Christoph Martin Wieland
Menander und Glycerion
Christoph Martin Wieland

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XXV.

Menander an Dinias.

Es hat bei meiner Zurückkunft aus Ägypten einen ziemlich harten Strauß zwischen mir und Glycerion abgesetzt, lieber Dinias. Ich erinnere mich dessen nicht gern, aber die angeschloßnen Briefe, die bei dieser Gelegenheit zwischen ihr und mir gewechselt wurden, werden dir mehr davon sagen, als dir meinetwegen lieb sein wird. Genug, der Sturm ist vorüber, alles lacht uns wieder an: wir bilden uns ein, beide zu gleicher Zeit einen bösen Traum geträumt zu haben, und der Sommer unsrer Liebe, welche wirklich einiger Auffrischung benöthigt war, hat dadurch die Lebhaftigkeit und den Glanz ihrer ersten Blüthe wieder erhalten. Glycerion, welche nächstens ihr zwei und zwanzigstes Jahr zurücklegen wird, gleicht itzt einer so eben in der Morgensonne völlig aufgebrochnen hundertblättrigen Rose; ihre körperlichen und geistigen Reitzungen haben den Punkt der Reife erreicht. Sie ist nun alles, was sie sein kann – ein äußerst liebenswürdiges Weib, bei Amorn und Aphroditen! aber am Ende doch so gut ein Weib, wie alle andere. Es giebt der verwünschten hellen Augenblicke immer mehrere, wo ich nur gar zu klar zu sehen glaube, daß ich mich auch an ihr getäuscht habe; daß auch Sie ihrer Vortheile über uns sich nur zu sehr bewußt ist; daß auch Sie nicht so ganz ohne Eitelkeit, Ansprüche und Launen ist, als sie zu sein schien, da sie mir mit aller Unerfahrenheit, Unschuld und Kindlichkeit ihrer sechszehn Jahre in die Arme flog. Soll ich nun mit der aufgeblühten Rose hadern, daß sie nicht mehr Knospe ist? Vermuthlich ist das, was ich von einem Mädchen, das mich auf immer fesseln sollte, forderte, gar nicht in der Natur. Auch werde ich täglich geneigter zu glauben, daß diese holden Zauberinnen, ohne alle diese Ungleichheiten, Grillen, Widersprüche mit sich selbst und unsern Erwartungen, kurz ohne alles, womit sie uns zuweilen rasend machen, nicht halb so bezaubernd wären, als sie sind. Verkümmern wir uns also nicht selbst, durch eigensinnige und überspannte Forderungen, die Freude, die wir an ihnen haben könnten, wenn wir sie nähmen, wie sie sind! Überlassen wir uns den süßen Täuschungen, so lange sie uns täuschen können, und beschleunigen nicht selbst den leidigen Augenblick der Entzauberung, der immer zu früh kommt, wie spät er auch kommen mag!


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