Christoph Martin Wieland
Menander und Glycerion
Christoph Martin Wieland

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

XXXIX.

Glycera an Leontion.

Du strafst mich beinahe gar zu streng dafür, liebe Leontion, daß ich dich nicht tief genug in meine Seele habe blicken lassen, um auch das zu sehen, was du in meinen Augen nicht lesen konntest, wenn sie auch die Tugend wirklich besäßen, die du an ihnen rühmst. Ich würde mir deine Vorwürfe und Spöttereien, Dir vielleicht eine kleine Reue dadurch erspart haben: denn eine solche Züchtigung habe ich schwerlich verdient. Doch, du bist zu liebenswürdig, als daß du nöthig hättest, es immer so scharf mit dir selbst zu nehmen – und zum Beweis, daß ich dir aufrichtig verzeihe, will ich dir mit allem Vertrauen, wozu du von deiner Glycera berechtigt bist, das Innerste meines Herzens aufschließen, und dir dann das Urtheil überlassen, in wie weit mein Betragen gegen Hermotimus dadurch gerechtfertigt werde oder nicht.

Daß ich nichts weniger als gleichgültig gegen ihn bin, begehre ich so wenig zu läugnen, daß ich dir vielmehr gestehe, Hermotimus ist in gewissem Sinn meine erste Liebe. Dieses Geständniß, liebe Leontion, kann dich nicht stärker überraschen, als die Entdeckung des wahren Zustandes meines Herzens mich selbst überraschte. Wie war es möglich, daß ich das, was ich für Menandern fühlte, mehrere Jahre lang für Liebe halten konnte? Und, was noch seltsamer ist, wie konnte Menander, der in erotischen Sachen nur zu wohl erfahren ist, sich selbst so sehr hintergehen, daß er der Gegenstand meiner ersten Liebe zu sein glaubte, und es doch nicht war? Höre mich, und alles soll dir, denke ich, ziemlich begreiflich werden.

