Christoph Martin Wieland
Menander und Glycerion
Christoph Martin Wieland

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

XXVIII.

Leontion an Glycera.

Du fragst mich, wie mir die Gespielin deiner Kinderjahre gefallen habe? und ich antworte dir mit meiner gewohnten Offenheit. Es dürfte schwer sein, ein Mädchen zu finden, bei welchem das, was man gewöhnlich Häßlichkeit nennt, in so viele Reitzungen eingewickelt wäre. Beim ersten Anblick scheinen alle Züge ihres Gesichts in einem allgemeinen Aufstand gegen einander begriffen; keiner paßt recht zum andern; nichts ist in seinem gehörigen Ebenmaß: aber ihr großes feuersprühendes Auge herrscht wie ein Gott in diesem Chaos, und zwingt die widerspenstigen Elemente ihres Gesichts zu einer Art von seltsamer aber gefälliger Einigung. Nimm dazu die frischeste Blume der Jugend und Gesundheit, eine blendende Weisse aller sichtbaren Theile ihres Körpers, und eine gewisse einladende Üppigkeit der Formen, die von den meisten Männern der reinen, Anbetung gebietenden, Schönheit vorgezogen wird: so wirst du finden, daß ich, ohne die Gabe der Weissagung vom Delphischen Apollo erkauft zu haben, vorhersagen kann, sie werde bei ihrem ersten öffentlichen Auftritt eine große Niederlage unter unsern jungen und alten Athenern anrichten. Ich verspreche ihr viel von ihrem natürlichen Geschicke zur Mimischen Kunst, aber noch viel mehr von ihren Anlagen zur Kunst die Männer einzufangen. Noch scheint das rohe Mädchen nichts davon zu wissen, aber in Athen wird sie sich schnell genug entwickeln. Auf alle Fälle rathe ich dir, auf deinen Menander wohl acht zu geben, wenn du anders Lust hast, ihn noch länger beizubehalten. Wirklich ist die Treue, womit du ihm schon sechs ganzer Jahre zugethan bist, etwas sehr musterhaftes. Eben so gut hättest du ihn vollends geheirathet; denn ich sehe nicht, was die tugendreichste Ehfrau mehr thun könnte. Unter unsern Athenischen Matronen sind schwerlich drei oder vier, die der geheimen Feier der Thesmophorien mit so reinem Gewissen beiwohnen, als das Deinige dich dazu berechtigte, wenn dir die alte Sitte nicht im Wege stünde.

Ich sage dies nicht, als ob ich Unkraut unter euch säen wollte: aber ich bin doch zu sehr deine Freundin, um dir nicht zu rathen, was ich mir selbst in deiner Lage rathen würde. – Doch du scheinst mir kaum eines andern Rathes zu bedürfen, als daß du den Muth habest, den Eingebungen deiner eigenen Vernunft zu folgen. Menander ist in seiner Art, die Weiber, die er liebt, zu behandeln, weder viel besser, noch viel schlimmer, als andere Männer. Du würdest dich bei manchem andern nicht so gut, bei keinem vielleicht besser befinden. Aber, meine Liebe, dies ist nicht das Einzige, was in Betrachtung kommt. Die Weisheit befiehlt uns, über dem Gegenwärtigen der Zukunft nicht zu vergessen. Da wir doch Einmal, mehr oder weniger, von diesen rohen Geschöpfen zu leiden verdammt sind, und uns ihrem tyrannischen Joch nicht ganz entziehen können, so laß uns wenigstens die Gewalt, die uns zu unsrer Entschädigung über sie gegeben ist, so gebrauchen, daß wir uns selbst nicht dabei vergessen. Wenn du mich diesen Abend in meinem Garten, der an Epikurs angrenzt, besuchen wolltest, würdest du Gelegenheit finden, mit einem der merkwürdigsten Männer unsrer Zeit Bekanntschaft zu machen; und welcher andere könnte dies sein, als Epikur selbst?


 << zurück weiter >>