Christoph Martin Wieland
Menander und Glycerion
Christoph Martin Wieland

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XXII.

Menander an Glycera.

Der Jähzorn ist eine Erbkrankheit in meiner Familie, liebe Glycera, und

Wir rasen alle, wenn der Zorn uns übernimmt,

wie dein Freund Philemon in einem seiner Stücke sagt. Vergieb mir also, was nicht ungeschehen gemacht werden kann, und sei so billig zu gestehen, daß ein leicht aufbrausender Liebhaber, wenn er zu allem Überfluß noch das Unglück hat ein Dichter zu sein, zu entschuldigen ist, wenn er darüber rasend wird, daß er einen ihm verhaßten Nebenbuhler im Hause seiner Geliebten so frei aus- und eingehen sieht, als ob er zur Familie gehöre: zumal, wenn dieser Nebenbuhler unverschämt genug gewesen ist, in Gegenwart mehrerer Zeugen zu prahlen, er habe gute Hoffnung, Menandern auch bei der schönen Glycera den Preis abzugewinnen, den er schon oft so im Theater über ihn erhalten habe. Wenn ihm diese Rede auch von seinen Feinden zur Ungebühr nachgesagt würde, ist es nicht daran schon genug, daß er nichts dringenders hatte, als dich in seiner letzten Komödie mit offenbarer Affektazion die Gute zu nennen, um zu verstehen zu geben, er möge wohl seine Ursachen haben, warum er an der schönen Glycera gerade nichts anders rühme, als ihre Güte? Doch, wenn dieser Umstand gleich meinen Unwillen über Philemon rechtfertigt, meine gestrige Aufführung in deinem Hause kann nichts entschuldigen. Ich unterwerfe mich daher jeder Buße, die du mir auflegen willst, beste Glycerion; nur verzeihe mir – was ich mir selbst nie verzeihen werde; schenke mir, wenn's möglich ist, deine ganze Liebe wieder; und, um mir einen Beweis davon zu geben, der mich dir unendlich verpflichten wird, räche mich an dem unseligen Menschen, der an allem diesen Unheil schuldig ist, an diesem mir mit so vielem Recht verhaßten Philemon, dessen Wangen noch weniger erröthen können, als seine Fußsolen, und verschließe ihm deine Thür auf immer!


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