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Viertes Kapitel.
Gold, tiefe Ohnmacht, Flucht

Nun ging Ferdinand spazieren, wie es Barbara von ihm gefordert hatte. Aber er schlenderte nicht ziellos dahin, sondern schritt auf dem Wege, der zum Flusse führen mußte, gleichmäßig und weit aus wie ein Mensch, der irgendwohin zurechtkommen will. Er hätte sich anstrengen müssen, in eine andre Gangart zu verfallen, denn der Marschschritt enthob ihn angenehm seines Ichs und verlieh ihm die Ruhe eines Automaten.

Nachdem er sich schon sehr weit von dem kleinen Hause entfernt glaubte, zog er, auch hierin Barbara gehorsam, den weißen Beutel aus der Tasche, um ihn in die Aktenmappe zu stopfen. Er öffnete den doppelt geschlungenen Knoten und griff, seinen Schritt nur wenig hemmend, in das Säckchen. Eine Handvoll Metall. Lauter Goldmünzen: Zwanzigkronenstücke, alte Dukaten und auch ein paar große Goldtaler zu hundert Kronen.

Wenn man bedenkt, daß in diesen Jahren der Geldvernichtung die Banknoten auch noch unter ihren Papierwert sanken, wird man verstehen, daß ein Haufen Goldes phantastischer wirkte als ein Märchenschatz, sagenhafter, unwirklicher als die Auferstehung von Toten. (Auch heute noch staunen wir in den Auslagen der Wechselstuben die spärlich hingelegten Goldmünzen der Vergangenheit an.) Gold, das war eine Seltenheit, das gab es überhaupt nicht. Der Krieg hatte es noch gieriger hinuntergewürgt als Blut. Gold war keine hochgetriebene Devise, für die man Berge von heimischen Banknoten einhandeln konnte, Gold notierte nicht, Gold war die geheimnisvoll lautere Reliquie einer längst verschollenen, einer beinahe überirdischen Wertbeständigkeit.

Ferdinand hielt nun die Reliquie überirdischer Wertbeständigkeit in der Hand, und er war überzeugt davon, daß kein Sterblicher in diesen Landen zur Zeit etwas Ähnliches sein nenne. Nicht einen Augenblick dachte er daran, daß dies Geld sei, ein gewöhnliches Tauschmittel im Umlauf der Bedürfnisse und ihrer Befriedigung. Es war nicht Geld, es war Gold.

Während das Fatum allen Menschen den Lohn ihrer Arbeit geraubt und ihn verpulvert hatte, war Barbara auserwählt worden, ihre Erdenmühe in ewige, zeitenüberdauernde Valuta verwandeln zu dürfen. Ihre Arbeit war gerettet. In dem Beutel hier steckten die vielen tausend Stunden, da sie am Herde gestanden, Geschirr gewaschen, den Boden gerieben und mit Wachs gebohnert – hier steckten die langen Nächte, die sie am Krankenbette fremder, fiebernder Kinder pflegreich verbracht, ohne einzunicken – in dem Beutel hier steckten die unzähligen Morgenfrühen, da sie als erste im schlafdumpfen Hause sich erhob, um die Milch einzuholen und das frische Gebäck – die leeren Sonntage steckten hier, an denen sie sich auch das allerkleinste Vergnügen versagt hatte, um nur ihr ganzes Tun und Leben in diese Erbschaft für Ferdinand umzumünzen. Sie traute keinen Sparkassen und keinen Banken. Verzinsung war für sie ein unnatürlich zweideutiger Begriff. Mit dem klaren Instinkt eines urtümlichen Wesens aus einfacheren Jahrhunderten ahnte sie noch in scheinbar unüberwindlichen Zeiten, daß Papier eben nur Papier sei. So war es ihr und ihrem Lebenslohn gelungen, unberührt zu bleiben von der großen höhnischen Entwertung der Gegenwart.

Ferdinand zählte die Summe nicht, die für ihn ja keine Summe war, sondern ein Unteilbar-Ganzes, Barbara selbst. Die einzelnen Goldstücke glänzten blank wie frischgeschlagen. Wie oft mußten sie geputzt worden sein in heimlicher Nacht, wenn die neugierige Nichte schlief! Rein trat die Prägung hervor, das cäsarisch-lorbeergekränzte Haupt des alten Herrschers.