Ich war, wenn meiner Mutter zu glauben ist, von der Wiege an ein sehr lebhaftes, aufmerksames und an allem theilnehmendes Kind. Man glaubte, daß Etwas aus mir zu machen wäre, und der Zufall fügte es, daß Menander, ohne sein Wissen und Wollen, das hauptsächlichste Werkzeug meiner Bildung wurde. Ich war noch ein Kind, als ich meinen Vater verlor. Ein Oheim meiner Mutter, der den größten Theil seines Lebens auf dem Lande mit Verwaltung seiner nicht unbeträchtlichen Güter zugebracht, hatte diese kurz vor dem Tode meines Vaters seinem Sohn übergeben und sich nach Sicyon zurückgezogen, um den Rest seines Lebens im Schoß der Familie seiner Schwester zuzubringen. Ich wurde sein Liebling, und er machte sich einen Zeitvertreib daraus, mich lesen und schreiben zu lehren. Ich mochte etwa zwölf Jahre haben, als er das Gesicht verlor. Nun war es an mir, ihm für die Mühe, die er sich mit mir gegeben, meine Dankbarkeit zu beweisen, und ich wurde seine Vorleserin. Er besaß eine ziemlich große Sammlung der meisten Dichter der neuen Komödie, welche zu seiner Zeit zu blühen angefangen hatte. Diese mußte ich ihm alle nach und nach vorlesen, und so wurde ich mit den Werken des Alexis, Philemon, Menander, und verschiedener Anderer bekannt; und der alte Großoheim unterließ nicht, mich auf das, was an jedem vorzüglich zu loben oder zu tadeln war, aufmerksam zu machen. Je mehr mein Gefühl für das Schöne sich entwickelte und verfeinerte, desto mehr Gefallen fand ich an den Stücken Menanders; ich wurde nicht müde, sie für mich selbst wieder zu lesen, und las sie so oft, daß ich in kurzer Zeit die meisten auswendig wußte. In meinem vierzehnten Jahre verloren wir auch den alten Oheim, der bisher unsre einzige Stütze gewesen war. Da er eines so schnellen Todes starb, war es glücklich für uns, daß sich ein Testament vorfand, worin er, auf den Fall daß sein Sohn ohne gesetzmäßige Leibeserben die Welt verlassen sollte, meine Mutter und seine Vorleserin zu Erben seiner Güter einsetzte, inzwischen aber uns sein Haus in Sicyon mit einer kleinen Rente vermachte, die jedoch zu unserm Unterhalt nicht zureichte. Das übrige meiner Geschichte und die sonderbare Art, wie ich in ein näheres Verhältniß mit Menandern kam, ist dir bekannt. Ich stand in meinem sechszehnten Jahr, als wir nach Athen zogen, und du wirst mir gern zugeben, daß ein Mädchen in diesem Alter mit der Weisheit, die sie aus Milesischen Mährchen und Komödien geschöpft hat, nicht weit reicht. War es Wunder, daß ein unerfahrnes, mit seinem eigenen Herzen noch unbekanntes, aber lebhaftes, gefühlvolles junges Geschöpf, in dessen Augen der Mann, der so schöne Komödien schrieb, der Erste aller Menschen war, geblendet und unendlich geschmeichelt von dem unverhofften Glück, der Liebling dieses Mannes zu sein, sich die verworrenen Gefühle ihres Herzens nicht klar zu machen, und nicht jedem seinen rechten Namen zu geben wußte? Woher hätte ich den Scharfblick nehmen sollen, den Antheil, den jugendliche Eitelkeit auf der einen und Dankbarkeit und Hochachtung auf der andern Seite an meinen Gesinnungen für Menandern hatten, unterscheiden zu können? Man kann diese Gefühle und Gesinnungen Liebe nennen – wie vielerlei Liebe giebt es nicht? Aber daß es nicht die Liebe war, der dieser Name in der eigentlichsten Bedeutung zukommt, hätte ich, wenn man einen Begriff von ihr haben könnte, bevor man sie wirklich erfährt, schon aus der Gleichgültigkeit erkennen müssen, worin mich seine erste Untreue ließ. Ich hätte dir viel sonderbares hierüber zu sagen, wenn die Materie nicht so zarter und unberührbarer Art wäre, daß ich, um mich nicht länger dabei aufzuhalten, lieber voraussetze, du habest mich bereits verstanden. Übrigens läugne ich nicht, daß ich eine geraume Zeit mehr als bloße Freundschaft für Menandern fühlte; aber gerade dieses Mehr war Täuschung. Was mich betrog, war nicht mein Herz; unser Herz kann uns, glaube ich, nie betrügen; sondern die übereilte Wahl des Gegenstandes, die eine Folge meiner Unerfahrenheit und Dumpfheit war, und mich meine schönsten und zartesten Empfindungen an einen Mann heften ließ, der sie weder zu schätzen noch zu erwiedern wußte. Du erinnerst dich vielleicht bei dem Wort: Unerfahrenheit, daß in Athen die Rede ging: der Mahler Pausias sei mein erster Liebhaber gewesen. Vielleicht glaubte man, das Bild, wodurch ich so berühmt worden bin, würde ihm nicht so gut gelungen sein, wenn er nicht mit Liebe gemahlt hätte. Es ist nicht unmöglich, daß dies bei ihm der Fall war: aber was ich gewiß weiß, ist, daß er, außer der Erlaubniß mein Bild zu machen, sich keiner andern Gunst von mir zu rühmen hat.

