wenn Mirjam von Heldenmut in der Tugend gesprochen – wie eitel und träumerisch hatte sie dann dieser Grundsatz gedünkt! Und doch hatte diese Sklavin hier ohne Vorbereitung, ohne Nebengedanken, ohne Überlegung, ohne Erregung, ohne Ruhm – ja, sogar mit dem deutlichen Verlangen nach Geheimhaltung, eine That der Selbstaufopferung vollbracht, welche in jeder Beziehung heldenmütig war. Woraus konnte diese entsprungen sein, wenn nicht aus gewohnheitsmäßigem Heldenmut der Tugend, der in jedem Augenblick bereit war, das als selbstverständlich zu vollbringen, was den Namen eines Soldaten für alle Zeit verherrlichen würde? Sie war also keine Träumerin, keine Theoretikerin, sondern eine ernste, wahre Ausüberin alles dessen, was sie lehrte. Konnte dies nur Philosophie sein? O nein, es mußte Religion sein! Die Religion von Agnes und Sebastianus, denen sie Mirjam in jeder Beziehung ebenbürtig glaubte. Ach! wie sie sich sehnte, wieder mit ihr sprechen zu dürfen!

Seinem Versprechen gemäß fand sich der gütige, liebevolle Arzt früh am nächsten Morgen wieder ein und fand die Kranke bereits viel kräftiger. Er bat, ihn mit ihr allein zu lassen. Dann breitete er ein Linnentuch über den Tisch, stellte angezündete Kerzen darauf und zog aus den Brustfalten seines Gewandes ein gesticktes Tuch. Aus diesem nahm er ein goldenes Gefäß, dessen heiligen Inhalt sie gar wohl kannte. Dann trat er zu ihr und sagte:

»Mein teures Kind, wie ich dir versprochen, bringe ich dir nicht nur das wahrste und einzige Mittel gegen jede Krankheit, sei sie körperlich oder seelisch, sondern ich bringe dir den Arzt selbst, der durch sein Wort alle Dinge wiederherstellt,» Qui verbo suo instaurat universa.« Brevier. dessen Berührung die Augen der Blinden sehend, die Ohren der Tauben hörend macht, dessen Willen die Aussätzigen heilt, dessen Gewandessaum Kraft ausströmt, um alle zu heilen. Bist du bereit, ihn zu empfangen?«

»Von ganzem Herzen bereit,« sagte sie und faltete die Hände, »ich sehne mich danach, Ihn zu besitzen, Ihn, den allein ich geliebt habe, an den ich geglaubt habe, dem mein Herz gehört.«

»Wohnt kein Zorn, keine Empörung in deinem Herzen gegen den, der dich verwundet hat? Steigt keine Eitelkeit, kein Zorn, kein Hochmut in deiner Seele auf bei dem Gedanken an das, was du vollbracht hast? Oder bist du dir irgend eines anderen Fehlers bewußt, welcher des demütigen Bekenntnisses und der Lossprechung bedarf, ehe du die heilige Gabe in dein Herz aufnimmst?«

»Ehrwürdiger Vater, ich weiß, daß ich unvollkommen und voller Sünde bin; aber ich bin mir keiner besonderen Missethat bewußt. Ich brauche dem nicht zu vergeben, auf welchen du hindeutest; ich liebe ihn zu innig und würde mit Freuden mein Leben hingeben, um seine Seele zu retten. Und auf was sollte ich stolz sein? Ich, eine arme Sklavin, die nur den Geboten Gottes gehorcht hat?«

»So lade denn den Herrn in dein Haus, mein Kind, daß Er komme und dich heile und dich mit seiner Gnade erfülle.«

Dann näherte er sich dem Tische, nahm einen kleinen Teil der heiligen Eucharistie in Form eines ungesäuerten Brotes von demselben, feuchtete es mit einigen Tropfen klaren Wassers an, da es hart war, und schob es Mirjam zwischen die Lippen.Eusebius, in seinem Bericht über Serapion, teilt uns mit, daß dies die Art war, den Kranken die heilige Kommunion ohne den Kelch zu erteilen. Sie schloß dieselben, und lag einige Minuten in fromme Betrachtungen versunken da.

Und auf diese Weise versah der heilige Dionysius sein zwiefaches Amt als Arzt und als Priester, wie wir es auf seinem Leichenstein gelesen


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