Der Sohn des Obersten hatte den Herrscher und seinen Staat niemals geliebt, denn der Staat war ihm ein harter, liebloser Vorgesetzter gewesen: Militärschule, Major Krispin, der Klassenfeldwebel, das Alumnat, schlechte Ernährung, ärarische Kleider, Gefängnisleben, neuerdings Kaserne, Krieg, Unterstände, Todesurteile, Steidler, Ferdinandowka III, Spitalsgestank – dies alles war der Staat. Er verdiente kein liebendes Angedenken. Dennoch war es Ferdinand jetzt, als trage er in dem Leinwandbeutel den reinsten Extrakt, den edlen Feingehalt des versunkenen Reiches bei sich.

Dort war er zwar nicht gut behandelt worden, aber doch zu Hause gewesen. Heute besaß er nur einen Paß, aber keine Heimat.

Die Völker und die Klassen, stumpfe Elementarmächte, die Giganten der griechischen Sage, ballten sich zusammen, um von neuem ihr bestialisches Kampfgebrüll erschallen zu lassen. Er aber, der Sohn des altösterreichischen Offiziers, gehörte keiner dieser Elementarmächte an. Ihre Empfindlichkeiten, ihre Wutbrünste, ihre Racheanwandlungen, ihre Haßwirrnisse kümmerten ihn nicht. Sein spezifisches Gewicht war leichter als das aller andern Menschen. Er zählte zu keinem Volk und zu keiner Klasse. Politische Worte – spiegelfechtende Worte. Dahinter die zornige Urgier erbitterter Interessenverbände mit dem Vorzeichen eines erlogenen Ideals. Die Scheibe seines Lebens war mit solchen Dämpfen nicht beschlagen, denn kein Interesse zog ihn herab. Er stand gänzlich außerhalb, er war unvorstellbar frei. Und gerade deshalb lebte er so gewaltig.

War es das Bewußtsein seiner Freiheit, das jetzt dieses stürmische Körpergefühl erzeugte? Er rannte vorwärts wie ein Rad, das zu wenig Reibung hat.

Der strahlenklare Junitag hatte sich mit einem Schlage verdunkelt. Die Welt nahm die Farbe der stickigen Schwüle an, die sie nun gebieterisch ausfüllte. Das kraftvolle Ja aller Dinge verwandelte sich in schlaffen Zweifel. Die Getreidefluten, die lauten Flecke der Kornblume und des Klatschmohns auf ihnen, die Heckenrosen, die Hagebutten am Wegrand, das schallende Gelb der Dotter- und Sumpfblumen in den wasserreichen Wiesen, das flötentönige Violett der Kleeäcker, der Waldrand, darüber noch vor wenigen Sekunden die Luft wie über unsichtbaren Kerzenflammen gezittert hatte, die weithin verstreuten Baumkronen der Ferne, geisterhaften Fesselballons gleich, die an ihrem Anker reißen – dies alles war nun abgestumpft und niedergepreßt.

Nur mit Mühe konnte Ferdinand seinen Lauf hemmen. Er besaß keine Uhr. Es ist sicher schon sehr spät geworden. Um Gottes willen, ich muß ja zurück.

Kaum war diese Mahnung gedacht, als eine furchtbare Gegenstimme lockte:

Muß ich zurück? Soll ich zurück?

Nein, nein!! Sein ganzes Wesen erbebte unter dieser grausamen Antwort. Wozu Babi noch einmal sehn? Wozu noch einmal mit ihr sprechen? Wenn ich bei ihr bin, entferne ich mich. Wenn ich mich entferne, bin ich bei ihr ...

Grauenhafter Gedanke! Hatte diese Liebe keine Organe, keine Sprache, sich auszudrücken? Ferdinand rannte immer weiter. Jetzt sah er Barbara vor sich. Der Tisch in der Stube des Bergmanns war schon längst gedeckt. Unruhig beaufsichtigte sie die Pfanne, zog diese, ihre Hand mit der Schürze schützend, aus der Röhre und schob sie wieder hinein. Die zerlassene Butter drohte zu zerbrodeln. Sie nahm sie mit Unmut vom Herd. Schon machte die Nichte ein höhnisches Gesicht. Barbara würdigte sie keines Wortes und stellte sich vor die Haustür, um nach Ferdinand auszulugen. Ihre Gestalt verschwankte. Sie war das aufrechte Bild, das er bisher in sich getragen, und sie war das gebeugte Bild, das er heute erst kennengelernt hatte.