Über meinen dermaligen Gemüthszustand werde ich dir itzt nur wenig sagen, weil er noch oft genug das Gespräch unsrer fraulichsten Stunden sein wird. Seit sechs bis sieben Jahren haben mich Erfahrung und Nachdenken zum besonnensten Gefühl meiner Selbst gereift; ich werde alles gewahr, was in mir vorgeht, gebe mir von allem Rechenschaft, und glaube vor neuen Täuschungen ziemlich sicher zu sein. Wenn ich mir damit nicht zuviel schmeichle, so hab' ich es vornehmlich dir zu danken, meine Leontion. Denn du hast mir über die Natur der Liebe, und der verschiedenen Triebe, die sich zu ihr gesellen, die Augen geöffnet, und mich überzeugt, wie widersinnig die falsche Scham ist, die uns nicht erlauben will, wenigstens uns selbst zu gestehen, daß jeder Liebe zu einer gewissen Person ein allgemeines Bedürfniß, zu lieben, zum Grunde liegt. Fern sei es von mir, darüber zu erröthen, daß lieben und geliebt werden für mich eine Bedingung der Glückseligkeit ist. Aber um so mehr liegt mir daran, mich weder, wie beim ersten Mal, von einem Strom schwärmerischer Gefühle hinreissen zu lassen; noch, da ich itzt mit völliger Besonnenheit zu wählen fähig bin, mich in der Wahl des Gegenstandes zu irren. Hermotimus hat beides, meinen Verstand und mein Herz, auf seine Seite gebracht. Alles, was ich an ihm sehe, alles, was ich von ihm höre, seine Denkart, seine Sitten, sein ganzes Wesen flößt mir Hochachtung, Vertrauen und Zuneigung für ihn ein. Mir ist, so oft ich ihn sehe, ich höre eine Stimme in meinem Busen, die mir zuflüstre: der ist's! Wagte ichs, dieser Stimme zu gehorchen, ich würde ihm bis zu den Garamanten und Indiern folgen; würde mich mit ihm auch in den beschränktesten Umständen glücklich fühlen; wäre fähig, alles für ihn zu thun und für ihn zu leiden. Aber bin ich gewiß, daß Er – wenigstens so viel es einem Manne möglich ist – ebendieselben Gesinnungen für mich hat? und sie immer haben wird? Wenn ich dir und mir selbst glaube, so wage ich nichts bei ihm; aber welches Weib darf sich schmeicheln, die Männer ergründet zu haben? Warum sollte ich mich übereilen? Und wie könnte Hermotimus es übel finden, daß ich ihn auf eine Probe setze, der ich mich selbst unterwerfe?

Aber, was ihn, wie es scheint, am meisten schmerzt, ist, daß ich, wenn wir uns allein befinden, entweder wenig rede, oder über seine Liebe scherze. Zu beidem könnte ich wohl eine Ursache haben, die ihn vielmehr erfreuen als betrüben sollte. Wenigstens ist meine Absicht nicht, ihn durch ein Benehmen zu kränken, wobei ich bloß auf meine eigene Sicherheit bedacht bin. Ich rede wenig, aus Furcht zuviel zu sagen, und scherze, um nicht von seinem Ernst angesteckt zu werden. Wenn es aber auch bloße Laune von mir wäre, bei einer Verbindung auf das ganze Leben ist es nichts weniger als überflüssig, Versuche zu machen, wie viel man allenfalls von einander ertragen könne. Ich gestehe ihm das nehmliche Recht zu, und unterwerfe mich allen Proben, auf die er mich stellen will.

»Aber wozu (hör' ich dich sagen) so viele Proben, da du selbst gestehst, daß sein ganzes Wesen und Betragen dir Achtung und Zutrauen einflößt?« Ich muß bekennen, dies sieht einem Widerspruch mit mir selbst ähnlich; aber bin ich nicht vielmehr zu beklagen als zu schelten, daß ich mit allem meinem Zutrauen zu Hermotimus mich doch eines unvermerkten Einflusses meines allgemeinen Mißtrauens gegen die Männer nicht erwehren kann? – Und doch wär' es lächerlich, ihn dafür büßen zu lassen, daß er ein Mann ist. – Habe also, ich bitte dich, noch etwas Geduld mit mir, liebe Leontion. Eben darum, weil ich entschlossen bin, von dem Augenblick an, da ich mich ihm gegeben haben werde, alle seine Fehler mit der holdesten Sanftmuth zu ertragen: so liegt mir daran, sie erst alle zu kennen, damit ich mich nicht verbindlich mache, mehr zu tragen als ich vermag.

Was du mir von Nannion meldest, übertrifft meine Erwartung, wiewohl zu vermuthen war, daß sie diesen Weg einschlagen würde; denn warum hätte ihre Base sie sonst nach Athen geführt? Auch sehe ich nicht, wie ein Mädchen von Nannions Schlage sehr zu tadeln sein könnte, wenn sie die überschwängliche Thorheit und Üppigkeit euerer reichen Wüstlinge benutzt, und einen so hohen Werth auf ihre Person und Kunst setzt, als sie kann. Ihr Marktpreis wird bald genug fallen, und es ist ein Glück für das wilde kurzsinnige Ding, daß sie eine Vormünderin hat, die in Zeiten auf die Sicherheit der Zukunft bedacht ist.


 << zurück weiter >>