Christoph Martin Wieland
Menander und Glycerion
Christoph Martin Wieland

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XIX.

Glycera an Leontium.

Menander ist endlich angelangt; aber wohl kam es mir, daß ich die Freude des Wiedersehens, wenigstens in der Einbildung, vorausgenossen hatte: denn für eine so lange Trennung war die erste Umarmung ziemlich frostig. Vergebens bemühte er sich, einen fröhlichen und zärtlichen Ausdruck in sein Gesicht zu bringen; die Natur scheint den Menschen seiner Art die Gabe der Verstellung schlechterdings versagt zu haben. Menandern wenigstens sieht man's immer auf den ersten Blick an, daß er etwas verbergen möchte, und auf den zweiten oder dritten, was es ist. Daß die düstre Wolke, die auf seinen Augenbraunen lag, mich mit einem Ungewitter bedräue, war gerade, was er am wenigsten verbergen konnte: womit ich mir aber seinen Unwillen zugezogen haben mag, ist mir bis auf diesen Augenblick ein Räthsel. Denn zu einer Erklärung war der einsilbige Mensch nicht zu bringen; auch verschwand er unter dem Vorwand dringender Geschäfte eben so schnell wieder, als er gekommen war. Gewiß ist, daß er Ursache hat mit seiner Aufnahme in Alexandrien sehr zufrieden zu sein, und daß er also seinen Mißmuth nicht von dorther mitgebracht haben kann: denn der Bediente, der ihn auf dieser Reise begleitete, konnte meiner Schwester Myrto nicht genug anrühmen, wie sehr sein Herr von dem Könige ausgezeichnet und mit Geschenken überhäuft worden sei.

Ich gestehe dir, liebste Leontion, daß ich nicht ruhig sein kann, bis ich über dieses sonderbare Betragen meines launenvollen Freundes im Klaren bin. Du würdest mich daher sehr verbinden, wenn du mich diesen Abend besuchen, oder, wofern dies nicht angeht, mir auf halbem Weg' einen Platz bestimmen wolltest, wo wir uns zu einer von dir bestimmten Stunde antreffen, und unsre klugen Köpfe zusammenstecken könnten, um zu überlegen, wie ich mich in einer so unerwarteten Lage zu benehmen habe.


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