Was tu ich denn? Ich muß doch zurecht zum Essen kommen!

Barbaras Warten drückte ihm das Herz ab. Er sah sich um. War dort die Richtung, woher er sich im Zickzack über alle möglichen Pfade allzuweit vom Dorfe verloren hatte?

Ein fahler Glockenton lud irgendwo das Halb einer unbestimmten Stunde ab. Barbara wartet. Den Weg abkürzen! Und Ferdinand stürzte sich in eine ungemähte Wiese, die in der Richtung gelegen schien. Er glaubte an keine Hindernisse. Die Luftlinie mußte ihn zu Barbara führen. Seine Füße konnten sich kaum durch das Gras vorwärtsarbeiten. Dann aber geriet er auf einen Weg, den er mit großen Knabensprüngen entlanglief, um bei der nächsten Wendung wieder in eine Wiese oder in Weideland einzubiegen. Unaufhaltsam und ohne Überlegung nahm er seinen keuchenden Lauf, damit er zurechtkomme und Barbara nicht enttäusche. Kein Wunder, daß er auf diese Art zu Sumpfplätzen kam, wo er bis zum Schienbein einsank und watend umkehren mußte. Die Richtung war nur mehr ein qualvoller Wahn. Seine rennenden Füße fraßen einen immer fremderen Boden. Was waren das hier für Steinbrüche mitten in steppenhaftem Graswuchs? Er stolperte über Schotter, schlug sich blutig, sprang auf und raste weiter ins Sinnlose.

Endlich mußte er stehenbleiben. Sein Herz hämmerte ihn an die Erde fest. Nun war er zum Mittelpunkt einer Welt geworden, die keine Richtung, kein Ziel, kein Woher und Wohin hatte. Die Landschaft mißbilligte ihn mit ergrauendem Gesicht. Er sah zum schwarzgewordenen Himmel empor, der sich wild drehte wie ein schrecklicher Kreisel, wie ein unermeßlicher Meereswirbel, der alles in sich einsaugen will.

Was ist das? Mir ist nicht gut.

Seine Hände waren eisig und steif. Die Knie ließen nach. Der Kopf wuchs riesengroß. Er setzte sich verwundert nieder. Der mittelste Punkt der Welt lag auf einer steinigen Heide, die den brenzligen Geruch von Himbeersträuchern verströmte. Ein Laubwald im Rücken. Vor den Augen Getreide, so weit sie sahen. Das bedrohte Leben in Ferdinand erstaunte kindhaft vor dem Tode, der immer höher stieg wie dunkles Wasser. Nun konnte er nicht mehr zurechtkommen. Arme Barbara! Wenn man stirbt, ist ein versäumtes Sonntagsessen doch nicht so wichtig. Vielleicht wartet sie nicht mehr. Immer langsamer wurde das Herz, doch auch immer schwächer. Das Licht verwelkte zusehends. Hafer und Weizen flammten nicht mehr gelb, sondern blakten schiefergrau. Fern klöppelte ein matter Donner an den abgedämpften Gong des Himmels.

Ferdinand trug immer wilder in den Ohren das Geräusch prasselnder Steinschläge, das knatternde Rauschen von Schotter, der aus einem Wagen auf die Straße gekippt wird. Das fällt alles auf mich herunter, dachte er. Und er hatte recht. Nicht allein die Erschöpfung durch den Lauf warf ihn jetzt nieder. Sie hatte nur das Maß aller Erschöpfungen, aller Einsamkeiten, aller Kämpfe, allen Elends, allen Hungers, aller Abnutzung voll gemacht. Die ungeheure Überanspruchung einer Jugend, die keine gewesen war, die den Krieg, die Revolte, den Geist und das Nichts hatte durchkämpfen müssen, sie stieß ihn ins Dunkel. Rasselnder Schotter. Ja, jetzt fiel sein ganzes Leben auf ihn hinunter wie ein Steinschlag. Er streckte sich aus, damit es ihn zudecke. Dabei rupfte er mit der Rechten ein Büschel Gras, als suche er Halt.

Zuletzt aber streichelte ihn ein müdigkeitstrunkenes Wohlgefühl und die tiefe Beruhigung: Barbara weiß, daß ich hier liege.

