Christoph Martin Wieland
Menander und Glycerion
Christoph Martin Wieland

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XXVI.

An ebendenselben.

Seit einigen Tagen ist eine Jugendfreundin meiner Glycerion, Nannion genannt, von Sicyon angekommen, die, wie es scheint, zu Athen ihr Glück versuchen will. Ich war eben gegenwärtig als sie anlangte, und muß gestehen, der erste Anblick ist ihr nicht besonders günstig. Solltest du wohl glauben, daß sie eines der häßlichsten Mädchen ist, die man sehen kann? Denke dir auf den Körper einer ziemlich plumpen Bacchantin einen runden weiblichen Faunenkopf, einen großen Mund mit dicken Lippen, eine kleine Stirn, eine aufgestülpte Nase, und zu allen diesen Reitzungen ein Paar große, funkelnde, herausfordernde Augen, die immer in Bewegung sind, und nicht drei Pulsschläge lang auf ebendemselben Gegenstand verweilen, so siehst du sie leibhaftig vor dir stehen. Urtheile, ob ich betroffen darüber war, daß ein Mädchen dieses Schlages die vertrauteste Jugendfreundin meiner Glycerion seyn sollte. Wahr ist's, sie sind Anverwandte, und wuchsen von Kindheit an neben einander auf; und daß es dieser Nannion an Geist nicht fehlen kann, dafür bürgen schon ihre Augen, deren gleichen ich wirklich in meinem Leben noch nie gesehen habe. Denn mit jedem Blick schleudert dir das wilde Mädchen einen JynxEin Vogel, (vermuthlich unser Wendehals) dem die Alten eine magische Kraft, zur Liebe zu reitzen, zuschrieben. in den Busen, und was das Schlimmste ist, sie scheint keine Absicht dabei zu haben, und sieht so harmlos und unbefangen dazu aus, als ob sie nicht wüßte, daß sie Augen habe. Bei allem dem versichre ich dich, daß sie einen widerlichen Eindruck auf mich gemacht, und gegen meinen Willen ein – Etwas, dem ich keinen Nahmen zu geben weiß, in mir aufgeregt hat, welches mich nöthigen wird, die schöne Glycerion mit etwas kälterem Blute zu beobachten, als mir bisher möglich war. Nannion soll eine vortreftliche Mimische Tänzerin sein, und dies ist es eigentlich, worauf sie die Hoffnung gründet, sich auf Kosten unsrer üppigen Athener zu bereichern. Ich bin ungeduldig, eine Probe ihrer Kunst zu sehen. Wie bald dies geschehen wird, ist noch ungewiß. Denn bevor sie sich in einer großen Gesellschaft zeigt, will sie ihre erste Probe in Glycerions Hause machen, und mir ist bereits angekündigt worden, daß keine Mannsperson zu diesen Mysterien zugelassen werden könne; eine Vorsicht, dir mir einiges Mißtrauen zu verrathen scheint, und meine Erwartung von dem gerühmten Talent dieser Sicyonischen Künstlerin ziemlich tief herabgestimmt hat.


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