Christoph Martin Wieland
Menander und Glycerion
Christoph Martin Wieland

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VIII.

Menander an Dinias.

Ich merke, daß du mich für glücklicher hältst, als ich zu sein mich rühmen kann. Glycera ist ein seltsames Mädchen. Sie hat sich in ihr Starrköpfchen setzen lassen, das letzte Ziel der Liebe sei – ihr Grab, und noch hab' ich es nicht dahin bringen können, sie von diesem Wahn (wenn es anders einer ist) – zu heilen. Dafür aber besitzt sie eine ordentliche Wundergabe, den Nektar Cytheräens, woraus wir gemeine Sterbliche kaum fünf Theile zu machen wissen, in so unzählig viele Tropfen zu zertheilen, und jedem Tröpfchen eine so eigene Süßigkeit zu geben, daß man sich am Ende doch auf ihre Weise am glücklichsten fühlt, und ihr sogar Entbehrung für Genuß anrechnet. Ich weiß nicht, ob dir das sehr klar sein wird; ich könnte dir artige und sonderbare Dinge hierüber entdecken, und bin, der holden Glycera zu Ehren, stark dazu versucht: aber sie selbst, in Gestalt der jungfräulichen Grazie Ädo, drückt mir ihren Rosenfinger auf den Mund, und ich schweige. Alles, was ich dir sagen darf, ist, daß Sie, wie Aurora im Frühling, mit jedem Tage schöner aufgeht, und, wenn das noch einige Zeit so fort dauert, mir zuletzt von der ganzen Hellas abgestritten werden wird. Es klingt nicht sehr glaublich, aber ich schwöre dir, daß ich bisher nicht eine einzige weibliche Untugend an ihr habe ausspähen können. Das (wirst du lachend sagen) beweiset weiter nichts, als daß du sie mit den Augen eines Liebhabers betrachtest, in welchen die dunkeln Flecken selbst zu Lichtern werden. Wenn du das dächtest, Freund, so würdest du dich sehr irren; denn ich habe wirklich das Eigene, daß die feurigste Liebe, deren ich fähig bin, mich nicht verhindert, klar zu sehen, und ich stehe dir dafür, wenn irgend ein Flecken an Glycerion ist – und sie kann doch schwerlich ohne allen Tadel sein – so werde ich ihn noch ausfindig machen, wiewohl ich sie darum nicht weniger lieben werde. Denn mit welchem Rechte könnten wir Unholden, mit allen unsern männlichen Unarten und Lastern, von diesen lieblichen Wesen verlangen, daß sie, wie eben so viele eingefleischte Platonische Ideen, ohne alle Mängel sein sollten?

Ich belangweilige dich vielleicht, guter Dinias, da ich dich schon seit geraumer Zeit mit nichts anderm, als dem Gegenstand meiner Leidenschaft unterhalte. Von einem Verliebten ist es nicht anders zu erwarten. Der spricht den ganzen langen Tag von seinem Abgott, und glaubt immer noch nichts gesagt zu haben. Aber weißt du, wie du dir am Besten helfen könntest? Komm auf die großen Dionysien zu uns herüber, und sieh meine Glycerion selbst. Als Zugabe würdest du auch meine Brüder sehen, auf die ich mir (unter uns gesagt) nicht wenig zu Gute thue, seit Glycera sie mir mit ihrer Sirenenstimme vorgelesen hat. Auch diese Gabe (bei ihr ist es nicht Kunst) hat ihr die Natur verliehen. So tanzt sie wie eine Nymphe, und singt wie eine Nachtigall, ohne jemals singen oder tanzen gelernt zu haben. Sogar in der Kunst zu küssen hat sie es, ohne einen andern Meister als Amorn, zu einer Vollkommenheit gebracht, von welcher ich keinen Begriff hatte, bis mich die Erfahrung lehrte, wie so etwas ganz anders ein Kuß von Glycerion ist, als was man gewöhnlich einen Kuß zu nennen pflegt. Aber still! beinahe hätte ich die unaussprechlichen Dinge der geheimnisvollsten aller Mysterien ausgeplaudert!


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