Das Gewitter war schon fast vorüber, als er aus dem schwärzesten Schlafe erwachte. Er lag in einer Pfütze. Sein Anzug, seine Hände und selbst sein Gesicht waren schlammbeschmiert. Schwer erhob er sich. Niemand hatte ihm die Aktentasche mit dem Gold geraubt. Wenn er auch seinen Körper kaum noch fühlte, so konnte er doch klare und äußerst nüchterne Gedanken fassen. Er dachte an die Möglichkeit, heute nacht den Wiener Schnellzug noch zu erreichen. Langsam taumelte er weiter.

Zehn Minuten später stand er auf einer Landstraße. Er überlegte nicht mehr, in welcher Richtung Barbaras Haus liege. Zwischen dem heutigen Morgen und diesem Nachmittag lag wie eine tiefe Schlucht sein Todesschlaf.

Jetzt so schnell wie möglich nach Wien zurück! Arbeiten! Den Beruf beginnen! Keine Ferien! Gleich als Sekundararzt in den Spitalsdienst! Morgen schon sich melden! ... Ein Lastauto kam des Weges und ließ ihn aufsitzen.

Lange saß er auf dem Bahnhof der kleinen Stadt, denn sein Zug ging erst gegen Abend. Er fühlte sich sehr schwach und ahnte, daß ihm eine Krankheit bevorstehe.

Die Station bot gegen frühere Zeiten ein durchaus verändertes Bild. Das alte, ganz und gar braungerauchte Gemäuer, das schläfrige Bahnhofshaus der Provinz, wo man einst so müde auf die seltenen, aber dafür um so qualmigeren Personenzüge gewartet, hatte einen weißen, sehr strammen Anstrich bekommen. Es machte den Eindruck eines alten, ziemlich abgetakelten Menschen, der, durch einen Glücksfall, einen Lotteriegewinn neu belebt, plötzlich eine jugendlich krähende Energie hervorkehrt. Überall zeigte sich der Ehrgeiz der neuen Zeit. Alles funkelte peinlich sauber. Längs des Bahnkörpers waren Bäume gepflanzt und Rabatten angelegt. Die diensthabenden Beamten wahrten eine glänzende und straffe Haltung. Dabei gebärdeten sie sich viel höflicher als früher, da sie noch im Dienste der allmächtigen k. k. Weltentrücktheit standen. Ihre Amtswaltung schien sich nicht mehr in der schweren Sorgfalt zu erschöpfen, die vorzeiten dem widerspenstigen Brand ihrer Porzellanpfeifen hingebungsvoll gewidmet war. Die meisten von ihnen rauchten heute Zigaretten. Sie musterten als unersetzliche und selbstbewußte Teile des demokratischen Ganzen mit scharfen Augen das Publikum. Unzweifelhaft fühlten sie sich der großen Aufgabe, das neue Zeitalter würdig zu repräsentieren, vollauf gewachsen.

Das Publikum freilich war sich gleichgeblieben.

Scheelsüchtige Bauern bewachten diebstahlsfürchtig ihr strohgeflochtenes Gepäck. Geschäftsreisende, die zudringliche Unruhe ihrer Lebensbestimmung in den Beinen, machten sich auf dem Bahnsteig Bewegung. Sie strichen wie Verschworene an einander vorüber und riefen sich Fragen zu, auf deren Beantwortung sie keinen Wert zu legen schienen. Sogar ein Fähnlein von Rekruten hatte sich, siehe da, auch schon wieder eingefunden und harrte mit erschrockenen Milchgesichtern seines Abtransports.

Ferdinand, der den ganzen Tag über heute sehr wenig genossen hatte, konnte sich nicht entschließen, einen menschenerfüllten Raum aufzusuchen. Er fürchtete sich vor den Wartesälen. Bei einer Hökerin kaufte er Brot und Wurst. Ehe er aber zu essen begann, schrieb er folgenden Brief an Barbara:

