Christoph Martin Wieland
Menander und Glycerion
Christoph Martin Wieland

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XXXVII.

Glycera an Menander.

Erschrick nicht beim Anblick der Handschrift dieses Briefs, Freund Menander! Du hast keine Vorwürfe von Glycera zu besorgen. Sie hat das Glück, dich zu lieben und von dir geliebt zu sein, lange genug genossen, um sich nicht beklagen zu dürfen, daß es der Unbeständigkeit aller menschlichen Dinge unterworfen ist. Weg mit den eiteln Wehklagen über die Täuschungen der Liebe! Meine Gesinnungen, meine Gefühle waren keine Täuschungen; ich hatte sie wirklich; es waren Blumen, die meinem eignen Boden entsproßen. Ich war selig in dem Gedanken, von Menandern geliebt zu sein, Menandern glücklich zu machen. Die Erinnerung an diese Wonnetage meiner ersten Jugend, an die Tage des unbedingten Glaubens an die Liebe, des sorglosen kindlichen Vertrauens, womit ich mich dem Geliebten hingab, der Unmöglichkeit eines Zweifels, ob es jemals anders werden könnte, sie verbreitet noch itzt ein liebliches Rosenlicht durch meine Seele. Ich habe nichts zu klagen, Menander; denn wenn ich mit dir deswegen hadern wollte, daß du ein Mann bist, und ich ein Weib, wär' ich nicht belachenswerth? Es hat der Natur nun einmal beliebt, zwei so ungleichartige Wesen, als Mann und Weib es sind, durch den Zauberring der Liebe auf längere oder kürzere Zeit an einander zu ketten. Zwei Wesen, die von keiner einzigen Sache in der Welt dieselbe Vorstellung haben, und keinen einzigen Augenblick dasselbe fühlen; die einander nie verstehen, nie begreifen, nie errathen können, und sich also unaufhörlich an einander irren müssen, zwei solche Wesen so zusammenzustimmen, daß sie, indem jedes seine eigene Melodie spielt, beide ebendasselbe zu hören glauben, was kann wunderbarer sein? Wer wird läugnen wollen, daß hier eine seltsame Täuschung mit im Spiel sein müsse? Aber so ordnete es die Natur, und da sie ohne Zweifel ihre Ursachen dazu hatte, wie könnten wir begehren, daß es anders sein sollte? Ohne Täuschung läßt sich zwischen Weib und Mann kein Verhältniß denken; mehr oder weniger Annäherung ist alles, was wir uns versprechen dürfen, und daran läßt die Freundschaft sich genügen. Diese hast du um mich verdient, Menander, und diese hoffe ich auch um dich verdient zu haben. Was ich für dich fühlte, bevor wir uns persönlich kannten, durch alles, was ich dir seitdem zu danken habe, vermehrt, kann nur mit meinem Leben aufhören. Bloß die Zauberbinde, womit die Liebe unsre Augen umschlang, ist aufgelöst. Ob die Schuld an dir, oder mir, oder an beiden liegt, verändert nichts an der Sache: denn wiewohl ich nie einen andern liebte, als dich, so läugne ich doch nicht, daß ich dich mit vieler Gemüthsruhe einer andern überlasse. Schmeichle dir also nicht, mein Freund, wenn deine neue Leidenschaft sich selbst verzehrt haben wird, daß du mich jemals bereit finden werdest, den Irrthum zu begünstigen, der dich Liebe und Begierde so leicht verwechseln läßt. Wie geschickt auch Pothos und Himeros die Gestalt ihres Bruders anzunehmen wissen mögen, mich werden sie in dieser Verkleidung nie wieder hintergehen.


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