»Meine geliebte Mutter! Du wirst mir das Heutige verzeihen, wie Du mir alles verziehen hast und verzeihst. Aber mehr noch, ich glaube bestimmt, daß Du mich verstanden und gespürt hast, was mit mir los war in der Stunde, als ich Dich, Ärmste, so lange (zu meinem eignen Schmerze) warten ließ. Ich bin unvorsichtig spazierengegangen, hab mich ein bißl verirrt, und plötzlich ist mir schlecht geworden. Ich selber weiß nicht mehr, wie lang die Ohnmacht gedauert hat. Es ist natürlich eine ganz gewöhnliche und harmlose Sache. Leute mit Kopfschüssen erleben das öfters. Mein Leben war ja auch bisher ziemlich anstrengend und in den letzten Monaten hab ich fast täglich bis vier Uhr früh studiert. Jetzt geht's mir schon wieder besser. Ich war aber ganz froh, als auf der Straße ein Auto daherkam, das mich zum Bahnhof mitgenommen hat. Zu Fuß hätte ich den Weg nicht machen können. – In diesem Augenblick bin ich fest überzeugt davon, daß Dein großer Schatz, den Du für mich in jahrzehntelanger harter Arbeit gesammelt hast, wirklich nur für mich bestimmt ist. Wäre es anders, könnte ich den Gedanken, mit diesem Golde aus Deinem Zimmer verschwunden zu sein, nicht eine Sekunde lang ertragen. Du, meine geliebte Mutter, bist ja auf der ganzen Welt das Einzige, was ich habe. Du weißt es, und ich weiß es immer, auch wenn wir uns nicht sehen und sprechen. Jetzt, während ich dies schreibe, sind meine Gedanken in tiefer Wehmut bei Dir. Mit Deinem Gold soll nichts Niedriges geschehn. Ich schwöre es, daß ich keine Münze davon je berühren will, außer in allerletzter Not. Leb wohl, liebe Mutter, achte auf Deine Gesundheit ...«

Als er den Brief auf dem Postamt der schnellsten Beförderung übergeben hatte, hörte sein Kopfschmerz auf.

Er stieg in den Bummelzug ein, der ihn zur Umsteigestation bringen sollte, wo der Wiener Schnellzug hält. Im Nu war der Wagen voll von lebensstrotzenden Menschen. Gnadenloser Knasterdampf breitete sich aus. Eine Gruppe von Viehhändlern tauschte ihre Scherze und ihr Gelächter wie Keulenhiebe aus. Die Geschäftsreisenden, durch den erfolgreich abgewickelten Tag bestens angeregt, ließen einander nicht zu Worte kommen. Einer der Bauern holte unendlich bedächtig aus einem Paket von Zeitungspapier eine große Preßwurst heraus, klappte ein Taschenmesser auf und schnitt mit fettigen Fingern eine dicke Scheibe herunter, auf die er noch gehackte Zwiebelstückchen streute. Der durchdringende Geruch dieses Mahles besiegte sogar die Dreimännermischung des Tabaks.

Ferdinand stand auf und stellte sich ans Fenster.

Langsam entglitten die Felder, die Straßen, die Pappelalleen, die Waldstücke, die Dörfer, die Kirchen, die Gänseteiche, das Land, wo Barbara zu Hause war.

Langsam entglitt mit der Wirklichkeit des saatengesegneten Landes auch ihre Wirklichkeit.

Ferdinand aber empfand jetzt nach ihr keine Bangigkeit mehr. Er mußte immer wieder eines denken:

Wenn sie tot ist, werde ich es nicht wissen.

Und dieser Gedanke erzeugte einen tieferen noch:

Für mich kann sie deshalb gar nicht sterben. Alle Menschen müssen verlieren, was sie lieben. Ich nicht.

Während er die kleine Alte immer weiter dahinten zurückließ, zog Barbara immer größer in ihn ein.

Alle menschlichen Beziehungen, auch die natürlichsten, sind Täuschung. Wir können niemanden lieben, niemanden »haben«, weil wir einander nicht durchdringen dürfen und uns bestenfalls nur berühren. Liebe ist nichts als die Fähigkeit, das Bild eines Menschen in unserer inneren Dunkelkammer leidenschaftlich zu entwickeln. Die Wirklichkeit ist ein Bilderalbum, das Wort ein Werkzeug der Entzweiung und das Getriebe die schwerhörigste aller Einsamkeiten. Das sagt sich so leicht. Aber wer in Wahrheit an diese erstickend engen Mauern bewußt anstieße, er könnte nicht weiterleben. Vielleicht hat Gott die leibliche Notdurft nur geschaffen, damit wir von der Irrsinns-Erkenntnis unserer Gefangenschaft abgelenkt werden. Ach, unsere Größe und unsere Freiheit sind nur die Bilder, die wir sehend empfangen und liebend umschaffen.

Ruhig thronte Barbaras Bild in Ferdinand, ruhig und unsterblich.

Das rauchige Glas des Gangfensters kühlte seine Stirn. Er rührte sich nicht fort, bis draußen im Lande völlige Finsternis herrschte.


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